Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

Dienstag, 8. Oktober 2019 ZÜRICH UND REGION 17


So tickt die neue Politik-Generation


Noch ni e kandidierten im Kanton Zürich so viel e Frauen für den Nationalratwir haben vier ambitionierte Jungpolitikerinnen getroffen


RETO STAUFFACHER UND NILS PFÄNDLER


Lachend sitzen die vierFrauen um den
Tisch. Einig sind sich dieJungpolitike-
rinnen aber nicht. IhreAnsichten unter-
scheiden sich genauso stark wie die Ge-
tränke in den Gläsern vor ihnen.
«Immer sind dieBanken an allem
schuld!», antwortet BettinaFahrni (jfzh.)
auf dieAussage von Hannah Pfalzgraf
(juso.), dass der Finanzplatz Zürich
den Klimawandel begünstige. «Ich bin
eine Gegnerin derFrauenquote»,sagt
Camille Lothe (jsvp.) kurze Zeit später.
Viviane Kägi (jglp.) ist anderer Ansicht:
«EineFrauenquote kann sinnvoll sein.
Es ist eine Pflicht derPolitik, alle Ge-
sellschaftsgruppen zurepräsentieren.»
Gut möglich, dass eine dieser vier
jungenFrauen dereinst in den Natio-
nalrat gewählt wird.Wenn nicht die-
sesJahr, dann möglicherweise in einer
nächstenWahl. DieSVP, die SP, die FDP
und die GLP waren sowohl bei den letz-
ten Nationalratswahlen als auch bei den
Kantonsratswahlen im März die vier
wählerstärkstenParteien imKanton.
Bei ihrenJungparteien stehen Lothe,
Pfalzgraf, Fahrni und Kägi für diekom-
mendenWahlen jeweils auf dem ersten
Platz der Listen.


Camille Lothe(jsvp.):


Zigarren statt Puurezmorge


Sieht so die moderneVolkspartei aus?
«Hier gibt esden wohl schönstenAus-
blick auf die Limmat»,sagt Camille Lothe.
Die25-Jährige empfängt uns beim Hotel
Storchen,einemFünfsternehaus mitten in
der Stadt Zürich. «Hier hatte ich meine
erstenSVP-Veranstaltungen. Und hier
gibt es eine der letzten Zigarrenbars der


Stadt.» An diesem Ort gebe es noch die
Freiheit, so zu sein, wie man wolle und das
zu machen, was man wolle.
Freiheit. Unabhängigkeit. Es sind
diese beiden Begriffe, die Lothe in die
Politik und zurSVP gebrachthaben.
«DasRahmenabkommen gehört abge-
lehnt, die Unabhängigkeit der Schweiz
steht über allem.» Lothes Rhetorik ist
angriffig und pointiert. Im Übrigen ent-
spricht sie aber nicht einer typischenVer-
treterin ihrerPartei. Sie ist in der Stadt
Zürich aufgewachsen («MeineFamilie
ist unpolitisch») und zur Schulegegan-
gen («inslinkeGymi Stadelhofen»). Sie
studiertPolitikwissenschaften («Meine
Dozentenregen sich auch mal auf»),
wohnt in einer WG («oben im Kreis 7»),
betreibt eine eigene Sendung aufYou-
tube («Thomas Matter hat mich inspi-
riert») und fährt nieFahrrad («Ich nehme
lieber ein E-Trottinett»). Ihr politisches
Vorbild ist Natalie Rickli, dieSVP-Regie-
rungsrätin («eine eindrücklicheFrau»).
Lothes Offenheit ist entwaffnend. Sie
gibtFehler zu und übt auch Kritik ander
Mutterpartei:«Wir solltengesellschafts-
liberaler sein»,sagt sie.«Ich unterstütze
eine Elternzeit, solange siekeinenAus-
bau darstellt, und die Ehe für alle.» Es
gebe zu wenige junge und zu viele ältere
Menschen in derSVP. Und der traditio-
nelle «Puurezmorge» müsste auch nicht
immer sein: «Ich würde am Sonntag lie-
ber ausschlafen.»
Lothe ist eine Senkrechtstarterin. Sie
war schon viermal in der SRF-«Arena»
und ist damit bekannter als viele gestan-
denePolitiker in ihrerPartei.Wie schafft
sie das? «Ich binauthentisch, durch und
durch. Ich bin laut,aber ehrlich, ich sage,
was sichandere nicht zu sagen trauen.»
Basiert Lothes Erfolg auch darauf, dass
sie eine von wenigenFrauen in derSVP
ist? «Nein,im Gegenteil.Frauen müs-
sen in derSVPhärter arbeiten als Män-
ner, weil sie beweisen müssen, dass sie


nicht wegen einer Quote nominiert wor-
den sind.Das ist der Grund, warum ich
gegen solche Quoten bin.»
Nach dem Gespräch verabschiedet
sie sich in Richtung Central zum nächs-
tenTermin: «Ich gehe Flyer verteilen.»
Politik ist harte Arbeit. Besonders für
eine junge, urbaneFrau bei derSVP.

