Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

Dienstag, 8. Oktober 2019 MEINUNG & DEBATTE


Grünes LichtfürtürkischenEinmarschin Syrien


Trump begeht Verrat an den Kurden

Fünf Jahre lang haben die USA den syri-
schenKurden militärischen Beistand geleistet.
Ihre Unterstützung begann in der Schlacht um
Kobane, als der Ansturm derTerrormiliz IS auf
die mehrheitlich kurdische Stadt nur dank ameri-
kanischen Luftangriffen gestoppt werdenkonnte.
Aus derAd-hoc-Hilfe entwickelte sich eine über-
aus erfolgreiche Allianz: Die kurdisch dominier-
ten Syrian DemocraticForces (SDF) wurden zum
wichtigsten Partner bei der Bekämpfung des IS.
Dessen Gebietschmolz unter den Angriffen der
Kurden zusammen,bis dieTerrorgruppe im März
2019 den letzten Flecken ihres «Emirats» verlor.
Ausgerüstet mit amerikanischenWaffen und
angetrieben von einer marxistisch angehauchten
Ideo logie, die sich gegen die Islamisten ebenso
richtet wie gegen den autoritären Zentralismus
des Asad-Regimes, sind die SDF quasi der Er-
satz für jene Bodentruppen, die Washington nie
selber in grosser Zahl stationieren wollte. Bei
der Zerschlagung des IS inSyrien hat niemand


einen höheren Blutzoll geleistet als dieKurden-
milizen. Diese Leistung scheint jedoch bereits in
Vergessenheit zu geraten. Mit seiner Entschei-
dung, einen türkischen Einmarsch zu dulden,
lässt PräsidentTrump die kurdischenVerbünde-
ten im Stich. DieTürkei will östlich des Euphrats
eine Pufferzone errichten. Die betroffenen Ge-
biete stehen bis jetzt alle unterKontrolle der SDF.
Dass die USA eine solche Eskalation zu-
lassen, bedeutet das Scheitern ihrer Bemühun-
gen, eineBalance zwischen zwei ungleichenVer-
bündeten zu finden–auf der einen Seite die syri-
schenKurden,auf der anderen der Nato-Alliierte
Türkei, der sich über die Entstehung eines kurdi-
schen Quasi-Staates mitVerbindungen zur tür-
kisch-kurdischen Guerilla PKK alarmiert zeigt.
Mit etwas Geschick wäredieserBalanceakt wei-
ter möglich gewesen.Washington arbeitete eng
mit denTürken zusammen,um deren Befürchtun-
gen zu zerstreuen. Seit kurzem führten amerika-
nische und türkische MilitärbeobachterPatrouil-
len in Nordsyrien durch.Die SDF demonstrierten
ihren gutenWillen, indem sie diesePatrouillen
nicht nur duldeten, sondern an einem Grenz-
abschnitt sogarTruppen sowie schwereWaffen
abzogen.Dass sie diese Zugeständnisse machten
und nun trotzdem einen amerikanischenVerrat
erleben, muss dieKurden verbittern.

Die türkische Begründung für den Einmarsch
überzeugt nicht. Ein autonomes Kurdengebiet in
Nordsyrien mag nicht nachAnkarasWunsch sein,
doch Staatenkönnen sich ihre Nachbarn nicht
aussuchen. Sie haben einzig dasRecht, inFrie-
den gelassen zu werden. Genau dies haben die
SDF getan – eine militärische Aggression gegen
di eTürkei lie ssen sie sich nie zuschuldenkom-
men.Als Brandstifter betätigt sich hingegen Prä-
sident Erdogan, wenn er glaubt, Millionen von
Syrern aus derTürkei umsiedeln und in «seine»
Pufferzone verfrachten zukönnen. Eine solche
Aktion würde zwangsweise erfolgen und die Be-
völkerungsverhältnisse in Nordsyrien fundamen-
tal verändern.Welche Existenzgrundlage diese
Vertriebenen hätten, ist einRätsel.
Einmal mehr hat sichTrump in einemTelefo-
nat mit Erdogan zu einem impulsiven Entscheid
hinreissen lassen. Klüger wäre gewesen,Ankara
vom Nutzen einerKooperation mit denKurden
zu überzeugen. Einen Präzedenzfall dafür gibt
es: Auch die kurdischeAutonomie im Nordirak
hatten dieTürken einst abgelehnt – heute ma-
chen die beiden Seiten gute Geschäfte miteinan-
der. Nordostsyrien,wo die SDF den Grossteil der
syrischen Erdölfelderkontrollieren, hätte ähnli-
ches Potenzial. Doch dafür wäre grössererWeit-
blick nötig – bei Erdogan ebenso wie beiTrump.

