Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

Dienstag, 8. Oktober 2019 ∙Nr. 233 ∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 4.90 ∙€4.


KünstlicheIntelligenz: Heerscharen von Hilfsarbeitern leben prekär Seite 12


DIEGO IBARRA SANCHEZ FÜR NZZ


Vor dem Hausherrn


geflüchtet


Bizu (Mitte) hat den Schritt in dieFreiheit gewagt. Sie ist eine der 250 000 Hausange-
stellten, die in Libanon unter dem Kafala-System arbeiten.Viele von ihnenkommen
ausÄthiopien und leben unter unmenschlichen Bedingungen. Die «Sponsoren» (Ka-
fil) nehmen den Hausmädchen denPass weg, schlagen und vergewaltigen sie. Meist
bleibtnur die Flucht in die Illegalität. International, Seite 6,

Invasion in Syrien

steht bevor

Trump gibt der Türkei grünes Licht für den Einmarsch


Die USA verraten dieKurden –
ihren wichtigstenVerbündeten
im Kampf gegen den IS. Der
Entscheid ist ein weiterer
Tiefpunkt der planlosen
Nahost-Politik des Präsidenten.

CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Der amerikanische Präsident Donald
Tr ump riskiert inSyrien ohne Not,
einen wichtigenTr umpf aus der Hand
zu geben. Nach einemTelefonat mit
dem türkischen PräsidentenRecepTay-
yip Erdogan teilte dasWeisse Haus am
Sonntagabend in einer Erklärung mit:
«DieTürkei wird ihre lange geplante
Operation in Nordsyrien bald voran-
bringen....Die amerikanischenTr up-
pen werden nicht mehr unmittelbar in
dem Gebiet sein.»
Seit Monaten hat Erdogan damit ge-
droht, nach der Invasion in Afrinim
Januar 20 18 auch in die syrischenKur-
dengebiete östlich des Euphrats einzu-
marschieren. Dort ist es denKurden
im Schatten des Bürgerkriegs gelun-
gen, faktisch einAutonomiegebiet zu
errichten und ihre Einflusszone dank
militärischer Hilfe der USA weit über
ihre Siedlungsgebiete auszudehnen. Die
kurdischenVolksverteidigungseinhei-
ten (YPG) bilden dasRückgrat der von
Washington im Kampf gegen dieTerror-
miliz IS unterstütztenSyrischen Demo-
kratischen Kräfte (SDF). Nur dank
ihrem aufopfernden Kampf beherrscht
der IS seit dem vergangenen März in
Syrienkeine Siedlungsgebiete mehr.
Erdogan jedoch sieht in den YPG
keineVerbündeten im Kampfgegen
denJihadismus,sonderneine mit der
einheimischen Kurdischen Arbeiter-
partei (PKK) liierte«Terrororganisa-
ti on».In früheren Jahren hatte Erdo-
gan eine politische Lösung im Dia-
log mit der PKK angestrebt. Doch vor
allem nachdem die prokurdischePar-
tei HDP 20 15 mit 13 Prozent der Stim-
men erstmals ins türkischeParlament
eingezogen war,eskalierte Erdogan
denKonflikt mit denKurden. In einem
syrischenAutonomiegebiet an der tür-
kischen Südgrenze erkennt er eine Ge-
fahr für die territoriale Integrität sei-
nesLandes. Deshalb liebäugelt Erdo-
gan seit geraumer Zeitmit einem Ein-
marsch, um eine türkischkontrollierte
Pufferzone von 30 Kilometerneinzu-
richten und dorthin einen grossenTeil
der 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge
in derTürkei umzusiedeln.

Streit umGefangene


Der amerikanische Präsident wollte
dasFeld inSyrien ursprünglich bereits
im Dezemberräumen. Ebenfalls nach
einemTelefonat mit Erdogan hatte
er gar den Abzug aller 20 00 amerika-
nischen Soldaten angekündigt.«Wir
haben den IS inSyrien besiegt, der
einzige Grund, während meiner Präsi-
dentschaftdort präsent zu sein», twit-
terteTr ump damals. Erst nach heftiger
Kritik der Alliierten sowie denRück-
tritten seinesVerteidigungsministers

