Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Dienstag, 8. Oktober 2019


KARIN HOFER


FOTO-TABLEAU


Stare – Meister


der Schwarmintelligenz


2/


Mitten imRush des Schwarms ein paar
Vogelsilhouetten, die wie festgebannt in der
Luft zu hängen scheinen.Das ist nicht nur ein
fotografischerKunstgriff, sondern auch Bild
gewordene Sachkunde. Karin Hofer hat, mit
etwaslängerer Belichtungszeit, einen Staren­
schwarm festgehalten; die Dynamik der
Aufnahme vermittelt einen Eindruck der
beachtlichen Geschwindigkeit von60 bis 80
Kilometern pro Stunde, mit der dieZugvögel
bei ihrer herbstlichenReise unterwegs sind.
Zugleich will dieFotografin die Eigenschaften
sichtbar machen, die dem Star das Manövrieren
im dichten Schwarm ermöglichen: Flügel und
Schwanz sind kurz und erlauben damit
Wendungen auf engstemRaum. Die Stare
orientieren sich beim Fliegenkonstant an den
fünf bis sieben Artgenossen in ihrem unmittel­
baren Umfeld; dieses dichte Beziehungsgewebe
ermöglicht eine weitgehend synchronisierte
Flugbewegung, die den Schwarm beinahe wie
einen geschlossenen Organismus wirken lässt.

Aus- und Weiterbildung


Ein Pass

für lebens langes Lernen

Gastkomentar
von PIERREVANDERGHEYNST
und ISABELLEVONÈCHE CARDIA


Die Digitalisierung der Gesellschaft und die dro­
hendeAutomatisierung vieler Arbeitsabläufe
haben dem lebenslangenLernen neue Bedeutung
verliehen. Im Bericht über die Zukunft der Arbeit
in d er Schweiz stellte McKinsey fest, dass «eine
einmaligeAusbildung in der Kindheit wahrschein­
lich nicht mehr ausreichenwird, um Menschen mit
den sich ständig änderndenKompetenzen auszu­
statten,die sie benötigen, um auch längerfristig
ein für Arbeitgeber attraktives Profilzu haben».
Und der Club ofRome hat bereits1979 erkannt,
«dass es in einer ZeitrapiderVeränderungen und
zunehmenderKomplexität nicht mehr sinnvoll ist,
di eAusbildung auf die ersten achtzehn bis zwan­
zig Lebensjahre zu beschränken». Doch auf staat­
licher Ebene wurde noch sehr wenig getan.
Viele private Unternehmen scheinen sich die­
ser Situation bewusster zu sein.Amazon zum Bei­
spiel gab imJuli bekannt, dass es 700 Millionen
Dollar inAusbildungsprogramme für seine Mit­
arbeitendenzu investieren plant. Doch obwohl die
Schulung von Angestellten immer lobenswert ist,
sollte dieseAufgabe nicht alleine den Grossunter­
nehmen überlassen werden. Denn nursokann
verhindert werden, dass es zur Bildung vonPools
mit leicht austauschbaren Arbeitskräftenkommt:
Angestellte eignen sich «Fast­Food­Skills» an, die
nutzlos werden, sobald neueKompetenzen gefragt
sind.Welche neuenFunktionen müssten also die
Hochschulen der Zukunft übernehmen?
Ein erster Schrittkönnte die Anpassung des
Fünf­Jahres­Diplom­Modells in den Naturwissen­
schaften sein: Der Bachelorkönnte zum «Pass für
lebenslanges Lernen» und der Master zum «ers­
ten Stempel imPass» werden. In denBachelor­
Jahren würden Studierende das für lebenslanges
Lernen erforderlicheRüstzeug erhalten, also
eine Grundausbildung in Mathematik,Physik
und computergestütztem Denken.Dank den ge­
nannten drei Säulenkönnte jeder Studierende der
Nat urwissenschaften dann weitere neueFähigkei­
ten erlernen, wie zum Beispiel dieKenntnisse zur
Benutzung künstlicher Intelligenzen.
Der Master of Science würde die Studieren­
den dann auf ihre beruflicheLaufbahn vorberei­
ten und ihnen die Möglichkeit bieten, ihr eigenes
Kompetenzportfolio aufzubauen. In ihm sollte der
Fokus auf den Erwerb praktischerFähigkeiten
im Rahmen von Projekten gelegt werden. Diese
Projekte würden mit temporeichen technischen
Modulen verknüpft, die je nach Art des Projekts