Kesb-Volksinitiative


Schwanders blamabler Fehlschlag

In ein paarWochen läuft die Sammelfrist für die
Volksinitiative zur Schwächung der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) ab.Alles
deutet darauf hin, dass der Initiant des Projekts,
der SchwyzerSVP-Nationalrat Pirmin Schwan-
der,mit seinen hochtrabenden Plänen Schiff-
bruch erleidet:Das Initiativkomitee ist zerstritten
und fällt auseinander. Der Zeitplan stimmt nicht,
und die nötigen Unterschriften fehlen. Und das
Thema Kesb verliert siebenJahre nach der Ein-
führung des neuen Kindes- und Erwachsenen-
schutzrechts sukzessive an Dringlichkeit.
Überraschend ist diese Entwicklung nicht:
VonAnfang an war SchwandersFeldzug gegen
die Kesb nicht viel mehr als dilettantisch insze-
nierte Empörungsbewirtschaftung. Die Kritik
am 2013 eingeführtenSystem war zwar teilweise
berechtigt. DieKesb-Gegner der ersten Stunde
haben dafür gesorgt, dass der politische Druck in
der turbulenten Übergangsphase erhalten blieb.


Doch Schwander ging es nicht um die Optimie-
rung desSystems. Er wollte ein polterndesPower-
play – mitder Einreichung der Initiative in der
heissenWahlkampfphase als Höhepunkt.
Dabei kündigte Schwander seinVolksbegeh-
ren schonvor Jahren an, nachdem eine Mutter
ihre beiden fremdplatzierten Kinder umgebracht
hatte. Der Fall Flaach löste 2015 grosse Betrof-
fenheit aus.Das Vorhaben traf einen Nerv,doch
es kam nicht vom Fleck. Mal um Mal vertröstete
Schwander seine Mitstreiter und schob den Start-
schuss hinaus. Erst 2018 lancierte ein bunt zusam-
mengewürfeltesKomitee die Initiative – viel zu
spät, um politischen Druck aufzubauen: Kämen
die Unterschriften wider Erwarten doch noch
zusammen, wäre das Kindes- und Erwachsenen-
schutzrechtzum Zeitpunkt der Abstimmung fast
zehnJahre in Kraft.
Auch inhaltlich hat die Initiative weder Hand
nochFuss. Sie ist starr ausformuliert und in vie-
lerlei Hinsicht widersprüchlich oder unklar. Weil
sie vom Id eal der intaktenFamilie ausgeht,würde
sie die bestehenden Schwierigkeiten nicht lösen.
Im Gegenteil: Sie würde neue Probleme schaffen,
die ungleich grösser wären.So würden die Behör-
den in jenenFällen zurückgebunden,in denen das
persönliche Umfeld die Urteilsunfähigkeit einer

Person für eigene Interessen ausnützt.Auch Kin-
der in zerrüttetenVerhältnissen, die vernachläs-
sigt oder misshandelt werden, stünden gemäss
Wortlaut der Initiative plötzlich geschwächtda.
Das ist schlicht und einfach absurd.
Während Schwander für vielWirbel und Irri-
tationen sorgt, bemühen sich andere darum, das
System mit gezielten Eingriffen tatsächlich zu
verbessern.Der Unternehmer GuidoFlurigrün-
dete beispielsweise dieAnlaufstelle«Kescha», um
Betroffenen im Umgang mit den Behörden zu
helfen. Der IT-Unternehmer und FDP-National-
rat Marcel Dobler (fdp.) hat eine digitale Platt-
form zurkostenlosen Erstellung einesVorsor-
geauftrags entwickelt. SP-Nationalrätin Ursula
Schneider Schüttel hat imParlament die Stärkung
der privaten Beistände initiiert,Justizministerin
KarinKeller-Sutter zieht mit. Und nicht zuletzt
verbessern dieKesb selber stetig denVollzug.
Das ist nicht sehr spektakulär, aber wir-
kungsvoll. Heute müssen sogar die Initianten
zugeben, dass dieKesb meistens gut arbeiten.
In allenanderen Fällen müssen die Behörden
und Gerichte einschreiten – doch das bestreitet
niemand. Eine weitere überflüssigeVolksinitia-
tive braucht es dafürnicht: höchste Zeit, diese
Übung abzublasen.

