Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

20 PANORAMA Dienstag, 8. Oktober 2019


ZAHLENRÄTSEL NR. 233


SPIELREGELN«KAKURO»:DieZah-
len 1 bis 9müssenin einer Reihedie
Gesamtsummeergeben. Diese istin
denschwarzen Kästchenlinksdavon
bzw. darübervorgegeben.JedeZahl
darfinnerhalbeinerSummenureinmal
vorkommen.

Auflösung:
Zahlenrätsel
Nr. 232

Wie Zellen den Sauerstoffgehalt messen

Der diesjährige Medizinnobelpreis geht an William G. Kaelin, Sir Peter J.Ratcliffe und Gregg L. Semen za


Dass wir zum Leben Sauerstoff


benötigen, weiss jedes Kind.


Weniger trivial ist der


Mechanismus, mit dem sich der


Körper an die Sauerstoffmenge


anpasst.Für seine Entschlüsselung


erhalten zwei Amerikaner und


ein Brite den Nobelpreis.


ALAN NIEDERER


Wer im Sport Höchstleistungen erbrin-
gen will, braucht vielSauerstoff imKör-
per. Das gilt in besonderem Masse für
Ausdauerdisziplinen wie dasRadfah-
ren. Um ihre Leistung zu steigern, grei-
fen Sportler deshalb immer wieder zum
Dopingmittel EPO. Dieses fördert die
Bildung vonroten Blutkörperchen, die
im Blut den Sauerstoff transportieren.
Mehr rote B lut körperchen bedeuten
mehr Sauerstoff im Gewebe und in den
Zellen – und damit mehr Leistung.
Den Trick mit dem Hormon EPO be-
nützen nicht nur dopende Sportler, son-
dern auch unserKörper, wenn er sich
zum Beispiel in grosser Höhe an eine
verminderte Sauerstoffkonzentration
anpassen muss. Dann produziert er in
den Nieren vermehrt körpereigenes
EPO.Wie aber weiss derKörper, dass
es in seinen Zellen zu wenig Sauer-
stoff gibt und er deshalb die EPO-Pro-
duktion anschalten muss? DiesesRät-
sel haben die drei diesjährigen Medi-
zinnobelpreisträger gelöst:WilliamG.
Kaelin, SirPeter J. Ratcliffe und Gregg
L. Semenza erhalten dafür zu gleichen
Teilen die höchste wissenschaftliche
Auszeichnung. Sie ist mit umgerechnet
908 000 Franken dotiert.


Biologisch fundamental


Sie hätten einen für das Leben vonTie-
ren und Menschen fundamentalen An-
passungsmechanismus entschlüsselt,
hält das Nobelkomitee in seinerWür-
digung fest.Das erste Puzzleteil zur
Lösung des Problems steuerte Gregg
Semenza bei. Der 1956 inNewYork
geborene und an derJohns Hopkins
University im amerikanischen Bal-
timore tätigeForscher studierte das
EPO-Gen bei Mäusen und in kulti-
vierten Leberzellen.Dabei entdeckte
er einen Proteinkomplex (HIF), der
bei Sauerstoffmangelan das EPO-
Gen bindet. Dadurch wird der Erb-
faktor vermehrt abgelesen, und es ent-
steht mehr EPO.


Semenzas zentrale Arbeiten er-
schienen bereits imJahr 1995. Mit sei-
nen Studien hatte er nachgewiesen, wie
der Körper bei einer zu geringen Sauer-
stoffspannung die EPO-Produktion in
Gang setzt. Das ist nicht nur in grosser
Höhe nützlich. Die Sauerstoffko nzen-
tration kann auch zwischen einzelnen
Geweben starkvariieren. So kann etwa
bei sportlicher Tätigkeit dieVersorgung
mit Sauerstoff in den Muskeln knapp
werden.Das hatKonsequenzen für die
Energiegewinnung aus der Nahrung,
die normalerweise ausreichend Sauer-
stoff voraussetzt. Die Anpassung an
eine ungenügendeVersorgung ist des-
halb lebenswichtig.

Wie aber weiss
die Zelle, wann sie
genügend Sauer-
stoff hat? DieAnt-
wort auf diese
Frage kam nicht
von einem Zell-
biologen, sondern
vom Krebsforscher
William Kaelin.
1957 in NewYork
geboren, arbeitet
Kaelin an der Har-
vardMedical School in Boston.Als er
seine nobelpreiswürdige Entdeckung
machte, befasste er sich mit einer Erb-
krankheit, die mit vermehrter Krebs-
bildung einhergeht. DerForscherrea-
lisierte, dass ein von ihm entdecktes
«Krebsprotein» (VHL) auch bei der
Sauerstoffmessung in den Zellen eine
wichtigeRolle spielt.Es hilft nämlich da-
bei, den von Semenza entdeckten HIF-
Proteinkomplexin de nZellen zu zerstö-
ren. Diese Entsorgung ist dann sinnvoll,
wen n es in der Zelle genügend Sauer-
stoff gibt und die Zellekein Gegenpro-
gramm für mehr Sauerstoffstarten soll.
Jetzt musste nur noch ein letztes Pro-
blem gelöst werden:Von irgendwoher

