Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Plains. Zwei Ereignisse treiben in diesen Wochen die Ge-


meinde gleichzeitig um: die Festvorbereitungen zu seinem



  1. Geburtstag am 1. Oktober und die Planungen für seine


Beerdigung.
»Wie stellt ihr euch das Königreich Gottes vor?«, fragt Carter


in seiner Bibelstunde. Bis Anfang des Jahres hatte er darauf
bestanden, die Gemeinde 45 Minuten lang im Stehen zu


unterrichten, jetzt schafft er es nicht mehr. Im Mai hat er
sich bei einem Sturz zu Hause die Hüfte gebrochen. Er sitzt


auf einem speziell angefertigten Hebestuhl, weiß ausgepols-
tert mit zartrosa Rändern, mit dem er sich elektrisch nach


oben fahren lassen kann. Er will den Blickkontakt zu sei-
nem Publikum. Die Anstrengung ist ihm anzumerken. »Was


kommt euch als Erstes in den Sinn?«, fragt er.
»Vergebung.«


»Gnade.«
»Mitgefühl.«


Carter wiederholt die ihm zugerufenen Begriffe, nickt sie
freundlich ab und entgegnet: »Ich hätte Frieden gesagt.


Keiner von euch hat den Frieden genannt. Frieden. Wäre
es nicht großartig, wenn die Menschen auf der Welt sagen


würden, lasst uns nach Washington gehen, die wissen dort,
wie man den Frieden bewahren kann?« Er lacht, und die Zu-


hörer schließen sich seinem Lachen an, erleichtert. Carters
Bibelstunde hat für die meisten etwas Kathartisches. Eine Art


Teufelsaustreibung, die Reinigung ihrer Seelen von Trump.
Der Chor singt. Der neue Pastor Tony Lowden, der erste


Schwarze, der in der Geschichte dieser Kirche predigt, erst
im Juni von Carter geholt, hält eine kurze Predigt. »Wir


lieben euch alle, und es gibt nichts, was ihr dagegen tun
könnt.« Fotos werden gemacht. Die Carters posieren gedul-


dig eine halbe Stunde auf Stühlen, die neben den Altar ge-
schoben werden. Die Regeln, die zuvor ausgerufen wurden:


»Sprecht sie nicht an! Berührt sie nicht!« Dann leert sich
der Parkplatz rasch. Die meisten verlassen Plains, ohne zu-


vor noch einmal anzuhalten. Nur wenige Touristen irren
ziellos durch das Zentrum, das aus einer einzigen Gebäude-


zeile besteht, einem Carter-Andenken-Laden, einem Anti-
quitätengeschäft, einem Erdnussladen, den früher Carters


Onkel Buddy führte, und einem Restaurant, das sonntags
geschlossen hat. Gegen Mittag ist das Dorf wieder sich


selbst überlassen.
Die Augusthitze liegt über dem leeren Ort. 17 Straßen gibt es


in Plains und eine Hauptstraße, die Church Street heißt. Elf
Kirchen auf 776 Einwohner. Hübsche viktorianische Häuser


im Zentrum, Trailer im Außenbereich. Eine Bahnlinie, auf
der nur noch selten Frachtzüge verkehren, teilt den Ort in


zwei Hälften, die wenig mit ein an der zu tun haben. Im Nor-
den wohnen die Weißen, im Süden die Schwarzen. In Plains


ist die Rassentrennung noch weitgehend intakt, wie in vielen
Kommunen in Südgeorgia. »Das ist der Süden«, sagen sie


hier, zustimmend oder resignierend. Die einzigen Orte, an
denen sie im Dorf zusammenkommen, sind die Regalreihen


des »Dollar General«-Supermarktes und die Tankstelle, an
der Leteyvia Murray, 37, arbeitet, die sagt: »Ich erkenne die