Hannah Pfalzgraf (juso.):
ImRathausdie Welt retten

DerKondomautomat auf derToilette
ist mitAufklebern übersät: «MakeLove
Not CO 2 »,«System Change not Cli-
mate Change» oder «Nazi-freie Zone»,
ist darauf zu lesen.Das Licht amTr esen
ist schummrig. Die Einrichtung derBar
erinnert an dasWohnzimmer einer Stu-
denten-WG. Rauch hängt in der Luft.
Hannah Pfalzgraf sitzt auf einem Holz-
stuhl in der Mars-Bar imLangstrassen-
quartier. Es ist einTr effpunkt der alter-
nativen Szene – oder der «linken Bub-
ble»,wie sie selber sagt. «Schon viele
lange Abende haben mit politischen
Diskussionen hier geendet», sagt Pfalz-
graf und trinkt einen Schluck Bier.
DiePolitik bestimmt das Leben der
22-Jährigen. Nach der Annahme der
Masseneinwanderungsinitiative trat sie
denJungsozialisten bei. Sie sei hässig ge-
wesen, dass Leute über ihrenKopf hin-
weg solche Entscheide fällten, als sie

noch nichteinmal abstimmen durfte.
DieJungpartei gab ihrdasGefühl, nicht
mehr machtlos zu sein. Es folgte ein
steilerAufstieg: Als sie Anfang 20 18 in
den Kantonsrat nachrückte, war sie die
jüngsteParlamentarierin aller Zeiten.
Seither habe sie einen anderen Blick
auf diePolitik. «Ich binrealistischer ge-
worden», sagt dieKunststudentin. «Man
kann nicht von einemTag auf den ande-
ren alles verändern.»
Dabei gäbe es in ihrenAugen so eini-
ges, was man verändern sollte: die unge-
rechteVerteilung des Kapitals, die Dis-
kriminierung von Minderheiten, die un-
genügende Gleichstellung von Mann
undFrau, die Zerstörung der Umwelt.
Den Hauptschuldigen für all diese Miss-
ständesieht PfalzgrafimKapitalismus,
den es zu überwinden gelte. «Das kapi-
talistischeSystem kann nicht die Ant-
wort auf die Probleme dieserWelt sein»,
sagt sie und plädiert für einen demo-
kratischen Sozialismus. «Geld ist beim
Sozialstaat besser aufgehoben als auf
demKonto eines Superreichen.»
Pfalzgraf gefällt das Bild vom «Sta-
chel im Arsch der SP», wie die Ex-Prä-
sidentinTamara Funiciello die Juso
einst bezeichnete. Noch besser findet
sie dieRolle als «linkes Gewissen». Die
SP müsse linker und mutiger werden.
«Wenn sich der Zustand derWelt ver-
bessern soll, dann müssenRahmen ge-
sprengt und neueWege gedacht wer-

den.» In den letzten zweiJahren im
Kantonsrat mag Pfalzgraf einVerständ-
nisfür dieTr ägheitderPolitik entwickelt
haben. An ihren Utopien hält sie aber
fest. «Ich achte darauf,dass meinrevolu-
tionäres Gedankengut nicht hinterdem
Parlamentarismus verschwindet.»

BettinaFahrni(jfzh.):
«Werde bloss kein Sozi»

BettinaFahrni versucht gar nicht erst,
dem Klischee einerJungfreisinnigen
zu widersprechen. Siekomme direkt
von ihrem Arbeitsplatz in einer Gross-
bank, sagtFahrni, als wir sie amFusse
des Üetlibergs auf einerParkbank tref-
fen. Ihre Ansichten vertritt die 25-Jäh-
rige unter freiem Himmel genauso ge-
radlinig und vehement, als sässe sie auf
einemPodium.Wortreich kritisiert sie
Regulierungen,Verbote und hohe Steu-
ern, rückständige Gesetze und über-
triebene Bürokratie. Freiheit statt Be-
vormundung, Eigenverantwortung statt
«Nanny-Staat», lauten ihreSchlagworte.
Fahrni stammt aus einer politisch
aktiven FDP-Familie. «Werde bloss
kein Sozi», habe derVater ihr mit auf
denWeg gegeben,als sie vor sechsJah-
ren das Elternhaus im bernischenLyss
fürWirtschaftsstudium undJob Rich-
tung Zürich verliess. Fahrni nahm sich
dieväterlichenWorte zu Herzen.