Europaund die«Weltwährung» Libra


Verhindern und Verbieten genügt nicht

Zuersthat der französischeFinanzminister Bruno
Le Maire seine europäischenKollegen öffent-
lich dazu aufgefordert, das geplante Blockchain-
basierte Zahlungssystem mitsamt Kryptowährung
Libra in Europa bis auf weiteres zu verbieten. Es
müsse sichergestellt werden, dass Libra inkeiner
Art undWeise die staatliche Souveränität beein-
trächtige und völlig risikofrei sei. Sogleich stimmte
ihm der deutscheFinanzminister Olaf Scholz zu.
Prompt haben nun verschiedene EU-Behörden
Verfahren gestartet, die weitreichendeAuflagen
und Verbote zurFolge habenkönnten. Die Abnei-
gunggegenprivateTech-InnovationenausdenUSA
scheint bereits zumReflex verkommen zu sein.
Natürlich hat Libra Risiken.Auf der geplanten
Blockchain solltenIdentität von Sender und Emp-
fängerso mitgegeben werden, dass sie im Zwei-
felsfall auch für dieAufsichtsbehörden einsehbar
sind.Ein genügendes Mass anTransparenz muss
sicherstellen, dass das Zahlungssystem nicht (wie


einigeberei ts existierende Kryptowährungen) zum
Mekka für Geldwäscher und Kriminelle wird.Aber
die Sorge wirkt dochreichlich aufgesetzt.Auch bei
den herkömmlichen Zahlungssystemen kann Geld-
wäscherei nie hundertprozentig verhindert werden.
Tatsache ist doch, dass transnationale Zah-
lungen und Überweisungen heute oft noch sehr
lange dauern undkostspielig sind.Daran ver-
dienen die beteiligtenBanken, Infrastrukturbe-
treiber und Kartenfirmen gut. Die Blockchain-
basierteLösung,die Libra vorschwebt,könnte
Innovation in die Szene bringen und wird auch
nicht die einzige bleiben, die auf dieseTechnik
setzt. Zwar ist es durchaus denkbar,dass her-
kömmliche Zahlungssysteme ebenfalls prak-
tisch auf Knopfdruck ähnlich günstig funktionie-
ren. Aber ohneWettbewerb durch neue Anbie-
ter wird es noch lange am notwendigen Druck
für konsumentenfreundlichere Angebote fehlen.
Selbstverständlichsollten dieWettbewerbs-
behörden Libra aufmerksam verfolgen, um bei
Bedarf eingreifen zukönnen, wenn die Krypto-
währung dank Netzwerkeffekten alleine zu markt-
beherrschend würde.Aber auch dieses Risiko
dürfte bewusst überhöht dargestellt werden. Be-
reits heute gibt es internationale (chinesische) und
nationaleKonkurrenzlösungen.

Frei von Eigeninteressen sind selbst dieWar-
nungender grossen Zentralbanken nicht.Nach-
vollziehbar ist, dass die Behörden dasVerspre-
chen der Libra-Initianten überwachen wollen,die
neue Kryptowährung fest mit Anlagen in bisher
einigermassen harteWährungen zu hinterlegen
(Stablecoins).Verständlich ist auch dieForde-
rung, dass das neue Netzwerk stabil und sicher
sein soll. Aber istes denKonsumenten wirklich
nicht zuzumuten, selber zu entscheiden, welche
Risi ken sie tragen wollen? Es wird ja niemand
dazu gezwungen, Libra zu nutzen. DieKonsu-
menten hingegen erhielten eine Alternative zu
(potenziell) schwachenWährungen. Es muss ja
nicht immer der Dollar sein, der sich alsParal-
lelwährungetabliert. Schon alleinedas könnte
Notenbanker sinnvoll disziplinieren.
Mit Verbieten undVerhindern lässt sich der
Strukturwandel bremsen,aber nicht aufDauer
verhindern. Innovation geschieht dann einfach
anderswo. Europa tut sich mit der digitalen Platt-
formökonomie wohl nicht zufällig so schwer.
Das ist schade und macht die EU nicht siche-
rer. Um auch künftig erfolgreich zu sein, muss
mit Innovationen experimentiert werden. Zum
Glück gehendie Regulatoren in der Schweiz das
Thema nicht blauäugig, aber offener an.