Rassisten unter den Weißen auf den ersten Blick. Du siehst
es in ihren Augen. Sobald sie hereinkommen. Den Hass.«
»Was wird aus uns werden, wenn Jimmy nicht mehr ist?«,
fragt Betty Godwin an diesem Sonntagabend in ihrem Haus
in der Church Street ihren Gatten Boze, den Bürgermeister,
kurz bevor sie ihre Schlaftablette nimmt. Seit Langem kann
sie ohne Tabletten nicht mehr einschlafen. »Er hat heute
wieder so schwach gewirkt«, sagt sie. »Ich weiß es nicht«,
sagt Boze. Das Dorf hängt wirtschaftlich vom Carter-Tou-
rismus ab. Niemand in Plains kann sich an eine Zeit vor
Jimmy Carter erinnern. Sie alle haben Angst, dass nach dem
Tod der Carters der Tourismus zusammenbrechen wird. Seit
seinem Hüftbruch im Mai drehen sich in Plains die Diskus-
sionen oft um die Frage: Wie lange bleibt den Carters noch?
Wie lange noch bleibt Plains?
Auf der anderen Straßenseite sitzen Jill Stuckey und ihre
Mitbewohnerin Andrea Walker in der Küche bei einem
Glas Rotwein. Am Vorabend haben sie hier für die Carters
gekocht. Ihre Gläser stehen noch in der Spüle. »Ich bin zu
müde heute«, sagt Stuckey. Andrea Walker müht sich auf
dem Laptop mit der Unterrichtsvorbereitung für die Schu-
le ab. Sie ist Lehrerin in der siebten Klasse der Highschool
in der Nachbarstadt Americus. Mehr als die Hälfte ihrer
Schüler, sagt sie, sei drogenabhängig. »Ein Albtraum«, sagt
sie, gegen 21 Uhr klappt sie den Laptop zu, um ins Bett zu
gehen. Auch sie hat Schlafprobleme. Auch sie nimmt Tab-
letten. Beide Frauen sind früh verwitwet. Walkers Ehemann
starb an Krebs, Stuckeys Mann wurde von einem Truck
überfahren. Jimmy Carter hielt in der Maranatha-Kirche die
Trauerrede, das war vor zehn Jahren. Mittlerweile leitet Stu-
ckey die »Jimmy Carter National Historic Site«, die 1981
durch Erlass des US-Kongresses gegründet wurde. Üblicher-
weise werden nach der Amtszeit von US-Präsidenten ihre
Wohn- oder Geburtshäuser der Nationalparkverwaltung in
Washington unterstellt und zu Museen umgebaut. Im Fall
von Jimmy Carter geschah dies mit einem ganzen Dorf.
Bis weit nach Mitternacht bleibt Leteyvia Murray, die Frau
von der Tankstelle, an diesem Sonntag wach. Sie wohnt süd-
lich der Bahnlinie. Als Kassiererin bekommt sie 7,20 Dollar
die Stunde und muss sich mit Tortenbacken etwas dazuver-
dienen. Sie steht in der Küche des Trailers ihres Freundes,
um zu backen, wenige Kilometer vor der Ortsgrenze von
Plains, umgeben von Wald und einem Dutzend verrosteter
Schrottautos. Sechs Jahre lang diente sie in der Navy, ver-
suchte es mit Studieren, brach ab und ist dann in die Nähe
ihrer Großmutter gezogen, in die alte Heimat. Sie verwahrt
ein Gewehr zur Selbstverteidigung im Schrank und wartet
auf die Rückkehr ihres meistens betrunkenen Partners. Ist
der Kuchen fertig und ihr Freund immer noch nicht da, ver-
riegelt sie die Schlafzimmertür und schluckt eine Tablette.
»Es geht nicht mehr ohne«, sagt sie.
51.680 Besucher kamen 2018 nach Plains, deutlich weni-
ger, als das Geburtshaus von Abraham Lincoln besuchten
(260.964), aber auch deutlich mehr als jene, die das von
Bill Clinton sehen wollten (10.845). Der Carter-Tourismus

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