James Mattis und seines Sonderbeauf-
tragten für den Kampf gegen den IS,
Brett McGurk,verschobTr ump den Ab-
zug ausSyrien.
Erdogan warnte am Samstag:«Wir
haben unsere Vorbereitungen abge-
schlossen, unsere Pläne für die Opera-
tion gemacht, und die notwendigen Be-
fehle sind erteilt.» Die Offensivekönne
bereits heute oder morgen beginnen.
Was Tr ump zu seiner plötzlichen Ent-
scheidung gebracht hat, ist schleierhaft.
Die USAhätten die Europäer vergeb-
lich dazugedrängt, ihre in Ostsyrien in-
haftierten IS-Kämpfer nach Hause zu
holen, heisst es in der offiziellen Erklä-
rung desWeissen Hauses. «Die USA
werden sie nicht für vieleJahre und auf
Kosten der Steuerzahler festhalten.Die

Türkei ist nun verantwortlich für alle in
dem Gebiet in den vergangenen zwei
Jahren festgenommenen IS-Kämpfer.»
Noch sind die türkischenTr uppen
nicht einmarschiert, undTr ump hat im
Gegensatz zum Dezember nichtvon
einemkompletten Abzug ausSyrien
gesprochen. Ankara ist sich bewusst,
dass seine Armee und die von ihr aus-
gebildeten syrischen Milizen östlich des
Euphrats auf wesentlich mehrWider-
stand treffenkönntenals noch in Af-
rin. «Die SDF sind bereit, den Nordos-
tenSyriens um jeden Preis zu verteidi-
gen», erklärte ihr Sprecher MustafaBali
überTwitter.

GefährlichesVakuum


Soviel scheint jedoch klar: Der be-
grenzteRückzug der USA destabili-
siert dieRegion, demütigt den wichtigs-
tenVerbündeten im Kampf gegen den
IS undkönnte im schlechtestenFall eine
gefährliche Kettenreaktion auslösen.
Kino Gabriel, ein weiterer Sprecher
der SDF, warfWashington am Montag
einen «Stich in denRücken» vor. Die
USA hätten versprochen, keinen türki-
schen Einmarsch zuzulassen.
Kommt es zu einer türkischen Inva-
sion, drohen derkurdischen Bevölke-
rung wie bereits in AfrinVertreibun-
gen, Enteignungen undPlünderungen
durch syrisch-arabischeRebellengrup-
pen.VonWashington definitiv im Stich
gelassen,könnten dieKurdenauf der
Suche nachWaffenhilfe eine Einigung
mitDamaskus suchen. Der Preis da-
für wäredannwohlein weitgehender
Verzicht aufAutonomierechte. Kommt
es zu einer weiteren türkischen Inva-
sion, wirdDamaskus auf jedenFall ver-
suchen, mit russischer und iranischer
Hilfe ebenfalls östlich des Euphrats vor-
zurücken.Auch dem IS würde ein sol-
ches Schreckensszenario in die Hände
spielen. Seine in den Untergrund abge-
tauchten Kämpfer arbeiten bereits jetzt
fleissig an einem Comeback.Tr ump,
das steht für den Nahost-Diplomaten
McGurk fest, «hat ein Geschenk an
Russland, Iran und den IS gemacht».

Trumpbegeht Verrat


Kommentar auf Seite 11


EU stellt Digitalwährung Libra infr age


Paris und Berlin beharren auf staatliche r Souverän ität und warnen vor Facebo ok-Projekt


sco.,Brüssel·Der amerikanische Social-
Media-KonzernFacebook will nächstes
Jahr eineWeltwährung namens Libra lan-
cieren, stösst damit jedoch in Europa auf
grosse Skepsis bei denRegulatoren.Fast
jede drittePerson auf dem Planeten nutzt
Facebook. Das erklärt das grosse Inter-
esse auch derEuropäischenZentralbank
(EZB), der Hüterin des Euro, an diesem
noch gar nicht umgesetzten Projekt.
Libra versucht laut demFranzosen
Benoît Cœuré, Direktionsmitglied der
EZB, zwei grosse Probleme des globa-
len Zahlungssystems zu lösen. DieFace-
book-Währung soll vielen Menschen erst-
mals Zugang zu einem Zahlungssystem
ermöglichen und internationale Über-
weisungen schneller und günstiger ma-
chen. Cœuréleitet eine Arbeitsgruppezu
«Stablecoins».Das sind vereinfacht ge-
sagt digitale Kryptowährungen, die mit
Sicherheiten hinterlegt sind. Libraist das
prominenteste Beispiel dafür, Bitcoin
verfügt dagegen nicht über Sicherheiten.
Cœuré wurde von den G-7-Finanzminis-
tern und -Notenbankern eingesetzt, kurz
nachdemFacebook imJuni Libra ange-
kündigt hatte. Die Gruppe soll ihre poli-
tischen Empfehlungen schon bald vor-
legen, und zwar an der vom14. bis zum



  1. Oktober dauerndenJahrestagung des
    internationalenWährungsfonds (IMF).


Verführerische Sirenenrufe?


