Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

Dienstag, 8. Oktober 2019 SCHWEIZ


«Mein ganzer Alltag istPoesie,ich bin extremfixiert auf Schönheit»,sagtTanja Grandits. GEORGIOS KEFALAS / KEYSTONE


«Essen ist das Gegent eil von Skepsis»

Tanja Grandi ts vom Basler «Stucki» wird zur ersten 19-Punkte-Kö chin der Schweiz und plädiert für Lockerheit in Ernährungsfragen


Tanja Grandits, Sie sind die ersteFrau
in der Schweiz,die19 Gault-Millau-
Punkte erobert.Wie fühlt sich das an?

Es ist einfach eine riesigeFreude,ein
Höhepunkt des gemeinsamen Schaffens
für mich undmeinTeam, das imKern
seit elfJahren zusammen ist.


Gleichzeitig erhalten Sie zum zweiten
Mal denTitel «Koch desJahres». Stören
Sie sich an derBezeichnung «Koch»?

Überhaupt nicht, ich bezeichne mich ja
selbst alsKoch und bin trotzdem weib-
lich. Ich habe es nichtso mit diesen Gen-
derfragen. Sehr glücklich macht mich
aber,dass ich nun vielleichtnoch etwas
stärker einVorbild und eine Inspiration
sein kann für jüngereFrauen, auch dazu,
wie man diesen Beruf mit der Mutterrolle
vereinbaren kann.Das zeigen mir immer
mehr Zuschriften von jungenKöchinnen.


Was braucht es, damit das funktioniert?
Man muss bei sich sein und wissen, was
man will, was einem gefällt. EineFami-
lie gründen kann man allerdings eigent-
lich fast nur, wenn man schon Chefin ist
und sich das Ganze etwas selbst einteilen
kann. In derKüchekommen die Arbeits-
zeiten erschwerend hinzu, zumTeil auch
ein immer nochrauer Umgangston.Aber
ich glaube, wir sind auf einem gutenWeg,
dass mehrFrauen nachkommen, das
zeigt sich auch in meinemTeam.


Sie leiten ein KMU mit 30 Angestellten.
Kommen Sie, wie viele in dieserTopliga,
gar nicht mehr oft zumKochen?

Meine Hauptarbeit ist das definitiv nicht
mehr, das ginge gar nicht. Ich bin noch
in derKüche, aber sicher nicht jedenTa g
am Herd. Es muss so viel entschieden,
entwickelt,getan werden imRestaurant
und imLaden.Auch ist dasPersonal zu
motivieren und beiLaune zu halten.


Sie sind bekannt dafür, hervorragende
Leute in der zweitenReihe heranzu-
ziehen, etwa Ihren Stellvertreter und
Küchenchef MarcoBöhler oder den
PatissierJulienDuvernay.

Die sollen alle ein Gewicht und einen
Namen haben, das ist mir sehr wichtig.
Sie haben ihre eigenen Ideenund Stär-
ken, die ich immer fördern will, das sind
die bestenFachleute überhaupt.Viele
Leute um mich herumkönnen viele
Sachenviel besser als ich.Das ist einTeil
des Erfolgs.Womöglich sehe ich mich
auch etwas als Mutter von allen hier:Das
ist für mich ja nicht einJob,es ist mein
Leben, das ich so schön wiemöglichge-
stalten will – und zwar für alle imTeam.
Es geht nicht nur um mich,sondern um
ein Miteinander, etwasFamiliäres:Wir
haben hier einen wunderbaren Ort, an
dem wir gemeinsam unsere Philosophie
leben. Und ein guterTeamleader muss
eineVision haben, eine Handschrift.


Es heisst, in IhrerKüche werde deutlich
mehr gelacht als in anderen.


Das stimmt sicher.Wir lachen unglaub-
lich viel, nicht nur in derKüche, das ge-
hört dazu. Natürlich nicht während des
Services, da sind wir hochkonzentriert
und trotzdem freundlich.

Einer Ihrer Leitsprüche auf IhrerWeb-
site lautet: «Concentrate on theessential

- but don’t remove the poetry.»Woist
diePoesie in IhrerArbeit?

