Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
DIE ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


NACH DEM KLIMAGIPFEL URTEIL ZU HASSKOMMENTAREN

Entgegen den allgemeinen Befürchtungen wäre die Klimawende


auch eine große Chance für Deutschland VON UWE JEAN HEUSER


Das Landgericht Berlin verwechselt übelste Beleidigungen mit sachbezogener


Kritik. Die Justiz kann, ja muss die Freiheit besser schützen VON JOCHEN BITTNER


Die Neugier nutzen Zum Schämen


W


ährend sich das Urteil über
den deutschen Klimaplan
noch einpendelt, ist eines
offensichtlich: Die Bundes-
regierung hat aus schierer
Furcht gehandelt. Sie fürch-
tet, das räumen selbst Merkels Getreue ein, den
Wähler und die Wirtschaft. Die Volksproteste der
Gelbwesten gegen die französische Ökosteuer
standen den deutschen Politikern vor Augen, auf
keinen Fall wollte die große Koalition dem Popu-
lismus neue Nahrung schenken. Und auch die
Unternehmen sollen geschont werden, damit sie
ja keine Jobs abbauen. Bissig wird der Klimaplan
daher frühestens im Jahr 2026, wenn der Ausstoß
des Klimagases CO₂ zum ersten Mal ernsthaft
beschränkt werden soll.
Furcht ist freilich nie ein guter Ratgeber für
Reformer, schon gar nicht für solche, die zornige
Jugendliche für sich gewinnen wollen – 2026 wird
Greta Thunberg 23, ihre deutsche Mitstreiterin
Luisa Neubauer gar 30 Jahre alt. So haben sich die
Ikonen des Streiks das mit der Klimarettung nicht
vorgestellt. Am Ende werden aus den demons-
trierenden Schülern von heute womöglich noch
die Protestwähler von morgen.

In der Debatte treffen konservative
Bedenkenträger auf linke Verzichtprediger

Mindestens ebenso schwer wiegt: Deutschland ver-
dirbt sich mit den zaghaften Beschlüssen die Chan-
ce, bei der nächsten großen wirtschaftlich-techni-
schen Revolution vorneweg zu laufen. Dieses Ele-
ment des Neuen, Kühnen, ja Visionären geht in
der defensiven deutschen Debatte unter.
Dort treffen vor allem konservative Bedenken-
träger (Klimaschutz ja, aber nicht jetzt!) und linke
Verzichtprediger (zurück ins Weniger!) aufeinander,
die Jungen mit ihrem Start-up-Denken und ihrem
ansteckenden Optimismus spielen nur eine unter-
geordnete Rolle. In dem ritualisierten Streit gerät
völlig aus dem Blick, dass die zwangsläufig ökolo-
gisch geprägte Zukunft den großen Nationen die
Gelegenheit zu einem neuen, nachhaltigen Wohl-
stand bieten wird.
Für diese Zukunft aber werden Innovationen
gebraucht, egal ob es um alternative Antriebe, das
Auffangen und Weiternutzen von CO₂ oder klima-
schonendes Bauen geht. Klimaschutz ist kein Null-
summenspiel, im Gegenteil: Es gibt viel zu gewin-
nen. Und wer, wenn nicht das Land der Ingenieu-