Cœuré listete Ende September in einer
Rede vor einemAusschuss des Deut-
schen Bundestages die in Europa erwoge-
nen Risiken auf. LibrasHerausforderun-
gen fänden sich in der Bekämpfung von
Geldwäsche und Terrorismusfinanzie-
rung, Konsumenten- undDatenschutz,


der Cybersicherheit, fairemWettbewerb
und der Einhaltung von Steuervorschrif-
ten.Dazusollte man sich international
darauf einigen, ob Libranun elektroni-
sches Geld, ein übertragbaresWertpapier
oder eine digitaleWährungist. In der EU
entscheidet sich daran etwa, ob ein Pro-
jekt den Richtlinien für Anlegerschutz
(Mifid II) genügen muss.
WeitereMängel: Die Praxistauglich-
keit ist nicht erwiesen, und es bestehtGe-
fahr für die EZB-Geldpolitik sowie die
Finanzstabilität in der Euro-Zone.Yves

Mersch, ebenfalls EZB-Direktionsmit-
glied, kritisierte Anfang September in
Frankfurt, dass der Verein hinter Libra
kartellähnliche Züge aufweise.Er zwei-
felt infolge desDatendiebstahl-Skandals
um Cambridge Analytica an derVertrau-
enswürdigkeit vonFacebook. Zudem ist
er skeptisch, ob derVerein Libra im Not-
fall überWasser zu halten vermöchte.
Mersch warnt die Bevölkerung Europas
gar, den «verführerischen, aber verräteri-
schen Sirenenrufen»Facebooks zu folgen.
Das tönt gerade so, wie schlechteVerlie-
rer reden. Schliesslich droht den Zentral-
banken mit Libra auch ein Machtverlust.
Libradarf die monetäre Souveräni-
tät von Staaten nicht gefährden,glaubt
Cœuré. Eine private Währung ist aber für
ihn akzeptabel, wenn sie genügend streng

reguliert ist.Vielleicht seien diese Hür-
den aber so hoch, dass es für eine private
Firma nicht möglich sei, eineWährung zu
steuern. Die Libra-Initiative sieht er als
Weckruf für Zentralbanken undPolitik,
um zuverlässigere undkostengünstigere
grenzüberschreitende Zahlungsmöglich-
keiten im altenSystem zu gewährleisten.

Fragen über Fragen


Aus den grossen EU-Mitgliedstaaten
Frankreich und Deutschlandkommen
ebenfalls kritische und teilweise innova-
tionsfeindlicheTöne. Der französische
Finanzminister Bruno Le Maire sagt,
Libra sei in der EU derzeit zurückzuwei-
sen. Berlin werde sich auf europäischer
und internationaler Ebene dafür einset-
zen, dass Stablecoinskeine Alternative zu
staatlichenWährungen würden, heisst es
in deutschenRegierungskreisen.
In Brüssel beschäftigt sich derzeit
eine Heerschar vonKommissionsbeam-
ten mit Libra. Man wolle zunächst Klar-
heit schaffen, worum es überhaupt gehe,
teilte ein Sprecher mit.Dazu hat die
Kommission auch einenFragebogen an
Facebook geschickt.Ferner löste Mar-
gretheVestager, zuständig in derKom-
mission für Kartelle und bald für sämt-
liche digitalen Dinge, eine Untersuchung
aus. Zu ermitteln, bevoretwas existiere,
sei neu, sagte sie jüngst in Norwegen.
Doch sonstkomme man in der digita-
lenWelt in jedemFall zu spät. Sie be-
fürchtet, Mitglieder des Libra-Vereins
könnten gegenüberKonkurrenten bes-
sergestellt werden.Facebook mussalso
noch Überzeugungsarbeit leisten, bevor
dieFirmaLibra in der EU erfolgreich
lancieren kann.

Libra imFokus


VerpassteChance:Die EU
zeigt mitVerboten wenig Mut. Seite 11

Experiment:Welche Risiken stecken
hinter derWeltwährung? Seite 22,

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