Überall. Mein ganzer Alltag istPoe-
sie, ich bin extrem fixiert auf Schön-
heit und brauche sie um mich herum.
BeimKochen mag ichreduzierte Ge-


richte, aber nicht soreduziert, dass es
kalt wirkt.Dahilft es, etwasVerspielt-
heit hineinzubringen.

Man fragt sich, ob es in der Musik
überhaupt noch neueTonfolgen zu
komponieren gibt.Wie ist das in der
Küche?
Ich will ja nicht aufTeufelkommraus
originell sein, aber dieKombinations-
möglichkeiten sind unendlich. Ich brau-
che denWandel, eben darum machen
wir unser 12-Gang-Menu alle zwei
Monatekomplett neu.

Wie komponieren Sie?
Ich schreibealles inein ganz gros-
ses, schwarzes Buch: linksstichwort-
artig Ideen, die ich in den vergange-
nenWochen gesammelt habe, etwa Pro-
dukte, die jetzt passen.Rechts das Menu,
am Anfang die Hauptzutat.Von die-
ser gehen wir weiter zum Gemüse, das
ist immer nur eine Sorte pro Gericht,
aber in verschiedenen Zubereitungen.
Das Gemüse bestimmt in derRegel die
Farbe des ganzen Gerichts.

Tatsächlich ordnen Sie fast alleGerichte
einer einzelnenFarbe unter, das ist so-
zusagenIhre Handschrift. Unter ande-
rem das Monochrome hilft, dass der
Gast sich besser auf den Geschmack
konzentrieren kann. Gibt esweitere
Gründe?
Ein zentraler Grund ist, dass ich mich
damit einschränkebei der unendlichen
Möglichkeit vonZutaten. Und Ein-
schränkung fördert die Kreativität.

Dasind wir fast wieder bei derPoe-
sie, derVersform. Zum Thema Gemüse:
WelcheRolle spielt es in Ihrer privaten
und in Ihrer beruflichenKüche?
Für meineTochter und michkoche ich
meist vegetarisch, vor meinerKoch-
lehre war ich sogarVegetarierin.Auch
in derRestaurantküche ist mir Gemüse
unglaublich wichtig.Wir haben schon
lange eine vegetarischeVarianteunse-
res Menus, imVoraus kann auch eine

vegane bestellt werden, was aber dann
nicht vollständig meine Ideen spiegelt.

Was ist denn Ihre Meinung zumVeganis-
mus und zu den ganzenDebatten dar-
über, was man essen darf undwas nicht?
Es ist einfachAusdruck einer wahnsin-
nigenRatlosigkeit, alles wird irgendwie
fast schonreligiös. Als einfache Richtlinie
sollte man darauf hören, was einem gut-
tut. Aber dafür haben wohl viele Leute
gar nicht mehr so ein Gefühl. Man sollte
den gesunden Menschenverstand einset-
zen:Wenn man frischkocht, darf man
doch essen, was man will, ausser Billig-
fleisch und vielleicht allgemein Unmen-
gen von Fleisch. Dieses ganze freudlose
Getue aber, bei dem das Geschmacks-
erlebnis meist zweitrangig wird, wird
man hoffentlich auch einmal satthaben.
Essen ist dasFreudvollste,was es gibt, es
ist doch das Gegenteil von Skepsis.Aber
das alles ist nur meine Meinung, das muss
jeder für sich selbst entscheiden.

Sie habeneinige Lehr-undWanderjahre
in London und Südfrankreich verbracht.
Wie wichtig ist es für denKochnachwuchs,
Auslanderfahrungen zu sammeln?
Für mich waren beideAufenthalte sehr
wichtig, bevor ich in die Schweiz kam
und mich selbständig machte. Ich bin
unglaublich gerne in diesemLand, fühle
mich wahnsinnig willkommen, gerade
auch inBasel. In London aber lernte ich
dieWeltküche und die englische Spra-
chekennen, in Südfrankreich die ganze
Liebe zu den Produkten. Ich wardann
unerhört erfreut, dasses in der Schweiz
auch so grossartige Produkte gibt. Es
hat so viel mehr als Käse hier, zum Bei-
spiel bestes Fleisch,verschiedenste Öle.
Das istein Schlaraffenland, es gibt dies-
bezüglichkein besseres Land für einen
Koch. Es ist vor diesem Hintergrund er-
staunlich und schade, dass die Schweiz
imAusland als kulinarisches Ziel nicht
bekannter ist.Dänemark zum Beispiel
erlebt ja einen eigentlichenReiseboom,
da kümmert sich der Staat stark um
dieseFörderung.Vielekommen nach
Kopenhagen, um dort zu essen.