«on­the­fly» oder «nach Belieben» absolviert wer­
den könnten.Wird in einem Projekt etwa ein inte­
grierter Schaltkreis entwickelt, muss ein Modul
zu fortgeschrittenen Mikroelektronik­Konzepten
absolviert werden. Die Modulekönnten frontal
od er inForm von Blended Learning unterrich­
tet werden. Zusätzlich zu den technischenFähig­
keiten würden zentraleFähigkeiten wie kritisches
Denken,Teamführung undRessourcenplanung
gefördert –Fähigkeiten, die sich nur schwierig
automatisieren lassen.
Das neue Master­of­Science­Diplom würde so
zu einemPortfolio aus abgeschlossenen Projekten
und einer Zusammenstellung der inden Modu­
len erworbenenKompetenzen. BesagtesPortfo­
lio wärezudem unbegrenzt undkönnte lebens­
lang aktualisiert werden, denn dieTechnik und
ihre Anwendungen ändern sich schneller als je­
mals zuvor. Kurz: DerBachelor würde zumReise­
pass für lebenslanges Lernen und der Master der
erste Prüfstein auf diesemWeg.
Wenn sich Hochschulen für das beschriebene
Modell entscheiden werden, so würden sie natür­
lich mit vielen organisatorischen Schwierigkeiten
konfrontiertwerden.Zum Beispiel die Unvorher­
sehbarkeit der Anzahlder Studierenden.Würden
nämlich alle Alumni einer Universität wieder zu
Studierenden, dann wären dieJahrgänge viel grös­
ser (was sowohl hinsichtlich der Grösse als auch
der Ressourcen eine untragbare Situation zur
Folge habenkönnte). Lösen liesse sich dieses Pro­
blems möglicherweise damit, dass Diplome wie
Pässe regelmässig nachder Aktualisierung von
Kompetenzen verlängert werden müssten.
Eine gewisseVoraussagbarkeit würde admi­
nistrative Schwierigkeiten lösen, nicht jedoch die
grösseren Hürden bewältigen, mit welchen die
lebenslang Studierendenbereits heute kämp­
fen: Zeit und Geld. Denn auch wenn der Arbeit­
geber oder der Staatdas lebenslange Lernen för­
dern würden,so li egt es in der Schweiz gegenwär­
tig noch in der persönlichenVerantwortung.Denn
bei derFinanzierung vonWeiterbildungen oder
der Entsendung von Mitarbeitenden zu diesen
handelt es sich immer noch um eineAd­hoc­Lö­
sung. Die Einführung eines Diplommodells, das
sich amPass orientiert, solltealso in Erwägungge­
zogen werden. Denn darin besteht unserVerspre­
chen für eine nachhaltige digitale Zukunft.

PierreVandergheynstist Professo r für Elektr otechnik
und Informatik sowie Vizepräsident für Bildung an der
EPFL in Lausan ne;Isabelle Vonèche Cardiaist Histori-
kerin und wissenschaftliche Mitarb eiterin im Bildungs-
bereich der EPFL.

Eidgenössische Wahlen


Macht der Panaschierer

Gastkommentar
von BEAT KAPPELER

Die Wähler streichen, kumulieren und panaschie­
ren gegenwärtig, um die Listen für dieWahl zum
Na tionalrat zu kreieren. DenKontrastdazu lie­
fer te BorisJohnson, liefert ausserdem fast ganz
Westeuropa: Johnson warf 21 unbotmässigeTory­
Abgeordnete aus derPartei und strich sie damit
von denWahlplätzen einer nächstenWahl. Die
Schweizer Demokratie bietet damit ein Alleinstel­
lungsmerkmal, wie man im Marketing sagt. Die
Gewählten in der Schweiz können ihrerParteiz en­
trale sagen: «Ich habe euch den Sitz gebracht, oft
mit vielPanaschierstimmen.» Im übrigen Europa
bestimmt dieParteizentrale, wer auf die Listen
und in dieWahlkreise kommt.Während der fol­
genden Legislaturkönnen die Einpeitscher sagen:
Ihr stimmt mit derPartei, ihr verdankt uns den
Sitz – und dieWahlchance für das nächste Mal.
Doch mit demPanaschieren nimmt derWähler
die Macht imLande denParteizentralen weg. Der
Bundesrat schrieb in seiner Botschaft 1918 zur
ersten Proporzwahl, unabänderliche Listen seien
«eine ungebührliche Beschränkungdes freien
Wahlrechts». DerWähler aller Listen kann seit­
her nämlich Quereinsteiger fördern, Sesselkleber
abstrafen,wie 2015 in Zürich, Bern und anderswo.
Die Wahlanalysen zeigten erdrutschartige Stim­
mentransfers durch dasPanaschieren.
Gegenüber denWahl­ undRegierungssyste­
men Europasbringt dasPanaschieren den Schwei­
zer Bürgern so vielFreiheitsgrade wie die direkte
Demokratie auch: bottom­up statt top­down.
BorisJohnsonsParteimacht steht nämlichnicht
allein. InFrankreich führtdas Wahlsystem in zwei
Runden und in Einerwahlkreisen dazu, dass in
den 14 Tagen vor der zweitenRunde die Zentra­
len der einander nahestehendenParteienihrenur
zweitplatzierten Kandidaten gegenseitig zurück­
ziehen, um eine Mehrheit derRechten oder der
Linken zu erreichen. Die eliminierten Kandidaten
lesen es manchmal in der Zeitung, vor all em aber
hat derWähler nichts dazu zu sagen.
In Italien tauschten vor der letztenWahl
die Parteizentrale der Lega Nord und jene von
BerlusconisPartei ebenfalls ihre Kandidaten in
gegenseitiger Absprache aus.Dem Wähler blie­
ben nur unveränderbareListen, wie auch jene der
Cinque Stelle.
In Deutschland und anderswo stellen zwarPar­
teiversammlungen oft die Listen auf, doch Kandi­
daten,die gegen dieRegierung stimmtenoder sie
gar dadurch zuFall brachten, sind überall chan­
cenlos. Die deutschenParteieliten kandidieren
sowohl inWahlkreisen wie auf Listen undrett en
so ihreMacht. Die Gewählten der CDU oder der
Partei Emmanuel Macrons dürfenkeine Vorstösse
andererFraktionenunterschreiben oder müssen

