Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

Dienstag, 8. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3


In Kosovo dreht der Wind


Die Linksnationalisten übernehmen das Ruder – das bedeutet Bruch mit dem alten Klientelsystem und mehr Konfrontation mit Serbien


VOLKERPABST, ISTANBUL


Das überraschende Manöver vomJuli
hat sich fürKosovos bisherigen Minis-
terpräsidenten nicht ausbezahlt.Ramush
Haradinaj, der wegen einerVorladung
zum Sondertribunal für Kriegsverbre-
chen in Den Haag vom Amt alsRegie-
rungschef zurückgetreten warund damit
vorgezogeneNeuwahlen auslöste,ist mit
seiner Allianz für die ZukunftKosovos
beim Urnengang vom Sonntag nur auf
dem vierten Platz gelandet.Auch Hara-
dinajsKoalitionspartner, die Demokra-
tischeParteiKosovos (PDK) von Präsi-
dent HashimThaci, kann mit demWahl-
ausgang nicht zufrieden sein. Die seit
12 Jahren an der Macht beteiligtePartei
von PräsidentThacikann sich mit 21,
Prozent der StimmenkeineAussichten
auf eineRegierungsbeteiligung machen.
Die überragende Gewinnerin der
viertenWahl seit der Unabhängigkeits-
erklärung desLandes vor 11Jahren ist
die Opposition. Die linksnationalisti-
sche BewegungVetevendosje von Albin
Kurti liegt nachAuszählung von 98 Pro-
zent aller Stimmen mit 25,6 Prozent als
stärkste Kraft vorne. Knappdahinter
folgt mit 24,9 Prozent die ältestePar-
tei desLandes, die Demokratische Liga
(LDK) des Übervatersder Unabhängig-
keitsbewegung, IbrahimRugova, die mit
der jungen Vjosa Osmani als Spitzen-
kandidatin angetreten war. Damit haben
zweiPolitiker mehr als die Hälfte aller
Stimmen auf sichvereint, deren Karriere
nicht in denRängen der Befreiungs-
armee UCK begann und die für einen
klaren Bruch mit dem Klientelsystem
des politischen Establishments stehen.


Korruptionsbekämpfungzuerst


Dies und dieTatsache, dass wederTha-
cisPDKnoch der bisherige Ministerprä-
sident Haradinaj von ihrem Streit über
dasVerhältnis zu Serbien profitieren
konnten, zeigt, dass dieseFragen nicht
zuoberst auf der Prioritätenliste der
Wähler stehen.Thaci hatte zusammen
mit dem serbischen Präsidenten Alek-
sandarVucic im Sommer letztenJahres
fürAufsehen gesorgt,als eine Grenz-
änderung zwischen den beiden Staa-
ten in Betracht gezogen wurde. Kriti-
ker mutmassten,Thaci wolle sich da-
mitSympathien imWesten schaffen, um
seinerseits eineVerurteilungdurch das
Kriegsverbrechertribunal zu vermeiden.
Laut dem Plan sollte der serbisch besie-


delte NordenKosovos an Serbien fallen.
Im Gegenzug würde Belgrad allenfalls
einige mehrheitlich albanische Dörfer
in Südserbien an Pristina abtreten und,
vor allem, endlich die Unabhängigkeit
Kosovos anerkennen.
Ministerpräsident Haradinaj be-
kämpfte diesen Plan, gegen den auch
die grosse Mehrheit derKosovaren war,
vehement.Stattdessen versuchte er mit
einer Hauruckübung, Serbien zum Ein-
lenken zu bringen, als er Strafzölle von
100 Prozent auf serbische Importe ver-
hängte. Obwohlihm diese Entschlos-
senheit anfänglich vielSympathie in der
Bevölkerung einbrachte – und bis heute
anhaltende, scharfe internationale Kri-
tik – half ihm dies amWahltag nicht.
Denn für die Bevölkerung stehen an-
dereFragen imVordergrund, vor allem
dieVerbesserung der wirtschaftlichen
Lage und ein Ende der allgegenwärti-
ge n Korruption. Bei teuren Infrastruk-
turprojekten und der Privatisierung ehe-
maliger Staatsbetriebe flossen jeweils

grosse Summen an dieRegierungs-
parteien. Derweil darben das Bildungs-
system,die Gesundheitsversorgung, die
öffentlichen Dienstleistungen.
DieWahlsiegerKurti und Osmani
gelten beide als nichtkorrupt. Eine
Koalitionsregierung der beiden Opposi-
tionsparteien ist wahrscheinlich. Osmani
hatimVorfeld ein Zusammengehen
mit der PDK von PräsidentThaci kate-
gorisch ausgeschlossen. Allerdings hat
sich ihreParteiauch noch nicht verbind-
lich zueiner Zusammenarbeit mitKur-
tisVetevendosjeerklärt. Denn mitVor-
schusslorbeeren trittKurti trotz seiner in
Korruptionsfragen sauberenWeste nicht
an. Der ehemalige Studentenführer war
lange Zeit als Enfant terrible derkoso-
varischenPolitik und wurde vom poli-
tischen Establishment im In- undAus-
land gemieden.
Als albanischer Nationalist erkannte
er die künstlich geschaffenen Staats-
symboleKosovos nicht an. SeinePar-
tei hegt Sympathien für ein Gross-

albanienund lehntdeshalbdenVer-
fassungsartikel ab, der den Anschluss
Kosovos an einen anderen Staat verbie-
tet.Aus Protest gegen einen Grenzver-
trag mit Montenegro zündeteVeteven-
dosje mehrereMaleTr änengaspetarden
imParlamentsgebäude.Allerdings tritt
Kurti jüngst deutlich gemässigter auf.
Niemand müsse Angst haben, dass seine
ParteiKonflikte vom Zaun breche, wenn
sie an die Machtkomme, sagte er.

