Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Heimat schweigt er.« Immer noch, wie in den Sechzi-


gerjahren, als er inmitten der Rassenkämpfe zum Gou-
verneur aufstieg, werfen die einen Carter vor, naiv-


liberal zu sein, während ihm die anderen vorhalten,
nicht genügend gegen Rassismus zu tun.


Weit draußen vor der Ortsgrenze von Plains sieht Le-
teyvia Murray, wie ein Eisbär einen verschneiten Berg-


hang hinaufklettert. Freitagabend. Müde liegt sie aus-
gestreckt auf ihrem Sofa in ihrem Trailer und schaut


fern. Sie ist nach ihrer Zeit bei der Navy nicht freiwillig
in den Süden Georgias zurückgekehrt: die alte Groß-


mutter, eine Tochter, die sie mit 17 Jahren bekam, die
Umstände. »Er ekelt mich manchmal an, der Süden«,


sagt sie. Neulich habe in einem Nachbarort ein Weißer
seine Kneipe schließen müssen, weil unter seinen Freun-


den zu viele Schwarze waren. Die Nachbarn hätten ihm
so lange die Hygieneämter auf den Hals geschickt, bis


er zumachte. »Es hat sich nichts seit der Zeit meiner
Kindheit verändert«, sagt sie. »Doch, eines«, fügt sie an:


»Die Weißen wissen, wir haben keine Angst mehr! Wir
konfrontieren sie, wir stellen sie!«


Um Mitternacht poltert es plötzlich auf ihrer Veranda,
betrunken wankt ihr Freund herein. In der Hand eine


Bierdose. »Du!«, sagt sie und zieht ihre Beine an, als er
versucht, sich neben ihr aufs Sofa zu setzen. Er arbeitet


tagsüber im Sägewerk und säuft zu viel. Fährt illegale
Autorennen. Redet zu viel. Hört zu wenig zu. Neulich,


so sagt sie, erwischte sie ihn im Trailer mit einer anderen.
Murray hat in ihrem Zorn die shotgun aus dem Schrank


geholt, ihn bedroht, fast abgedrückt und die Waffe dann
auf dem Boden zerschlagen.


»Ich muss aus diesem Trailer raus«, sagt sie.
Blass und kraftlos sitzt Jimmy Carter zwei Tage später, am


Sonntagnachmittag, im Hinterzimmer der Maranatha
Baptist Church in der Mitte einer kleinen Geburtstags-


runde. Boze und Betty haben sie über die letzten Tage
vorbereitet. Heute ist Rosalynn Carters 92. Geburtstag,


und weil ihr Mann in nur wenigen Wochen ebenfalls
Geburtstag hat, hat das Bürgermeisterpaar beide Feiern


zusammengelegt. Es wird zu Carters 95. Geburtstag kei-
ne TV-Gala geben, kein Staatsbankett in Washington.


Nur diese Zusammenkunft hier. »Jimmy hasst Partys«,
sagt Jill am Nachbartisch. War Carter bis zu seinem


Hüftbruch ständig auf Reisen, um zwischen Konflikt-
parteien weltweit zu vermitteln und Kampagnen zur


Bekämpfung von Tropenkrankheiten zu unterstützen,
verlässt er jetzt nur noch selten das Dorf.


Auf der kleinen Feier sind sie alle wieder da: Pastor
Tony Lowden, Stuckeys Mitbewohnerin Andrea Wal-


ker, die Pastorenwitwe, ein Mitarbeiter des Parkservice,
der Carters Garten pflegt, Kim Fuller, die heute Mor-


gen an seiner Stelle den Bibelunterricht gegeben hat.
Sie, die Nichte, hält den Sonntagsunterricht mit Carter


im Wechsel. Zwei Dutzend Menschen aus dem Dorf
sitzen an sechs runden Tischen. Sie singen ein kurzes


Happy Birthday. Carter begrüßt jeden mit Handschlag. Betty
hat ein Holzgerüst als Eisstand dekoriert, hinter dem Boze aus
großen Eimern mit einer Kelle die Lieblingssorte von Carter
ausgibt. Den ganzen Weg nach Florida ist der Bürgermeis-
ter gefahren, um Pfirsich-Bananen-Eis zu kaufen, und Betty
besorgte den Kuchen, drapiert mit Schmetterlingen, weil
Rosalynn Schmetterlinge mag.
»So wie heute sieht er aus, wenn er dehydriert ist«, mustert ihn
Jill Stuckey. Er reagiert freundlich auf die Bekannten, die ihn am
Tisch ansprechen, wirkt aber meistens abwesend. Irgendwann
sitzt er dann ganz allein an seinem Platz, mit hängenden Schul-
tern, missmutig auf einem Stück Geburtstagskuchen kauend,
einfach nur ein alter Mann.
Auch in der nächsten Woche bleibt das Dorf, das sich stolz
»Stadt« nennt, wie ausgestorben. August ist für den Tourismus
das Jahrestief, sagen sie hier. Hitze und Fliegen. Die Einzigen,
die das Zentrum bevölkern, sind vier Strafgefangene, die in
ihrer Häftlingskluft unter Aufsicht die Büsche schneiden. Jeden
Morgen werden sie von einem nahe gelegenen Gefängnis nach
Plains gefahren. Die Verkäuferinnen der insgesamt vier Läden
im Zentrum schließen um neun Uhr auf, warten auf Kunden,
von denen nur wenige kommen, und schließen um 18 Uhr wie-
der ab. Ein Ort wie ein Uhrwerk. Selbst das Wetter folgt einer
Regelmäßigkeit. Am Morgen meist blauer Himmel. Mittags
bauen sich die Gewitterwolken auf und schieben sich gegen

25


De utschland s


be ster


Vermögens-


verw alter


Capital, August undSeptember 2019


Deutsc hl ands wichtigstesFinan zm aga zi nhat33 digitale
und47t raditionelle Vermög ensv erwalter anal ysier t.
LIQIDgewinnt inbeiden Test s.

Verm ög ensverwaltun g
PrivateEquity

liqid.de
ErstellenSieIhre
An lagestrat eg ieje tztonline.
Od er rufenSi ea n
(0 30)3 080 66 55
Free download pdf