re und Tüftler, sollte zu den maßgeblichen Ideen-
gebern und Entwicklern gehören?
Es gilt also nicht, den Kapitalismus zu stoppen,
sondern seine mitunter unbändige Veränderungs-
kraft und seine Gier nach Neuem für das Klima zu
nutzen. Vor 20 Jahren war das in Deutschland
schon einmal so. Damals war die heimische Um-
weltindustrie weltweit führend und schuf Jobs, in
Berlin führte die rot-grüne Bundesregierung die
Ökosteuer ein.
Als Anfang des neuen Jahrtausends nach der
Euphorie der Wiedervereinigung der große Ab-
schwung drohte, gab das Land seine grüne Füh-
rungsrolle auf. Heute sind andere Weltregionen
weiter, Skandinavien, Kalifornien, in Teilen auch
China. Die umweltbewussten, Müll trennenden
Deutschen können den Wettbewerb erneut auf-
nehmen, nur haben sie dafür nicht noch einmal
20 Jahre Zeit. Die richtigen Rahmenbedingungen
(vor allem schnell steigende CO₂-
Preise) müssen ausgesprochen rasch
Wirklichkeit werden.
Populisten mit Verzagtheit zu
begegnen war noch nie ein wirk-
sames Rezept. Populismus be-
kämpft man durch Überzeugung,
und nirgends ist sie so gefragt wie
bei der Klimawende.
Natürlich, das wäre ein gewal-
tiges Unterfangen, ein nationales
Projekt mit Lasten und Chancen
für jeden. Am ehesten gelänge dies, wenn das Not-
wendige nicht versteckt oder vertagt würde, son-
dern möglichst viele Menschen an dem Wandel
teilnähmen. Eine allumfassende Wende, die nicht
nur einige etwas kostet, sondern alle etwas angeht –
dazu sollte die Regierung stehen und die Bürgerin-
nen und Bürger vom Schulkind bis zur Rentnerin
mitziehen.
Die Gelegenheit bietet sich in einer Zeit, in der
das alte Erfolgsmodell – Deutschland als Maschi-
nenlieferant für die Globalisierung – ausläuft. Das
Internet und die Handelskonflikte verändern die
Bedingungen. Also braucht der jahrelange Export-
weltmeister eine neue, nachhaltige Idee.
In der digitalen Revolution sind die Deutschen
nur Nachzügler, ebenso beim Wandel hin zur
Gleichheit der Geschlechter. Bei der dritten, wahr-
scheinlich größten und existenziellsten Umwälzung
unserer Zeit sollte das nicht wieder geschehen.

A http://www.zeit.deeaudio

G


inge es nach ihren eigenen ju-
ristischen Maßstäben – wie
dürfte man dann den Richter
und die beiden Richterinnen
des Landgerichts Berlin nennen,
die soeben befunden haben, es
sei keine Beleidigung, die Grünen-Politikerin
Renate Künast als »Stück Scheiße« zu beschimp-
fen? Die die Bezeichnung »Sondermüll« als »sach-
bezogene Kritik« bezeichnen?
Schon diese Frage zeigt, dass die Entscheidung
keinen Bestand haben darf. Der Fall der nicht ver-
teidigten Ehre der Renate Künast, die versucht
hatte, sich gegen eine Flut von Diffamierungen
auf Face book zu wehren, führt aber weiter. Es geht
um eine größere Frage: Hat die deutsche Justiz
eigentlich begriffen, wie zerstörerisch Beleidigun-
gen wirken, die in enthemmenden sozialen Netz-
werken in die Welt geschrien werden, und wie viel
mehr sie heute bedrohen als die
Ehre Einzelner?
Der geltende Beleidigungs-
paragraf ist ein Fossil des Straf-
rechts. Er stammt aus dem Jahr
1871, aus einer Zeit also, in der es
weder Demokratie noch Internet
gab. Generationen von Juristen
lernen bis heute eine völlig anti-
quierte Definition der »Beleidi-
gung«: ein Angriff auf die Ehre
einer Person durch Kundgabe von
Missachtung. Die Ehre? Im Kaiserreich verstand
man darunter etwas, das am besten per Pistolen-
duell im Morgengrauen wiederherzustellen sei.
Diese Idee erscheint heute nicht nur lächerlich;
mittlerweile kann die Verteidigung der Ehre sogar
strafverschärfend wirken, etwa beim sogenannten
Ehrenmord. Der Begriff hat sein Haltbarkeits-
datum also deutlich überschritten.

Durch Algorithmen werden
Beleidigungen im Internet zu Lawinen

Eine Beleidigung verpufft heute nicht mehr mit
ihrer Äußerung. Im Gegenteil, beleidigende
Kommentare überdauern im Netz und lösen la-
winenartig weitere Beleidigungen aus. Mitver-
antwortlich dafür sind Algorithmen, die Emo-
tionalität und Empörung mit besonderer Auf-
merksamkeit belohnen. Wer einmal einen Shit-
storm erlebt hat, wird ihn als eine Form psy-
chischer Gewalt empfunden haben.

