Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

am 1. Oktober 1949.« Er strahlt. »Da war ich 25 Jahre alt.


Ich bin 25 Jahre älter als die Volksrepublik!«
Die Sekretärin schaut wieder auf ihr Handy, sie räuspert


sich. Carter kommt auf Angela Merkel zu sprechen, die
eine »weise Führerin« sei, mit der er in vielen Politikfel-


dern übereinstimme, sie solle jetzt geduldig das Ende der
Trump-Präsidentschaft abwarten, wie er, Carter, auch.


»Die Zeit ist um«, sagt die Sekretärin, und Carter erhebt sich,
erzählt noch davon, wie wichtig ihm die Sonntags schule sei.


Er verwende unter der Woche viel Zeit auf die Vorbereitung
seines Bibelunterrichts. Die Sonntage strengten ihn sehr an,


aber er tue es zum Wohl der Stadt. Er führt bei den Bibel-
stunden genau Buch. Jeden Sonntagsunterricht, den er


gehalten hat, seit er im Januar 1981 aus dem Weißen Haus
zurück nach Plains gekommen ist, habe er durchnumme-


riert. Der nächste Sonntag, der 25. August 2019, trägt die
Nummer 825.


Nur Stunden später sitzt am anderen Ende der Church Street
der neue Pastor der Kirche mit zwei Social-Media-Experten


im Buffalo Cafe zusammen, Plains einzigem Restaurant.
Sie essen Burger und Chips und diskutieren über Carters


Beerdigung. »Ich will beim Live stream ein Datenvolumen
für Millionen Zuschauer«, sagt der Pastor. Er klagt über die


schlechten Internetleitungen in Plains. Die Firma aus Geor-
gias Hauptstadt, Atlanta, soll die Technik für die Übertra-


gung der Trauerfeier bereitstellen. Ihr Slogan, den sie sich auf
ihre Visitenkarten druckten: »Weil du manchmal einen Nin-


ja brauchst.« – »Es gibt dafür keinen richtigen Präzedenzfall«,
sagt der Geschäftsführer zum Pastor. Der einzige Präsident,


der im Social-Media-Zeitalter gestorben sei, sei im vergange-
nen Jahr Bush senior gewesen. In Reagans Todesjahr 2004 sei


das Internet noch nicht so weit gewesen. »40 Millionen Zu-
schauer haben die Trauerfeier von Bush weltweit gesehen«,


sagt er. »Und J. C. ist noch einmal eine andere Kategorie. Er
ist nicht nur Politiker, sondern auch jemand, der sich huma-


nitär engagiert hat.« Er ist unsicher, mit welchem Zuschauer-
interesse man es da zu tun bekomme.


Der Baptistenpastor und die IT-Experten reden über Reich-
weiten und Werbeeinnahmen, über mögliche Künstler, die


bei der Trauerfeier in der Kirche spielen könnten, denn
der Dorfchor aus alten Frauen und Männern sei dafür zu


schlecht. Der Pastor erzählt, dass die großen US-Nachrich-
tenkanäle sich bereits um die Übertragungsrechte rangelten


und derzeit wohl NBC die Nase vorn habe. »Ihr glaubt nicht,
wie viele Einwohner dieser Stadt schon Verträge abgeschlos-


sen haben.« Für die Zeit der Trauerfeierlichkeiten vermiete-
ten sie ihre kompletten Häuser an die Crews unterschiedli-


cher Sender. Wie in den Tagen von Carters Präsidentschaft
würden zu seinem Tod Zehntausende nach Plains strömen,


ein letztes Mal. Ein letztes großes Geschäft.
Dann, am Sonntagmorgen, zeigt die Uhr auf der Web site


der Maranatha Baptist Church wieder 00.00.00.
Über 400 Menschen stehen Schlange, wieder haben vie-


le von ihnen die Nacht auf dem Parkplatz verbracht.
Carter haben die Feiern zu seinem Geburtstag und dem


seiner Frau sichtbar zugesetzt. Am Vor abend gab es in der
Baptistenkirche in Americus ein Konzert zu ihren Ehren,
an dem sie teilgenommen haben. Er stockt beim Reden
häufig, schluckt mit trockenen Kehllauten, streckt gequält
den Hals, als ginge es nicht mehr, und redet dann doch
weiter. »Wenn ihr nicht die Person seid, die ihr sein wollt«,
sagt Jimmy Carter auf seinem weißen Hebestuhl an die-
sem Morgen, »könnt ihr anfangen, euch zu verändern.« Er
schweigt und sieht strahlend in die Reihen. »Ihr könnt jetzt
damit anfangen.«
Am gleichen Abend, um 18 Uhr, kommt die Gemeinde wie
immer in der Kirche zur Andacht zusammen. Sie sind jetzt
unter sich. 16 Gemeindemitglieder sitzen locker verteilt auf
den Bänken. Den Nachmittag haben die meisten zu einem
Nickerchen genutzt. In der Mehrzahl sind sie über 70. Betty
und Boze, Andrea Walker, Jill Stuckey, Rosalynn und Jimmy
Carter, jetzt nicht in der ersten Reihe, sondern mittendrin,
und einige andere. So wie immer. Pastor Lowden steht vor
ihnen. Sie diskutieren noch einmal den Gottesdienst vom
Morgen. 7800 haben ihn weltweit im Live stream verfolgt,
verkündet Andy Walker stolz. 131 Shares.
»Wer waren die Afroamerikaner, die am Ende Fotos mit uns
gemacht haben?«, fragt Jimmy Carter. Eine Gruppe Jugend-
licher, die er in Atlanta kennengelernt habe, antwortet Low-
den. Dann spricht Lowden über die beiden Texte, die er vor
einer Woche dem kleinen Kreis an Gemeindemitgliedern
zum Lesen aufgegeben hat. Warum Jesus in der Bibel so viel
über Geld gesprochen habe und das Geben nicht nur ma-
teriell gemeint sei. Dass man auch Liebe geben könne. Sie
diskutieren, mal sagt der eine ein Stichwort, mal der andere,
auch die Carters mischen sich ein. Flüsternd beugt Carter
sich zu Rosalynn hinunter, wenn sie etwas nicht verstanden
hat, um ihr das Gesagte zu wiederholen. Am Ende beten
sie für drei Mitglieder ihrer Gemeinde. Einen jungen Mann,
drogenabhängig, eine junge Frau, obdachlos, und einen älte-
ren Herren, der in der letzten Reihe steht, krebskrank.
Dann erheben sie sich, formen einen Kreis, reichen sich die
Hände, auch die Carters, beten und beugen ihre Köpfe.
»Ich bin bereit«, sagt Jimmy Carter beim Hinausgehen. »Ich
habe versucht, mein Leben nach Jesus Christus zu leben. Ich
fürchte nicht, was nach dem Tod kommt.« Die Hand, die
er zum Abschied ausstreckt, ist schmal, violett von Alters-
flecken, sie wirkt zerbrechlich, und doch drückt sie fest zu.
»Es wird wundervoll.«

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Hinter der Geschichte: Zwei Wochen verbrachte der
Autor in Plains und redete mit Dutzenden Bewoh-
nern. Irgendwann schlug Carter vor, dass er ihn zu
Hause besucht: Er wollte wissen, wer der Deutsche ist,
der so viel Zeit in seinem Dorf verbringt. Am Ende lud
Carter den Autor sogar ein, seiner Kirchengemeinde
beizutreten. Der erbat sich höflich Bedenkzeit.

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