Neue Zürcher Zeitung - 08.10.2019

(Steven Felgate) #1

INTERNATIONALIDienstag, 8. Oktober 2019 Dienstag, 8. Oktober 2019 NTERNATIONAL


fünf Dollar die Stunde putzt sie tagsüber
Wohnungen in Laufdistanz. Abends
macht sie in einer Apotheke sauber.

Verbotene Schwangerschaft


FürWalakadawarendieerstendreiJahre
als Freelanc erin problemlos.Auch wenn
sie die 800 Dollar imJahr für ihreAuf-
enthaltsbewilligung und eine einmalige
Bankeinlage von 1000 Dollar selbst be-
zahlen musste. Doch dann geschah, wo-
vor sich in Libanon viele Sponsoren
fürchten:Walakada lernte einen Mann
kennen,heirateteihnundwurdeschwan-
ger. Um eine Hausangestellte insLand
zu holen, bezahlen Sponsoren meist
mehrere 1000 Dollaran eineVermitt-
lungsagentur.Diese Anfangsinvestition
lohnt sich nur, solange die Bedienstete
arbeitsfähigist und nicht davonläuft.
Ein Kind zu bekommen, ist für aus-
ländische Hausangestellte illegal.Ausser
in dem unwahrscheinlichenFall, dass ein
Paar den gleichen Sponsor hat und ge-
meinsam in seinem Haus lebt. «Ich hatte
nicht die Absicht zu heiraten», beteuert
Walakada unterTränen. Aber ihrWeg
zurArbeit führte stets an einerTankstelle
vorbei. Und dort warf ein sudanesischer
Tankwart einAuge auf sie. Die beiden
begannen eine Beziehung. «Aber in mei-
nem Freundeskreis wurde gelästert, weil
ich mit dem Mann nicht verheiratet war.»
Also schlossWalakada mit ihm den Bund
fürs Leben und wurde zwei Monate spä-
ter schwanger. «Ich wolltekeine Kinder,
es ist einfach passiert.»Für sie kam zu-
nächst nur eineAbtreibung infrage, doch
ihren Mann plagten Schuldgefühle.Wa-
lakada nahm ihren Mut zusammen, er-
zählte ihrem Sponsor von ihrer Situation
und war vonseiner Reaktion überrascht:
«Er gratulierte mir.»
Aber das Glück blieb der Gastarbei-
terin nicht lange treu. Ihr Sponsor be-
kam kalteFüsse und änderte seine Mei-
nung: «Jemand sagte ihm, dass mein

Kind seineVerantwortung sein werde.»
Die ersten drei Monate vonWalakadas
Schwangerschaft waren zu diesem Zeit-
punktbereits vorbei,eine Abtreibung
kam nicht mehrinfrage, und ohne ihren
Sponsor lief dieAufenthaltsbewilligung
aus. Eine andereFrau aus SriLanka
habe ihr versprochen, das Problem mit
den Papieren für 1000 Dollar zu lösen,
erinnert sie sich. In der Not gab sie ihr
das Geld, doch dieFrau verschwand
spurlos damit.
Dasalles trug sich vor zehnJahren zu.
Walakada hat mittlerweile eine zweite
Tochter. Zur Schule dürfen ihre beiden
Kinder eigentlich nicht gehen.«Durch
persönliche Beziehungen ist es trotzdem
möglich.» Aber was wird in Zukunft aus
ihnen? Die 42-Jährige würde gerne zu-
rück nach SriLanka gehen; sie hat ihre
Mutter seit zehnJahren nicht mehr ge-
sehen, ihrVater ist in dieser Zeit ge-
storben. Doch bei einerAusreise droht
ihr dieVerhaftung. Sie müsste mehrere
tausend Dollar Bussgeld bezahlen und
würde später womöglich ohne ihre Kin-
der deportiert. Ihr Mann und ihreTöch-
ter haben die sudanesischeStaatsbürger-
schaft. OhneVisum können sie der Mut-
ter nicht nach SriLanka folgen. «Ich will
meine Kinder nicht verlieren», sagt Wa-
lakada schluchzend.«Wenn der Sponsor
uns betrügt oder missbraucht, passiert
nichts. Wir tragen immer die Schuld.»
Walakadas ausweglose Situation
ist kein Einzelfall.Das Kafala-System
zwingt viele der geschätzt250 000Haus-
angestellten in Libanon in menschliche
Notlagen.Fast immer wird ihnen vom
Sponsor derPass abgenommen. Ge-
mäss einer Erhebung der Internatio-
nalenArbeitsorganisation (ILO) erhält
die Hälfteder Dienstmädchenkein eige-
nes Zimmer. Sie schlafen imWohnzim-
mer, in derKüche oder auf derVeranda.
Bizuayhou Sisay wurde während sechs
Monaten von ihrem Arbeitgeber in der
Wohnung eingeschlossen, sexuell beläs-

tigt und erhielt in den ersten drei Mona-
ten keinen Lohn.Weil sie zu wenig zu es-
sen bekam, trank sie Zuckerwasser, um
den Hungerzu stillen. «Ich fühlte mich,
als ob ich in Äthiopien einVerbrechen
begangen hätte und dafür in Libanon ins
Gefängnis gesteckt wurde.»