Die Präsidentin der städtischenJung-
freisinnigen istRealistin genug, um zu
wissen, dass ihrePartei in der Stadt
Zürich derzeit einen schweren Stand
hat. «Ich würde nochsogerne die vie-
lenTempo-30-Zonen wieder aufheben
oder 500 neueParkplätze in der Innen-
stadt schaffen», sagt sie.Vorstösse in
diese Richtung seien aber verschwen-
dete Energie. Stattdessen trat sie diesen
Sommer erfolgreich für mehr Glace-
ständeamZürichsee ein oder verteilte
als Zeichen für die Drogenliberalisie-
rung zusammen mitParteikollegen 300
Hanfpflanzen in der Stadt.
Von politischen Gegnern musste sie
sich dafür denVorwurfgefallen lassen,
trivialeThemen zu beackern. Eine Kri-
tik, die sie kaltlässt. DennFahrni fehlt
es weder an Einsatz noch anVisionen.
Neben ihremJobals Teamleiterinwen-
det sie rund zehn Stunden proWoche
für politische Arbeit auf. IhrerPartei
will sie einen neuen Anstrich verpassen.
«Früher kamen alle im Anzug zu den
Mitgliederversammlungen. Heute sind
auch kurze Hosen okay. »
Diese Stossrichtung würde in ihren
Augen auch der Mutterpartei guttun.
«Wir müssen zeigen, dass wir einePoli-
tik für den Mittelstand machen, nicht
nur für eine kleine Elite», sagt sie und
verschwindet zu einer Uhrzeit, zu der
die meisten schon längstFeierabend ge-
macht haben, noch einmal im Büro.

VivianeKägi (jglp. ):
Radikalisiert inAustralien

«Gibt es den Kaffee auch mit Soja-
milch?»,fragtViviane Kägi denKell-
ner.Nein, gibt es nicht. «Dann nehme
ich einen Schwarztee.»
Wir treffen die22-jährigeGrünlibe-
rale auf dem Goldenberg, einem Hügel
mitAusblick auf die StadtWinterthur.
Es ist ihr Lieblingsort, hier kann sie
«entschleunigen und abschalten und
vielleicht mal ein gutes Buch lesen»,
ausserdem wohnt sie seit kurzem in der
Nähe – allein in einer kleinen Genos-
senschaftswohnung –, darum ist sie oft
und gerne hier oben. «Aber meistens
nicht imRestaurant, sondern draussen
im Grünen.»
Letztmals so richtig «entschleunigt»
hat dieangehende Sekundarlehrerin vor
zweiJahren,als sieinAustralien einen
Sprachaufenthalt machte. «Das macht ja
heute fast jeder», erzählt sie und lacht.
Doch ausgerechnet amanderen Ende
derWelt kam ihr Erweckungserlebnis.
«Dort habe ich michradikalisiert.» Seit
sie zurück ist, ernährt sie sich vegan, be-
findet sich im Flugstreik und kauft Klei-
der nur noch im Secondhand-Laden.
Ihr strikter Lebenswandel steht im
Kontrast zu ihren gemässigten politi-
schen Ansichten. «Nur weil ich privat so
konsequent lebe, heisst das nicht, dass
meinePolitik auch sokonsequent sein
muss.In derPolitik erreichstdu mit
radikalenForderungen nichts. Es geht
immer darum, den bestmöglichenKom-
promiss für deinAnliegen zu finden.»
Wenn Kägi davon erzählt, wie sie
die Menschen mit Lenkungsabgaben
von einem Leben mit weniger Fleisch,
Flügen undKonsum überzeugen will,
wie sie Kleiderbörsen organisieren, die
Altersvorsorgereformieren, die Indivi-
dualbesteuerung einführen, die «Ehefür
alle» fördern, die Elternzeit durchbrin-
gen und Gleichstellung zwischen «allen»
erreichen möchte, dann wirkt das nüch-
tern und nicht missionarisch. IhreArgu-
mente bringt sie auf den Punkt, als hätte
sie die Sätze schon Hunderte von Ma-
len formuliert.
Das Grüne in «grünliberal» ist sehr
präsent bei ihr.Aber liberal? «Ich bin
gegenVerbote, das bringt nichts.Aber
wieso ist es günstiger, nach Costa Rica
zu fliegen, als mit dem Zug nachBar-
celona zu fahren? Die Menschen ver-
ändern sich erst, wenn sie es imPorte-
monnaie spüren.» Liberal, das bedeute
individuelle Freiheit. Diese Freiheit
aber höre auf, wenn andere geschädigt
würden. «Und wer das Klima schädigt,
schadet uns allen.»

BettinaFahrni(jfzh.), HannahPfalzgraf (juso.), Camille Lothe (jsvp.),Viviane Kägi (jglp.), von l.o. nachr.u. BILDER ANNICK RAMP /NZZ


NATIONALRATSWAHLEN
Video-Statements der vierJungpolitike-
rinnen zu den wichtigstenThemen im
Wahlkampf finden Sie online und auf
Instagram unter @nzz.

nzz.ch/zuerich

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