Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

INTERNATIONALIDienstag, 8. Oktober 2019 Dienstag, 8. Oktober 2019 NTERNATIONAL


«Wir tragen


immer


die Schuld»


Ausl ändi sche Hausmädchen sind in arabischen


Ländern ihrem Dienstherrn ausgeliefert –


oft bleibt nur die Flucht in die Illegalität


Von Christian Weisflog (Text) und


Diego Ibarra Sanchez (Bilder), Be irut


AsokaWalakada ist eine sehr mutige,
aber ebenso verzweifelteFrau. Jeder
Ortswechsel ist für sie ein Risiko.
Seit zehnJahren lebt die Mutter von
zwei Kindern in der Illegalität. Aber
um ihre tränenreicheTragödie zu er-
zählen, nimmt sie dieFahrt von ihrer
Wohnung am Stadtrand in ein Gemein-
scha ftszentrum im Herzen von Beirut
in Kauf. Sie setzte sich dazu wie üblich
in ein vertrautesTaxi, nicht in einen
Bus. «Der Chauffeurkennt meine Si-
tuation und umfährt Checkpoints», er-
zähltWalakada.Das kostete sie um-
gerechnet17 Dollar, 4 Prozent ihres
Monatslohnes. Ein Luxus, den sie sich
leisten muss: «Das ist der Preis für
meineSicherheit.»
Ihr Martyrium begann vor zwanzig
Jahren. Über eineVermittlungsagentur
kam die jungeFrau aus SriLanka zu
einer libanesischenFamilie, die sie vom
erstenTag an schlecht behandelte. «Ich
wurde für nichts geschlagen», erklärt
Walakada mit gebrochener Stimme.
Tränen schiessen ihr in dieAugen. Ihr
ganzerKörperzieht sichschluchze nd
zusammen. Immer wieder bleiben die
Worte in ihrer engen Kehle stecken.«Sie
wollten,dass ich eine Haube trage.Aber
ich mochte das nicht.» Manchmal habe
sie die Hausherrin mitten im Schlaf an
den Haaren aus dem Bett gerissen.

Allmächtiger Sponsor


Essen erhieltWalakada vom Hauskei-
nes, obwohl ihr Arbeitgeber dazu ver-
pflichtet war. Hin und wieder habe sie
eine Büchse Sardinen oderThunfisch
mit gehen lassen.Auch den gesetzlich
vorgeschriebenenRuhetag gab esnicht,
dafür lange Arbeitszeiten von früh-
morgens bis spätabends. Irgendwann
führte die Mangelernährung zu Magen-
beschwerden. Der Arzt, der sie unter-
suchte, ermahnte die Familie, ihr Haus-
mädchen zu ernähren.Walakada sagte

ihrem Dienstherrn: «Sie geben Ihrem
Auto auch Benzin, damit es läuft.»
Die physische Gewalthätte Wala-
kada zurKündigung berechtigt. Doch
dieser Entscheid ist nicht so einfach:Be-
endet sie ihrVerhältnis zu ihremArbeit-
geber, verliert sie auch ihreAufenthalts-
erlaubnis. Denn ihr Chef istin gewis-
sem Sinne gar nicht ihrArbeitgeber,
sondern ihr «Sponsor» (Kafil). Sie steht
unter seinerVerantwortung und seinem
Schutz.Verliert sie diesen, muss sie das
Land verlassen.Ausser sie findet einen
anderen «Sponsor». Ein solcherWech-
sel des Schutzherrn ist aber nur möglich,
wenn ihr amtierender Kafil zustimmt.
Dieses sogenannte Kafala-System bil-
det in verschiedenen Spielformen in vie-
len arabischenLändern den gesetzlichen
Rahmen der Arbeitsmigration.Weil die
Gastarbeiter dabei auf Gedeih undVer-
derb von der Gutmütigkeit ihres Kafil
abhängen, bietet dasSystem vielRaum
für Missbräuche: unbezahlte Arbeit,
Schläge oder auch sexuelle Übergriffe.
Walakada biss auf die Zähne. Sie er-
füllte ihren Dreijahresvertrag und unter-
zeichnete danach beiVerwandten ihrer
gewalttätigenFamilie nochmals für die
gleiche Zeit.«Was sollte ich tun?» Zu
Hause in SriLanka seien sie eine sechs-
köpfigeFamilie. Manchmal habe ihre
Mutterkeine Kleider zum Anziehen ge-
habt. Doch die Hoffnung, ihre neuen
Brotgeber würden sie besser behan-
deln, erfüllte sich nicht. «Nach zweiJah-
ren konnte ich nicht mehr.» Durch eine
Freundin fandWalakada endlich einen
gutmütigen Kafil, und ihr Arbeitgeber
stimmte dem «Sponsorenwechsel» zu.
Ihr Glück währte indes nur drei wei-
tere Jahre. Dann brauchte dieFamilie
keine Bedienstete mehr. Ein Freund
des Hauses war bereit,Walakadas neuer
Sponsor zu werden,allerdings nichtVoll-
zeit und nicht inhouse.«Ich putzte jeden
Tag drei Stunden bei ihm, nebenbei war
ich frei, andereArbeiten anzunehmen.»