Keineinf acher Partner


In Serbien wird derWahlausgang in
Kosovo ebenfalls als Zeichen einer wei-
terenVerhärtung derFronten wahr-
genommen. Über die Serbische Liste,
die grösstePartei der serbischen Min-
derheit inKosovo,bewahrt Belgrad je-
doch Einfluss imLand. Die vollständig
von Belgrad abhängigeParteikonnte
alle zehn Mandate verteidigen.
Auch für die EU und den ins Sto-
cken geratenenAussöhnungsprozess

zwischenKosovo und Serbien dürfte
eineRegierung unterKurti ein unbe-
quemerPartner werden.SeineVeteven-
dosje wie die LDK von Vjosa Osmani
haben mitRecht demWesten vorgewor-
fen, dierechtsstaatlichen Missstände in
Kosovo zu tolerieren, solange die poli-
tischeFührung aussenpolitische Stabi-
lität garantiert.
Der von der EU hingenommene
Hinterzimmer-Deal zwischen denAuto-
kratenVucic undThaci über einen mög-
lichen Gebietsabtausch steht fürPoliti-
ker wieKurti und Osmani sinnbildlich
für diesePolitik. Entsprechend vorsich-
tig und defensiv wird die neueRegie-
rung auf diesemFeld agieren. Den Ge-
staltungsraum der EU, die auf baldi-
ges Abkommen drängt, wird das wei-
ter einschränken. Dieser istwegen der

fehlenden Bereitschaft, die Integration
desWestbalkans voranzubringen, ohne-
hinkleingeworden. DerFrust derKoso-
varen darüber, noch immer nicht visa-
frei in den Schengenraumreisen zu dür-
fen,ist riesig.
Welche Impulse künftig aus den
USA, die inKosovo noch immer über
den grössten Einfluss verfügen,kom-
men, ist unklar. Vor einigen Monaten
wurde mit MatthewPalmer ein ausge-
wiesenerKenner derRegion zum Son-
derberater für denWestbalkan. DiePer-
sonalie wurdeals Anzeichen dafür be-
trachtet, dassWashington derRegion
wieder mehrAufmerksamkeitschen-
ken will.VergangeneWoche wurde nun
der Botschafter in Deutschland, Richard
Grenell, parallel zum Mandat in Berlin
zum Sonderberater für dieVerhandlun-
gen zwischen Serbien undKosovo er-
nannt. Grenell hat sich bisher nicht mit
demWestbalkan befasst, über dieAuf-
teilung der Zuständigkeiten zwischen
ihm undPalmer ist nichts bekannt.

Die Anhänger vonVetevendosje habenamSonntagabend in Pristina Grund zumFeiern. LAURA HASANI / REUTERS


Scotland Yard stolpert über die politische Korrektheit


In einem angebliche n Skandal um promin ente Kindersc händer hat die britische Polizei stümperhaft und gesetzeswidrig er mittelt


MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON


«Unrechtmässige», «stümperhaft» und
«Grund zu sehr ernster Besorgnis»,lau-
tet das Urteil, das Sir RichardHenri-
que,ein ehemaliger Richter, über die
MetropolitanPolice und diePolizeiauf-
sichtsbehörde ausspricht. Die mit über
31000 Uniformierten grösstePolizei-
truppe Grossbritanniens hatte zwischen
2014 und 20 16 während fast anderthalb
Jahren gegen einen Ring von ehema-
ligen Ministern, Wirtschaftsakteuren
und hohen Militärs in der Hauptstadt
ermittelt. Die Angehörigen des Londo-
ner Establishments standen imVerdacht,
vierJahrzehnte zuvor wüstePartys ver-
anstaltet und Buben vergewaltigt zu
haben; in dreiFällensollen die Männer
angeblich ihre Opfer zum eigenen sexu-
ellenVergnügen oder zur Einschüchte-
rung anderer ermordet haben.


