Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Von WOLFGANG BAUER Fotos IRINA ROZOVSKY


Am Morgen, der einer langen und stickigen Nacht nach-


folgt, die die meisten Schaulustigen schlaflos auf dem Park-
platz verbrachten, in ihren Autos, auf ihren Klappstühlen,


als die Geduldigen eingelassen und die Zuspätgekommenen
vor der Tür abgewiesen wurden, betritt er mit unsicherem


Gang die Kirche. Das Haar dünn wie Gespinst mittler weile,
so schlohweiß, dass es fast durchsichtig ist. Den Rücken tief


gebeugt. Ruckartig schiebt er sich voran. Er hält nach einigen
Schritten inne, um sich dann wieder in Bewegung zu setzen.


Er hebt zur Begrüßung die Hand und dreht seinen Kopf
zur Menge hin. Seine Augen, einst strahlend blau, sind im


hohen Alter milchig geworden. Er lächelt das breite Lächeln,
an dem man ihn jahrzehntelang erkannte und mit dem


er einst die Nation für sich gewann. Die Menge aus über
400 Gottesdienstbesuchern würde an dieser Stelle applau-


dieren, doch das hat man ihnen zuvor untersagt. Der Prä-
sident hasst es, wenn man ihm in der Kirche Beifall klatscht.


»Guten Morgen«, sagt er.
»Guten Morgen«, ruft die Menge artig zurück.


Jimmy Carter, US-Präsident von 1977 bis 1981, den alle
hier immer noch »Mr. President« nennen und der am 1. Ok-


tober 95 Jahre alt wird, geht zu seinem Platz auf der Kir-
chenbank. Die Hand seiner Frau Rosalynn fest in der sei-


nen. Sie wird demnächst 92 Jahre alt. Stöhnend, aus etwas
zu großer Höhe, lässt er sich krachend ins Gestühl fallen. Ein


Morgen im August, im US-Bundesstaat Georgia, in Plains,
einem kleinen Dorf im armen Süden. Kein Präsident in der


Geschichte der USA ist je so alt geworden. Die Carters sitzen
in der ersten Reihe, vorm Altar ganz rechts in der Kirche, wo


die Plätze den Gemeindemitgliedern der Maranatha Baptist
Church vorbehalten sind. Beide Carters sind als Baptisten


sogenannte Wiedergeborene, sie gehören zu der wichtigsten
protestantischen Glaubensbewegung in den USA.


Jimmy und Rosalynn Carter wurden in Plains geboren,
schon ihre Eltern stammten aus Plains und deren Eltern da-


vor. Nachdem er im Wahlkampf 1980 von Ronald Reagan
geschlagen wurde, beschlossen sie, aus dem Weißen Haus


hierher zurückzuziehen, in die tiefe Provinz, in den 776-Ein-
wohner-Ort Plains.


Der 39. Präsident der Vereinigten Staaten und seine Frau
zogen in ihr altes Haus, das sie 1961 gebaut hatten, als


er noch Erdnussfarmer war. Ein Haus, wie es viele Land-
wirte hier in der Gegend haben. Gutachter haben es vor


wenigen Jahren im Auftrag der US-Regierung auf 167.000
Dollar geschätzt, das ist weniger, als eines der gepanzerten


Fahrzeuge des Secret Service kostet, die zur Bewachung
der Carters abgestellt sind. Er ist der letzte lebende Be-


wohner des Weißen Hauses, der mit dem Glanz seines
früheren Amtes nicht Millionen zu scheffeln versuchte.