zuerst rückfragen. Die Abgeordneten der CDU
müssen amVorabend von Abstimmungen derPar­
teizentrale mitteilen, dass sie gegen dieRegierung
stimmen möchten. Es folgen heisse Nächte.Abge­
ordnete der Cinque Stelle dürfenkeine Medien­
auftritte ohne Bewilligung machen, und mehrere
wurden wegen mangelnder Disziplin schon aus
der Partei geworfen.
Die Parteien Europas üben diesen Druck auf
die Abgeordneten aus, weil nach wichtigen, aber
verlorenen Abstimmungen dieRegierung zurück­
tritt und Neuwahlen folgen.Alle Boote sinken zu­
gleich. Und da jene Abgeordneten nur Berufspar­
lamentarier sind, sinkt ihr Brotkorb mit.
Der schweizerische Bundesrat hingegen ist seit
1848 im Amt, niekollektiv zurückgetreten, immer
nur ergänztund nachParlamentswahlen im Amt
bestätigt worden.NachAbstimmungsniederlagen
im Parlament und vor demVolk neigt er seine sie­
ben Häupter – und ändert dieVorlagen.
Dies gilt auch für die Schwesterrepublik USA:
Die Regierung tritt nach Niederlagen nicht zu­
rück, und sie kann dasParlament nicht auflösen.
Die Abgeordneten sind ebenso autonom. In bei­
den Republiken führt dies laufend zuKompro­
missen. Denn eineVorlage kann auch scheitern,
wen n Abgeordnete jenerPartei bocken, die die
Mehrheit stellt.Daher werden in den USA und
in der Schweiz oftPakete geschnürt, um alle bei
der Stange zu halten.Das mag vonFall zuFall
nachKuhhandel riechen, doch bleibt eineRegie­
rung damit näher an denWünschen der lokalen
Bevölkerung als mitParteizentralenmacht wie in
Westeuropa.
DieseParteizentralen «vermachten» auch die
EU. DerRat der EU ist aus den Ministern der
Mitgliedsländer zusammengesetzt. Diese Minis­
ter werden in allenLändern von der siegreichen
Parteispitze ins Amt berufen, sie werden imRat
der EU aber auch zu Gesetzgebern der EU. Die
Richtlinien des EU­Rats wirken dann in ihrer
Geltung zurück auf die Mitgliedsländer,und
derenParlamente, regierungsabhängig, können
diese EU­Normen nicht verwerfen. DiePartei­
zentralenregieren unangefochten in Brüssel und
Zuhause. Das dürfte eher den Demokratiemangel
der EU darstellen als fehlendeParlaments­ oder
Volksrechte.
Dieser Mangel wird verkannt, genauso wie das
befreiendePanaschieren in der Schweiz als Mit­
tel der Machtstreuung verkannt wird. DieFrei­
heit ruht in einer Zeile des Gesetzes über die poli­
tischenRechte (Art. 35): Die Wählerschaft «kann
Kandidatennamen aus andern Listen eintragen».

Beat Kappelerist Ökonom und Buchautor. Seine jüngste
Veröffentl ichung «Staatsgeheimnisse. Was wir über un se-
ren Staat wirklich wissen sollten» ist 2016 bei NZZ Libro
erschienen.
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