Bei Ihnen fällt eine Erdverbundenheit auf,
eine auf demTopniveau der Brancherare
Bescheidenheit und Natürlichkeit.Was
sind dieWurzeln dieser Eigenschaften?
So bin ich einfach, vom Charakter her
geerdet und sehr bei mir. Ich bin in ein-
fachenVerhältnissen auf der Schwäbi-
schen Alb aufgewachsen, mir käme es
nie in den Sinn, abzuheben oder mich
selbst zu wichtig zu nehmen. Ich weiss,
dass ich einen tollenJob mache hier,
aber das macht mich nicht zu einem
besseren Menschen. Und mir ist Zu-
hören extrem wichtig.Vielekönnen das
gar nicht mehr, sondern nur nochselbst
schwatzen.Dabei ist anderen zuzuhören
etwasWunderbares, zumal man jedes
Maletwas Neues lernt.
Interview: Urs Bühler

Aromen, Kräuter, Farben und Essenzen


urs.·DerPaukenschlag der Schwei-
zer Gault-Millau-Ausgabe 2020 ist der
Aufstieg vonTanja Grandits, seit 2008
Chefin des «Stucki»amBasler Bru-
derholz, in den helvetischen Olymp
der19-Punkte-Köche.Damitverbun-
den ist wie 2014, als sie als hierzulande
erst zweiteFrau nach IrmaDütsch den
18.Punkt erhielt, der geschlechterü-
bergreifendeTitel «Koch desJahres».
DieTester seien «vonKüche, Konzept
und Hartnäckigkeit» begeistert, heisst es
dazu im Communiqué, das ihr den in-
offiziellenTitel «Miss 10 00 Volt» ver-
leiht und sie als ausgezeichneteTeam-
playerin würdigt.Trotz allen Schwierig-
keiten setze sie ihren Stil, geprägt durch

Aromen, Kräuter, Farben und Essenzen,
unbeirrtdurch und habe ihn in diesem
Jahr weiter perfektioniert. So viel lässt
sich hier auf knappstemRaum dazu fest-
halten: Eine Gaumenreise durch ihr bis
ins Detail ausgefeiltes Menu in acht bis
zwölf Gängen (abFr.210.–) führt einen
mit Kombinationen wie «Steinpilze,
Wacholder-Knödel undZedernkerne»
mitten hinein ins Glück.
Die 49-jährige gebürtige Baden-
Württembergerin, die ihre Lehre bei
HaraldWohlfahrt in der«TraubeTon-
bach» im Schwarzwald absolvierte, wirkt
seit 20 01 inder Schweiz. Hier eröffnete
sie mit ihrem späteren EhemannRené
Graf das«T hurtal» in Eschikofen (TG).

Hotelküchen und die grösste Stadt zählen zu den Taktgebern


«Gault Milla u» verleiht fünf Restau rants den 18.Punkt – und Zürich bleibt ein besonders pulsierendes Beispiel für eine lebendige Gastroszene


URS BÜHLER


MitTanja Grandits’Aufstieg wird der
Klub der Chefs mit 19 Punkten, der
höchsten hierzulande von «Gault Mil-
lau» vergebenen Note, zum Oktett. Zu
ihm gehören wie bisher Andreas Cami-
nada inFürstenau (GR),Peter Knogl in
Basel, Heiko Nieder in Zürich, Philippe
Chevrier in Satigny (GE), Didier de
Courten in Siders (VS),Franck Giovan-
nini in Crissier (VD) und Bernard und
GuyRavet inVufflens-le-Château (VD).
FünfKöche, alle in Hotelküchen tä-
tig, stossen mit der neuenAusgabe so-
zusagen in denVorhof des Olymps vor:
Den18.Punkt erhalten Stefan Heile-
mann im Zürcher «Atlantis» undRolf
Fliegauf im «Ecco» in Ascona,Patrick
Mahler im «Fokus» desPark HotelVitz-
nau, Mitja Birlo im «7132 Silver» inVals
sowie dieFratelli Chicco und Bobo Ce-