SEITENBLICK


Schöner Schrecken


Von KONRADPAUL LIESSMANN


Das 18.Jahrhundert kannte eine besondere
Form der ästhetischen Empfindung, an die
man sich angesichts mancher Entwicklungen
in der Klimadebatte erinnert fühlt: das
angenehme Grauen. Nichts ist furchtbarer als
die Vorstellung desWeltuntergangs, aber da
dieser nicht morgen bevorsteht, beschleichen
einen wohlige Schauer. Natürlich: Die
ungeduldigen, mit demPathos der Propheten
getränktenAufrufe zur Umkehr und die
dramatischen Inszenierungenradikaler
Klimaschützer wie «ExtinctionRebellion»
wollen uns in Angst und Schrecken versetzen,
um ein unmittelbares Handeln zu provozieren.
Allerdings: Klimaschutz ist schon der falsche
Begriff. Das Klima benötigtkeinen Schutz.
Wenn, dann geht es um den Schutz des
Menschen vor denAuswirkungen des
anthropogenen Klimawandels.
In manchem erinnern diese Beschwörun-
gen der Angst an dieapokalyptische Rhetorik
des Kampfesgegen die atomare Bedrohung
im vorigenJahrhundert.Damals vertraten
auch prominenteVordenker dieser Bewegung
wie der Philosoph Günther Anders dieThese,
dass jedes Mittel, auch der Einsatz von
Gewalt,recht sei, um diese Bedrohung
aufzuhalten – ginge es doch um das Schicksal
der Menschheit.Von der atomaren Bedro-
hung – die übrigens noch immer existiert –
unterscheidet sich der Klimawandelallerdings
in einem wesentlichen Punkt: Die nuklearen
Vernichtungskapazitäten der in einem kalten
Krieg verstrickten Supermächte hätten
tatsächlich ausgereicht, um die Menschheit mit
einem Schlag zu liquidieren. Solche Drastik
wird auch für die Klimakrise insinuiert, und
dies führt zu einer womöglich verhängnisvol-
len Fehleinschätzung.
Die apokalyptische Rhetorik der Klima-
schützer muss einen Aspekt stets ausblenden:
die Banalität dieser Katastrophe. Genau in
dieser aber liegt der eigentliche Schrecken.
Traut man denWorst-Case-Szenarien der
Klimaforscher, droht nämlichkein plötzliches
Ende intelligenten Lebens auf diesem Plane-
ten, sondern eine sich zuspitzendeVerschär-
fung von sozialen, politischen und militäri-
schenKonflikten. Hungersnöte,Wassermangel,
durch Umweltveränderungen bedingte
Migrationsströme, Verteilungskämpfe,Bürger-
kriege sind aber nichts, was die Menschheit
nichtkennte. Niemand wünscht sich das – aber
es wäre nicht das erste Mal.Von solchen
realpolitischenKonsequenzen lenkt die
aufwühlende Predigt vom grossen Ende ab.
Zwar wird gerne argumentiert, dass eine
überzogene Rhetorik der Angst, dass eine
aktivistische Zuspitzung derLage notwendig
sei, um überhaupt das taube Ohr der Entschei-
dungsträger zu erreichen.Apokalypseblind
hatte Günther Anders seine Zeitgenossen
genannt, heute scheinen trotz allen Beifalls-
bekundungen für «Fridays forFuture» viele
noch immer klimataub zu sein.Da sind schrille
Töne wohlerlaubt. Diese Zuspitzungen
kommen jedoch nicht ohne jene ästhetischen
Figuren aus, die das Grauen zu einem beson-
deren Sinneskitzel in einerreizüberfluteten
Welt machen.Lang lässt sich solches aber
nicht durchhalten.
Abgesehen davon: Die immerradikaleren
Aufrufe zum Handeln suggerieren, dass die
Gefahr durch entschlossenesAuftretenrasch
gebannt werdenkönnte. Offenbar hat man das
Wesen des Klimas noch nicht ganz erfasst:
Dieses nimmt sich Zeit– füralles. Klimapoli-
tik ist einePolitik, die prinzipiellkeine
Aussicht aufraschen Erfolg hat. Und was
geschieht eigentlich, wenn alle Klimaimpera-
tive hierzulande befolgt würden und man nach
etlichenJahren ernüchtert erkennen müsste,
dass sich nichts verbessert, vieles womöglich
verschlechtert hat, weil alle Anstrengungen
durch eine demografische Entwicklung
anderenorts zunichtegemacht wurden, die man
nicht gewagt hatte zu thematisieren, als es
dafür noch Zeit gewesen wäre?Auch das
könnte dann ein schöner Schrecken sein.

Konrad Paul Liessmannist Professor für Methoden
der Vermittl ung von Philosophie und Ethik an der Uni-
versität Wien.
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