So wie es etwa Bill Clinton oder Barack Obama taten, die
für ihre Vorträge jeweils mehrere Hunderttausend Dollar


verlangen. Jimmy Carter hält seine Reden umsonst, in
einer Dorfkirche. Sie ist nicht viel mehr als ein nüchterner


Zweckbau. Roter Backstein. Sechs Fenster zu jeder Seite,
gekrönt von einem weißen Dachreiter. Links wird die Kir-


che durch ein Baumwollfeld begrenzt, rechts durch einen
verwahrlosten Trailerpark. Jeden zweiten Sonntag gibt der
Altpräsident hier eine Stunde lang Bibelunterricht. Ohne
politisches Kalkül. Und bis vor wenigen Jahren hatte der
präsidiale Gottesdienst nur wenige Gäste interessiert.
Carter war mit zunehmendem Alter in Vergessenheit gera-
ten. Ein Greis wie aus einer anderen Zeit, ein spaßfreier Bap-
tist, Autor zahlreicher Titel von Erbauungsliteratur. Für viele
eine Witzfigur. Unter politischen Beobachtern galt dieser
Präsident der Demokratischen Partei als gescheitert. Seine
Amtszeit war geprägt von der Energiekrise der Siebziger-
jahre, von Schlangen vor den Tankstellen, von dem fehlge-
schlagenen Versuch, 1980 mit einem Kommandounterneh-
men amerikanische Geiseln aus der US-Botschaft in Teheran
zu befreien. Carter war ein Außenseiter im Weißen Haus,
der nie die Kontrolle über die Verwaltung gewann.
Doch dann wurde 2016 der Milliardär Donald Trump ins
Weiße Haus gewählt. Seither pilgern wieder Menschen nach
Plains. Sie entdecken einen anderen Carter, einen, der schon
1976 forderte, erneuerbare Energien auszubauen, der Frie-
den stiftete zwischen den Erzfeinden Ägypten und Israel.
Der massiv für Minderheitenrechte eintrat, früh die Gleich-
berechtigung von Frauen förderte, den Umweltschutz. Der
in seiner Amtszeit als einziger Präsident der neueren Ge-
schichte keinen Krieg führte. Der Prophet von Plains. Nie
war die Kirche so voll. In ihm sehen sie, was sie in der Person
des Amtsinhabers Donald Trump so sehr vermissen: einen
guten Menschen.
Die Zeitanzeige auf der Livestream-Seite, die die Baptisten-
kirche in Plains betreibt, um möglichst viele Menschen auf
der ganzen Welt zu erreichen, die die Stunden und Minuten
bis zum jeweils nächsten Gottesdienst mit Jimmy Carter
zählt, wechselt jetzt, um zehn Uhr, zurück auf 00.00.00.
In der Kirche hinter den Carters sitzen Gemeindemitglieder
und Freunde. Die Frau des Bürgermeisters, Betty Godwin,
74, in ihrem schönsten Kostüm. Ihr Mann, Boze, wie sie ihn
alle nennen, 76, seit 1982 das Stadtoberhaupt, steht hinter
der Kamera, die den Gottesdienst live ins Internet über-
trägt. Kim Fuller, Carters Nichte, 67, pensionierte Lehrerin,
stimmt die Gebete an. Eine andere Nichte, Altenpflegerin,
hilft als Ordnerin. Ein Neffe fotografiert. Carters schwarze
Haushälterin Mary Prince, die die Familie schon ins Weiße
Haus begleitet hat, ihrerseits auch schon 76, verteilt Flyer
mit dem Gottesdienstprogramm. Carter hatte sie vor 50
Jahren als Gouverneur von Georgia begnadigt, als sie wegen
Mordes verurteilt worden war. Hollywood plant derzeit, eine
Verfilmung ihres Lebens in die Kinos zu bringen. Ganz hin-
ten, in der letzten Reihe, sitzt Jill Stuckey, die in Plains nur
wenige Häuser von den Carters entfernt wohnt, eine gute
Freundin, in deren Küche sie jeden Samstag zu Abend essen.
»Sie essen, was auf den Tisch kommt«, sagt Stuckey, 58. »Sie
sind nicht wählerisch.«
Es gibt in der Geschichte der USA wohl keinen Präsiden-
ten, der so mit einem Dorf verwuchs wie Carter, und kein
Dorf, das sich so sehr einen Präsidenten einverleibte wie

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