musste der VHL-Eiweissstoff ja das
Signal erhalten, den – bei genügend
Sauerstoff – uner wünschten HIF-Prot-
einkomplex der Entsorgung zuzufüh-
ren. Bei der Klärung dieserFrage half
der dritte Nobelpreisträger mit. Der
BritePeter Ratcliffe wurde1954 inLan-
cashire geboren und arbeitet derzeit an
der Universität in Oxford.In einer 20 01
erschienenen Publikation beschreibt er
eine sauerstoffabhängige chemische
Reaktion, mit welcher der HIF-Prot-
einkomplex markiert wird:Das ist das
gesuchte Signal für dieVernichtung des
Proteinkomplexes.

ErstesMedikamentverfügbar


Welchen Nutzen aber zieht die Medi-
zin aus den Entdeckungen der dies-
jährigen Nobelpreisträger?Dank ihren
bahnbrechenden Arbeiten wüssten wir
heute viel mehr über einen fundamen-
talen physiologischen Prozess, mit dem
der Körper auf unterschiedliche Sauer-
stoffko nzentrationenreagier e, erklär-
ten dieVertreter des Nobelkomitees bei
der Verkündung der Preisträger. Dieser
Prozess betreffe nicht nur das Hormon
EPO, sondern laufe über mehr als 300

weitere Gene und Proteine. So kann ein
Sauerstoffmangel im Gewebe auch das
Signal für die Bildung von zusätzlichen
Blutgefässen geben.Ein Effekt,der zum
Beispiel beim sich entwickelndenFötus
im Mutterleib wichtig ist.
Dass diekörpereigene Sauerstoff-
regulation auch leicht an ihre Gren-
zen kommen kann,ist in der Medizin
nur allzu gut bekannt. So leiden viele
Patienten mit Nierenkrankheiten oder
Krebs an einer schweren Blutarmut.
Hierkönnten neueTherapiemöglich-
keiten, die an den identifizierten Stell-
schrauben ansetzen, bessere Heilungs-
chancen bringen.
Tatsächlich ist vor wenigenWochen
in China die erste solche Substanz auf
den Markt gekommen,wie der Physio-
loge Roland H.Wenger von der Univer-
sität Zürich sagt.Wie EPO werde das
neue Medikament bei Blutarmut in-
folge von Nierenkrankheiten eingesetzt.
«Anders als EPO, das gespritzt werden
muss, kann es aber als Pille eingenom-
men werden», erklärtWenger. Leider
seien solche Substanzen nicht nur für
Patienten attraktiv, sondern auch für
dopende Sportler. Erste Missbräuche
seien bereits publik geworden.

Die EU nimmt Kunstrasenplätze in den Fokus


Die Behörden prüfen ein Verbot von Plastikgranulat, weil die Teilch en die Umwelt verschmutzen


STEPHANIE LAHRTZ, MÜNCHEN


Strohhalme, Wattestäbchen oder Be-
steck aus Plastik hat die EU schon ver-
boten – stehen bald auchKunstrasen-
plätz e, genauer deren Plastikgranulat-
füllungen, auf dem Index? Noch wurde
zwarkeinVerbot von Plastikteilchen auf
Sportplätzen ausgesprochen, vielmehr
befinden sich die Behörden noch in der
Abklärungsphase. Dochbereits die Dis-
kussionen darüber lassen Sportvereine
um ihreTrainingsmöglichkeiten bangen,
manche mussten bereits auf den geplan-
ten neuenKunstrasenplatz verzichten.
Der Platzwart einer Münchner Be-
zirkssportanlage spricht sich klar für den
Kunstrasen aus.«Er ermöglicht uns viel
mehr Nutzung», sagt er. «Da können die
Spieler und Spielerinnen mehr Stunden
proTag und jedenTag drauf,der Platz
ist auch imWinter meistens benutzbar.
Und er macht mir viel weniger Arbeit»,
sagt er.
Dass Kunstrasen ökologisch gesehen
nicht ideal ist, darin sindsich Sport-
verbände und Umweltschützer durch-
aus einig. Ein Kunstrasen besteht aus
zweiKomponenten: künstlichen Plas-
tik-Grashalmen und einerFüllung aus

kleinem Plastikgranulat dazwischen.
Früher bestand dieses meist aus alten
Autoreifen, neuereAnlagen verwenden
künstlichenKautschuk mit Quarzsand,
mancherorts gibt es auch ausschliesslich
mit Sand verfüllte Plätze. DurchWind,
beimReinigen ebenso wie bei der Be-
nutzung, gelangen jedoch viele kleine
Plastikteilchen in die Umwelt,wobei un-
klar ist, wie viele genau.