«Freelance» nennt sich dieses weitver-
breitete, aber illegale Modell.Ein Haus-
mädchen muss per Gesetz in den vier
Wänden ihres Sponsors leben und darf
nicht ausserhalb arbeiten. Doch weil es
eine Nachfrage nach billigenTeilzeit-
hilfskräften gibt,existiert auch ein infor-
melles Netzwerkvon Agenten, die den
Mädchen gegen entsprechende Bezah-
lung dieAufenthaltsbewilligungen be-
sorgenkönnen.
Mit demTeilzeitmodellkönnen sich
die ausländischen Hausangestellten der
ständigen Überwachung ihres Schutz-
herrn entziehen und im Stundenlohn
ungefähr das Doppelte verdienen als
die sonst maximal möglichen 400 Dol-
lar im Monat. Allerdings müssen sie
dann auch selbst für ihre Unterkunft
und Verpflegung aufkommen. Und sie
sind jedesJahr auf die Güte ihres vor-
dergründigen Sponsors angewiesen, ihre
Papiere zu verlängern.Wie riskant dies
sein kann, zeigt das Beispiel der 55-jäh-
rigen Chandralatha Gedara.Vor drei
Jahren gab sie ihremVermittler 1300
Dollar für die Erneuerung ihrerAuf-
enthaltsbewilligung. Doch dieser ver-
schwand mitten in dem bürokratischen
Hürdenlauf mit dem Geld.Gedara hatte
ihrenPass bereits bei der zuständigen
Behörde eingereicht.An ihnkommt sie
seither nicht mehr heran und lebt in
der Illegalität.
Wendet sich Gedara an die staat-
lichen Stellen, droht ihr dieVerhaftung.
Zudem hat sich mit jedemTag ihres
papierlosen Aufenthalts ein saftiges
Bussgeld angesammelt – voraussichtlich
rund1500 Dollar. In einem noblenVier-
tel von Beirut lebt sie gemeinsam mit
drei anderen Hausangestellten in einem
dunklen und feuchtenKellerraum. Ein-
zig ein kleines Gitterfenster spendet
etwasTageslicht. «ImWinter ist es sehr
kalt», sagt Gedara.Aus Angst verlässt
sie ihreNachbarschaft nie allein, nur in
Gruppen mit anderen Migrantinnen.Für

GedenkenanLembiboaus Äthiopien. Sie wurde tot in einemSwimmingpool aufgefunden.


Asoka kam aus Sri LankanachBeirut. Die Äthiopierin Bizufloh vor ihrem Arbeitgeber.


Die 31-jährige Salika streichelt ihreTochter.Sie stammt aus Sri Lanka und lebtseit 11Jahren in Libanon.


Hausangestellte geniessenmit ihren Kindern einen freienTag in einemBeiruter Gemeinschaftszentrum.


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