rea, die im «Carlton» in St. Moritz einen
Ableger ihres bergamaskischen Drei-
Sterne-Lokals «DaVittorio» führen. 96
Restaurants sind frisch aufgenommen
worden,was zurRekordzahl von 870 be-
werteten Lokalen führt. Allerdings hat
dasTeam von «Gault Millau Schweiz»,
den Ringier Axel Springer verlegt, das
Spektrum der überhaupt in Betracht ge-
zogenen Küchen in den letztenJahren
auch ziemlich erweitert.

Junge, hungrige Kräfte


Besonders pulsierend ist die Zürcher
Gastronomie, an derBasis wie an der
Spitze:Wer gerne auswärts isst, dabei
Abwechslung liebt und Experimentier-
lust zeigt, dem kann das nicht verborgen
bleiben. EinenPaukenschlag wie das
letzte Mal denAufstieg von Heiko Nie-
der («Dolder Grand») in die19-Punkte-

Ligagibt’s nicht jedesJahr.Aber junge,
hungrigeKräftestossen nach. So kann
man eine ganzeReihe vonTuschen und
Tr ommelwirbeln verzeichnen, die für die
Zukunft einiges versprechen.
In den obersten Sphären schliesst der
erwähnte Stefan Heilemann («Ecco»)
mit 18 Punkten zur«Verfolgergruppe»
mitLaurent Eperon im «LePavillon»
des «Baur auLac» und Rico Zandonella
imKüsnachter «Rico’s» auf. Das trös-
tet nicht ganz über zwei angekündigte
Schliessungen von17-Punkte-Betrieben
in derRegion hinweg: Der nicht nur
nach Punkten beste Italiener,Antonio
Colaiannis «Gustav» in der Europaallee,
wird EndeJahr ebenso geschlossen wie
der gleich hoch bewertete «Adler» des
Ehepaars Gass in Hurden am Obersee.
Immerhin kann gehofft werden, dass die
herausragendenKöche bald eine neue
Wirkungsstätte in der Nähe finden.

Zu Zürichs bestbewertetem Italiener
wird somit Bindellas «Ornellaia», wo Giu-
seppeD’Errico den17.Punkt holt. Ganz
steil steigt der 32-jährigeThomas Biss-
egger, einstWeltmeister mit derJunio-
ren-Kochnationalmannschaft, im «
Designedby Lagonda» ein: Der von
Dario Cadonau verantwortete Betrieb an
der Löwenstrasse, imApril mit gestyltem
Interieur eröffnet, startet mit 16 Punkten.

Ehrenmeldungfür Winterthur


Insgesamt legen zehn Chefs in der
Region, etwa halb so viele wie letztes
Jahr, um einen Punkt zu. Erfreut stellen
wir fest, dass zudem in den Nachbar-
kantonen zweiAufsteiger gekürt wor-
densind, deren Qualitäten wir heuer
schon gewürdigt haben. Manuel Steig-
meier im «Fahr» inKünten Sulz erhält
15 Punkte,SebastianRabe imRestau-

rantWart im zugerischen Hünenberg
gar ebenso verdiente 16 Punkte.
Die Zukunft gehört schliesslich wo-
möglich jenen 13 Betrieben, die in
Zürich undRegion frisch aufgenom-
men worden sind. Um nicht insAufzäh-
len zu geraten, beschränken wir uns auf
eineFeststellung. Die zweitgrösste, aber
spitzengastronomisch weit weniger ver-
wöhnte Stadt des Kantons erhält immer-
hin einen Punkt mehr: Dafür sorgt
Roland Häusermann am Herd desWin-
terthurer Lokals «Zur Eintracht» (13).
Der frisch geschaffeneTitel «POP des
Jahres» für Betriebe ohne Punkte, aber
mit «urbanen,spannendenKonzepten»
indes geht wiederum an eine Wirtin in
der Stadt Zürich: Marlene Halter zeigt
mit ihrer «Metzg» an derLangstrasse
vorbildlich,sympathisch underfolgreich
vor, wie man heute Fleischgenuss jen-
seits des Massenkonsums zelebriert.
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