Frei erfunden


Die Horrorgeschichten waren frei er-
funden, «samt und sonders», wie Henri-
que in seinem letzteWoche vollständig
veröffentlichten Bericht festhielt.Vo r
dreiJahren hatte ScotlandYard, wie die
Hauptstadtpolizei auch genannt wird,


die2,5Millionen Pfund teureStrafunter-
suchung eingestellt, ohne eine Anklage
zu erheben. Henrique wurde beauftragt,
allfälligeVerfehlungenzuuntersuchen,
aber sein Bericht wurde gekürzt und be-
arbeitet und im November 20 16 amTa g
nach den amerikanischen Präsidenten-
wahlen veröffentlicht, damit er weitge-
hend unbemerkt bliebe. Erst amFrei-
tag wurde die ganze, fast 400 Seiten um-
fassende Enquête der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Am Montag folgte
der Bericht des Independent Office for
Police Conduct(IOPC), derAufsichts-
behörde. Sie anerkennt Mängel und
schlägt eine Liste vonVerbesserungen
vor,sieht aber von Disziplinarmassnah-
men gegen einzelne Detektive oder die
verantwortlichen Befehlshaber ab.
Der Urheber derVerdächtigungen,
ein Pfarrerssohn, ehemaliger Pfleger und
Schulaufseher, hatte die Detektive syste-
matischbelogen. Er gab an, zwischen 1975
und1984 mehr als einDutzend Mal ver-
gewaltigt worden zu sein. In Protokollen
trat er als Zeuge «Nick» auf. Er erschlich
sich eine Opferentschädigung von 22 000
Pfund. LetztesJahr wurde er von Schwe-
den, wo er sich niedergelassen hatte,aus-
geliefert. ImJuli verurteilte ein Gericht
Carl Beech, wie er richtig heisst, wegen

mehrfacher Irreführung derJustiz zu 18
Jahren Zuchthaus. Der51-Jährige war An-
fangJahr selber wegen Kindsmisshand-
lung verurteilt worden.

Nicht einmal Protokollegelesen


Die Kritik im Henrique-Bericht war in
den Grundzügen schon bekannt, aber die
Einzelheiten sind empörend und lassen
Zweifel aufkommen am Urteilsvermögen
vonPolizeibeamten undVorgesetzten.
Laut dem Richter hätten bei den Detekti-
ven immer wiederWarnlampen aufleuch-
ten müssen, etwa wenn Beech behaup-
tete, er seimehrfach von den Übeltätern
an seiner Schule abgeholt worden – ohne
dass die Schule oder seine Mutter dies be-
merkt haben sollten.Vergewaltigungen
von mehreren Buben gleichzeitig sollen
unter anderem im Haus des ehemaligen
Premierministers Edward Heath vorge-
kommen sein – obwohl das Gebäude von
Polizisten bewacht wurde. Beech heuerte
einen Privatdetektiv an, um sicherzu-
gehen, dass sein Stiefvater, der seinen An-
schuldigungenhätte widersprechenkön-
nen, gestorben war. Die Londoner Detek-
tive machtensich nicht einmal dieMühe,
die Protokolle zu lesen, welche diePoli-
zei inWiltshire verfasste,nachdem sich

Beech zuerst bei ihnen gemeldet hatte.
KeinPolizist, der Bescheid gewusst hätte
über alle zurVerfügung stehenden Infor-
mationen, hätte Beech noch Glauben ge-
schenkt, schreibt Henrique.
DieFrage ist, weshalb diePolizei das
Lügengebäude abkaufte. DerVerfasser
nennt als Grund eine «Kultur, wonach

Opfern geglaubt werden muss». Die
Polizeioperation «Midland» fiel vor fünf
Jahren in eine Zeit, in der mehrereFälle
von systematischen Kindsmisshand-
lungen bekanntgeworden und schwere
institutionelle Mängel zu derenVorbeu-
gung in derVergangenheit aufgedeckt
worden waren. Mit der historischenAuf-
klärung derVerbrechen wurde seither
die grösste je an die Hand genommene
öffentliche Untersuchung beauftragt.

Aber dasPendel hatunterdessen zu weit
in die andere Richtung ausgeschlagen.
Laut dem Henrique-Bericht vereinbar-
ten dieVerantwortlichen der Operation
imVoraus, was sie bei Eröffnung der Er-
mittlungen gegenüber der Presse sagen
würden: dass «Nick» (Beech) ihrer Mei-
nung nach ein glaubwürdiger Zeuge sei.

Furcht vor Rassismus-Vorwurf


DerVerstoss gegen die Unschuldsver-
mutung folgt der skandalösen Behand-
lung eines Studenten, der vor zweiJah-
ren in die Mühlen derJustiz geriet, weil
ihn seine Ex-Freundin derVergewal-
tigung beschuldigt hatte.Der Prozess
gegen ihn fiel in sich zusammen, als die
diePolizei endlich gezwungen wurde,
das Beweismittel inForm eines Han-
dys auszuliefern,das den Beschuldigten
entlastete.AlsFolge müssen Klägerin-
nen in vergleichbarenFällen neuerdings
in die Offenlegung ihrerKommunika-
tionsmittel einwilligen. Ein anderes Bei-
spiel sindBanden von pakistanischstäm-
migen Männern in Provinzstädten wie
Rotherham in Nordengland, in denen
diePolizei jahrelang dieAugen vor den
Verbrechen verschloss,ausFurcht, als
rassistisch hingestellt zu werden.

Der Frust
der Kosovaren darüber,

noch immer nicht
visafrei in den

Schengenraum reisen
zu dürfen, ist riesig.

Edward Heath
Zu Unrecht
beschuldigter
AP Ex-Premierminister
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