Schmale Datenbasis


Eine 2018 veröff entlichte Studie des
Fraunhofer-Instituts Umsichtkam zum
Schluss, dass alleine in Deutschland pro
Jahrrund8000TonnenkleinePlastikteil-
chen von denKunstrasenplätzen emit-
tiert werden.Kunstrasen sei damit einer
der Top Five der Mikroplastikemitten-
ten in der Bundesrepublik,schrieben die
Studienautoren.Laut dem Institut be-
ruht diese Angabe allerdings auf ei ner
Vielzahl vonSchätzungen sowie einigen
älterenStudienausSchweden.Manhabe
nur vereinzelt Messungen auf deutschen
Plätzen durchgeführt und wisse auch
nicht, wie viele Plätze mit alten oder
neu en Granulatfüllungen beziehungs-
weise ganz ohne solche existierten.

Auch wenn die Datenbasis noch
nicht allzu breit ist, hat der Sportver-
ein im oberbayrischenTitting auf den
für diesen Sommer geplantenKunst-
rasenplatz verzichtet – wenn auch nicht
ganz freiwillig. Denn der Hauptsponsor,
eine örtlicheFamilienbrauerei, wollte
keinen Plastikrasen bezahlen. «Wir
engagieren uns für Umweltschutz und
versuchen, unser Bier so nachhaltig
wie möglich zu produzieren», erklärt
Mitinhaber Michael Gutmann. «Da
passte einKunstrasenplatz mit Granu-
lat nicht insKonzept.»Jetzt haben die
Tittinger Kicker einen neuen und ge-
sponserten Naturrasen. Anderswo ver-
zögert die Mikroplastikdebatte die Pla-
nungen. So muss ein Münchner Sport-
ve rein vorerst weiter auf den gewünsch-
ten neuenKunstrasenplatz warten. Die
Stadt München als Mitfinanzierer prüft
nun nochAlternativen.
«Nur wenn ein Platz mindestens 800
Stunden imJahr genutzt wird, istKunst-
rasen sinnvoll», sagt Eric Hardman von
der Firma Novoter, die Sportplätze an-
legt und betreut. Hardman war beim
KantonBasel-Stadt23Jahreverantwort-
lich für sämtliche Sportanlagen. «Unter
400 Stunden ist esreine Umweltver-

schmutzung.» Zudemreiche fast immer
ein unverfüllter Platz.Wenn man einen
modernen Naturrasen mit einer fach-
gerechten, wasserdurchlässigen Unter-
lage korrekt anlege und pflege, könne
man diesen auch 800 bis 900 Stunden
ganzjährigbespielen,meintHardman.In
der Schweiz gebe es 500 bis 700Kunst-
rasenplätze, die Hälfte davon sei aber
sinnlos. Zu bedenken sei auch, dass ein
Kunstrasenplatz insgesamt doppelt so
teuer sei wie einer mit Naturrasen.

Fast 500 Kommentare


Wieesnun europaweit mitKunstrasen-
plätzen weitergehen soll, wird gerade
von der Europäischen Chemikalien-
agentur (Echa) geprüft. Bis Ende Sep-
tember haben Einzelpersonen,Firmen,
NGO, Industrieverbände und nationale
Behörden insgesamt 477Kommentare
bei der Echa eingereicht, wie die Be-
hörde auf Anfrage mitteilte. Nun werde
man biskommenden Sommer prüfen,
ob man dasPlastikgranulat verbieten
werde und welcheAlternativen denkbar
seien, sagte ein Echa-Sprecher. Das be-
deute aber nicht, dassKunstrasenplätze
abgebaut werden müssten.

QUELLE: NOBELKOMITEE NZZ Visuals/efl.


Ein Sensorfür SauerstofflöstdenRettungsplan aus


Genug Sauerstoff
Im Normalfall ist genug Sauerstoff in der Zelle. Er bindet an HIF,dadurch kann ein weiteres
Molekül namens VHL andocken. In dieser Form wird HIF zerstört. Es kommt nicht in den Zellkern,
und so wird kein zusätzliches EPO hergestellt.

Zu wenig Sauerstoff
Fehlt Sauerstoff (O 2 )inder Zelle, sammelt sich das HIF-Molekül an und geht in den Zellkern, wo es
die Produktion von EPO und anderen Genen startet. Das führt zu weiteren Anpassungen im Körper.

Sauerstoff


HIF


Zelle


Gen


EPO
wirdhergestellt

HIF trit tinA ktion


OH HIF OH


VHL


HIF


HIF


HIF wi rd abgebaut,
kein zusätzlichesEPO

AP, EPA
Sir Peter Ratcliffe
University
of Oxford

William Kaelin
Harvard
Medical School

REUTERS
Gregg Semenza
Johns Hopkins
University
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