Unter der Einschüchterungswirkung, die da-
mit verbunden ist, kann nicht nur die Mei-
nungsfreiheit leiden. Der Fall des ermordeten
Regierungspräsidenten Walter Lübcke zeigt, wie
fatal das Zusammenspiel zwischen Online-
Schmähungen und tödlicher Gewalt sein kann.
Und welch leichtes Spiel Freiheitsfeinde in ge-
spaltenen Gesellschaften haben, in denen die
jeweils andersdenkende Seite zur nationalen
Gefahr erklärt wird, beweisen gerade Amerika,
die Türkei und Russland.
Der Schutzzweck des deutschen Beleidigungs-
paragrafen ist nie an die Verhältnisse der repräsen-
tativen Demokratie in einer digitalisierten Gesell-
schaft angepasst worden – weder im Wortlaut noch
in seiner Auslegung. Natürlich, »Ehre« lässt sich
auch modern interpretieren, als Ausprägung der
Menschenwürde, die jedem Menschen einen
Anspruch auf Achtung garantiert.
Die Berliner Richter sahen eine Verletzung des
Achtungsanspruchs von Renate Künast allerdings
nicht. Sie müsse »als Politikerin in stärkerem Maße
Kritik hinnehmen«. Das stimmt im Grundsatz.
Die Meinungsfreiheit endet aber dort, wo höher-
rangige Interessen verletzt werden. Als Frau nicht
zum Sexualobjekt verdinglicht zu werden zählt
auch bei politisch Verantwortlichen dazu.
Zum Achtungsanspruch kommt aber ein
zweites Rechtsgut, das die Justiz stärker schützen
muss: das Zutrauen der Bürgerinnen und Bürger
darin, dass der Staat sich zwischen sie und einen
Online-Mob stellt und dass das Legitime dem
Unflätigen nicht zu weichen hat. Die Justiz muss
den Beleidigungsparagrafen daher klüger hand-
haben, als dessen pferdekutschenfahrende Schöp-
fer im 19. Jahrhundert ihn je konzipiert hätten.
Wenn in einer offenen Gesellschaft politisches
En gage ment zum Risiko wird, dann steht diese
Gesellschaft selbst auf dem Spiel. Wer schließlich
soll in ihr noch antreten als »Repräsentant«? Nar-
zissten, denen jede Art von Aufmerksamkeit recht
ist, oder Gestalten, die von der Vergröberung des
Diskurses profitieren, zu der sie selbst beitragen?
Auf diesem abschüssigen Weg befindet sich in
Deutschland eine erhitzte Rechte ebenso wie eine
Linke, die inflationär mit »Nazi«-Beleidigungen
um sich wirft. Das Strafrecht kann Freiheit schüt-
zen. Es muss dies entschlossener tun, weil es um
eine Grundbedingung der Demokratie geht: um
die Freiheit, angstfrei streiten zu können.

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Greta in


New York


NEUSTART


ODER


V E R R AT?


War es das wert,


Herr Maaßen?


Wieso der Auftritt


der jugendlichen


Aktivistin an Martin


Luther erinnert
Politik, Seite 4

Interview mit


Matteo Renzi über


die italienische


Linke, die er jetzt


spaltet
Politik, Seite 3

Ein Streitgespräch


zwischen Hans-


Georg Maaßen und


Gerhart Baum
Streit, Seite 10

Der frisch gekürte Welttrainer Jür-
gen Klopp spendet künftig ein
Prozent seines Gehaltes an Com-
mon Goal, eine Initiative, die welt-
weit soziale Projekte mit Bezug
zum Fußball fördert. Damit landet
Kloppo allerdings nur auf Platz
zwei unter den deutschen Fußball-
Lehrern: Julian Nagelsmann spen-
det bereits seit 2017. Ein künftiger
Welttrainer schlägt den aktuellen.
Glückwunsch! PED

Welt k la s se


PROMINENT IGNORIERT

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der ZEIT erscheint wegen des
Tags der Deutschen Einheit
schon am Mittwoch,
dem 2. Oktober 2019

Die nächste Ausgabe


Warum der Mensch


Handy und Computer verdrängen Stift und Papier. Dabei zeigen neue Erkenntnisse


der Hirnforscher: Die Schrift formt das Denken und öffnet den Geist


WISSEN SEITE 43–45 UND ZEIT LEO SEITE 54

Titelillustration: Till Lauer für DIE ZEIT


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