Selbstmordoder Flucht


Sisay dachte an Selbstmord. Siekönnte
Lösungsmittel trinken oder sich von
dem hohenBalkon derWohnung stür-
zen. Schliesslich aber gelang ihr nach
einem halbenJahr die Flucht. Sie wurde
zur Aktivistin,besuchte regelmässig
Missbrauchsopfer im Spital und nahm
an Demonstrationen teil. In ihrer äthio-
pischen Community seien in den ers-
ten fünf Monaten diesesJahres bereits
35 Todesopfer gezählt worden, erzählt
Sis ay. Das wäre mehr als eine Leiche
proWoche. Die Zahl scheint etwas hoch
gegriffen,aber nicht unrealistisch. Die
Mehrheit der Hausmädchen in Liba-
non stammtaus Äthiopien. Auch die
internationale Menschenrechtsorga-
nisation Human RightsWatch zählte
im Jahr 2008 mehr als einTodesopfer
proWoche. In übervierzigProzent der

Fälle handelte es sich um einen Selbst-
mord. Und gemäss Sisay verschlimmert
sich das Problem weiter:«Am Ende des
Tages werden die Täter nicht bestraft.»
Die Sozialarbeiterin Ghinaal-An-
dary bestätigt den Zustand derRecht-
losigkeit. Die Nichtregierungsorganisa-
tion Kafa (genug), für die Andary tä-
tig ist, betreibt eine Notunterkunft für
misshandelte Hausmädchen.«JedesJahr
nehmen wir zirka fünfzigPersonen auf,
aber nur sehr wenige entscheiden sich,
eine Anzeige zu erstatten.» Die einen
würden dasLand möglichst schnell ver-
lassenwollen, den anderen sei es wich-
tiger, weiter arbeiten zukönnen. Der
Rechtsweg ist derweil äusserst lang und
wenig erfolgversprechend:«Wir haben
Fälle, die seit 2010 auf ein abschliessen-
des Urteil warten.» Nur vereinzelt hät-
ten Opfer eine Entschädigung erhalten,
eine Gefängnisstrafe aber habe es noch
nicht gegeben.
«Die Zahl der gemeldeten Missbräu-
che nimmt zu»,sagt Andary.Aber der
Grund dafür müsse nicht unbedingt ein
Anstieg der Gewalt sein. «Die meisten
Anrufe erhalten wir von Libanesen.Das
könnte darauf hinweisen, dass die Be-
völkerung stärker für dasThema sensi-
bilisiert ist.»Auch von derPolizei und
der Generaldirektion für Sicherheit gin-
gen mehr Meldungen ein. Und auch auf
politischer Ebene tut sich etwas.Das
Arbeitsministerium hat eineTask-Force
eingesetzt,in derauch Kafa vertreten ist.
«Wir spüren zum ersten Mal einen wirk-
lichenWillen,das Problem anzupacken»,
erklärt Andary.
Im vergangenenJahr habenvor allem
zwei medienwirksameFälle den Druck
auf diePolitik erhöht. Im April sprang
eine 20-jährige Äthiopierin vomBal-
kon ihres Arbeitgebers und brach sich
beide Beine. Im September wurde eine
weitere jungeFrau aus Äthiopien tot im
Swimmingpool ihresVermittlungsagen-
ten gefunden. Sie hatte eine Schwan-

gerschaft hintersich, das Kind war aber
kurz nach der Geburt gestorben.

Populäre Ausbeutung


Das sehr enge Verhältnis zwischen
einem Sponsor und seiner Hausange-
stellten bringeProbleme mitsich, ge-
steht GeorgesAyda, der Generaldirek-
tor desArbeitsministeriums.«Wir wollen
das Kafala-System aber nicht abschaffen,
sondernreformieren»,betont er.Unter
anderem soll künftig nicht mehr der
Hausherr der Sponsorsein, sondern die
Vermittlungsagentur. Damit wäre es den
Hilfskräften auch erlaubt, ihrenWohn-
sitz frei zu wählen und für verschiedene
Arbeitgeber tätig zu sein. Eine solche
Reform geht Kafajedoch zu wenig weit:
«Auch wenn dieAufenthaltserlaubnis
von einerAgentur statt von einerPerson
abhängt, kann diesimmer noch zu Miss-
brauch undAusbeutung führen, falls die
Angestellten nichtfrei sind,ihre Stelle zu
wechseln»,sagtAndary. Um das Problem
zu lösen,dürften die Bewilligungen nicht
an eine bestimmtePerson oder Agentur
geknüpft sein.
Dies aber wäre das Ende des Kafala-
Systems.Trotz hochtrabendenReform-
versprechen in verschiedenen arabi-
schenLändern, vor allem in den Golf-
staaten, hat nochkeines diesen mutigen
Schritt gewagt. Anfänglich grosse An-
kündigungen wurden stets verwässert,
weil dasSystem selbst bei einer Mehr-
heit populär ist. Es garantiert den Zu-
gang zu billigen Arbeitskräften und ver-
hindert gleichzeitig, dass sich die auslän-
dischen Migranten langfristig integrieren
können.Trotzdem hofft die verzweifelte
Walakada, dass der öffentliche Druck in
Libanon zuReformen führt.Deshalb hat
sie den Mut aufgebracht,ihre Geschichte
hier zu erzählen. «Danke, dass Sie mir
zugehört haben.Ich bin erleichtert», sagt
die Putzfrau aus SriLanka zum Schluss.
«Es muss sich etwas ändern.»

Eineverletzte Hausangestellte wirdineinemBeiruter Spitalgepflegt.


Selten könnendie Arbeitsmigrantinnenein paar unbeschwerte Stunden erleben.


Im Mai protestierten Gastarbeiterinnen und GastarbeiterinBeirutgegendas umstrittene Kafala-System.


Eine afrikanischstämmige Migrantin führtden Hund ihresArbeitgebers imBeiruterViertel Achrafieh Gassi.


Das System garantiert


den Zugang zu billigen
Arbeitskräften und

verhindert gleichzeitig,
dass sich die

ausländischen
Migranten langfristig

integrieren können.


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