kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass so
etwas noch in den Nullerjahren passiert ist.«
Lika Rigvava ist seit drei Jahren verheiratet, mit 19 hat
sie ein Kind bekommen. Ihr Mann ist DJ. Der Erfolg des
Clubs Bassiani, sagt sie, habe die Stimmung in der Stadt
verändert. Aber eben auch jene Nacht im vergangenen
Jahr, als bewaffnete Polizisten das Bassiani und einen zwei-
ten Laden gestürmt haben.
»Mein Mann und ich waren in einem anderen Club in
dieser Nacht«, erzählt Lika Rigvava. »Ich bekam plötzlich
Anrufe von Freunden, die im Bassiani waren. Ich habe
das meinem Freund erzählt, er hat sofort die Musik aus-
gemacht und gesagt: Wir müssen alle dorthin!« Innerhalb
weniger Stunden entstand eine spontane Party-Demons-
tration vor dem georgischen Parlament, über die weltweit
berichtet wurde. Seitdem wurden die Clubs nicht mehr be-
helligt – ein kleiner Sieg, der zeigt, dass die Regierung auf
öffentlichen Druck reagiert.
Wie sehr sich die Stadt in den letzten Jahren verändert hat,
davon erzählt auch Anano Bakradze, 29, im Café ihres
Buch- und Zeitschriftenladens, dem sie einen englischen
Namen gegeben hat: They Said Books. Sie ist in Tbilissi
aufgewachsen, hat in Budapest, Birmingham und Rom
studiert. »Immer wenn ich früher während meines Studiums
zwischendurch nach Hause kam«, sagt sie, »dachte ich:
Hier ist nichts los, ich muss wieder weg!« Erst im Zeitraum
von 2016 bis 2018 habe sich plötzlich vieles geändert. »Ich
habe heute das Gefühl, ständig Leute zu treffen, die euro-
päisch denken. Das macht mich glücklich.«
So sind ihre Schwester und sie auf die Idee gekommen,
einen Laden aufzumachen, der Bildbände und Maga-
zine verkauft, dazu eine kleine Auswahl von Mode und
Schmuck. Und Kaffee aus Berlin. »Wir kaufen unsere Kaf-
feebohnen bei Five Elephant aus Kreuzberg«, sagt sie und
lacht, »er schmeckt uns am besten.« Auf der Speisekarte
gibt es Salat mit Lachs, leichte, internationale Küche. Wel-
che Zeitschrift sich am besten verkauft? »Das ist auch eine
Frage des Geldes. Zehn Euro sind 30 Lari, das ist immer
noch sehr viel Geld in Georgien, eine Lehrerin verdient
durchschnittlich 300 Lari im Monat. Am besten verkauft
sich Dazed aus London, es ist einfach billiger als die ande-
ren Magazine.«
Patrick Bienert, der Fotograf, der seit sechs Jahren immer
wieder nach Tbilissi reist, hat die Veränderung dieser Jahre
dokumentiert. »Nach einer Weile ist mir aufgefallen, wie
sehr gerade die junge Generation von Frauen die Öffnung
und Internationalisierung der Stadt vorantreibt«, sagt er.
Fast alle, die er fotografiert habe, hätten früh Kinder be-
kommen und geheiratet, das sei oft der einfachste Weg,
sich aus den konservativen, kirchlich geprägten Familien-
strukturen zu lösen. »Viele Familien erlauben ihren Töch-
tern erst auszuziehen, wenn sie heiraten.« Auch seine gute
Freundin Nia Gvatua, die Gründerin der Success Bar, hat
bereits einen zehn Jahre alten Sohn, sie ist seit Langem
von dessen Vater getrennt. »Wir kämpfen immer weiter
für unsere Freiheit«, sagt Nia Gvatua einmal während der
Nacht im Bassiani, »und unsere Freiheit hat auf der Tanz-
fläche angefangen.«
Während unserer Tage in Tbilissi lässt sich diese Freiheit,
die Öffnung, die Internationalisierung tatsächlich am
besten nachts erleben. In der Drama Bar spielt an einem
Abend Max Kahl, ein junger DJ aus Wien, einen wilden
Mix elektronischer Musik. Einmal legt er eine obskure
deutsche New-Wave-Rap-Platte aus den frühen Achtziger-
jahren auf, Hau schon ab von Gabi Annicette. Das Pu-
blikum versteht vermutlich kein Wort, die Tanzfläche ist
trotzdem voll.
Das macht wahrscheinlich die Stimmung von Tbilissi der-
zeit aus: eine international geprägte Jugend, die mit dem
politischen Druck ihrer Regierung, der Kirche und von
Putins Russland ringt. Und die die Energie, die daraus ent-
steht, in eine einzigartige Clubkultur verwandelt.
Am Ende der Nacht im Bassiani stellt sich die Frage:
Kann Techno-Musik doch revolutionär sein? Als Techno
in Deutschland in den frühen Neunzigerjahren populär
wurde, machte in der Szene der Begriff von der »ravenden
Gesellschaft« die Runde, und als Techno Ende der Neunzi-
ger wieder aus den Schlagzeilen verschwand, war auch von
dem Begriff bald keine Rede mehr.
An diesem frühen Samstagmorgen im Bassiani aber fühlte
es sich so an, als entstehe gerade eine andere ravende Ge-
sellschaft, 3000 Kilometer östlich von Berlin.
Am Ende der Nacht
im Club Bassiani in Tbilissi
stellt sich die Frage:
Kann Techno-Musik doch
revolutionär sein?
Hinter der Geschichte: Der Münchner Fotograf
Patrick Bienert reist seit sechs Jahren regelmäßig
nach Georgien. Er arbeitet für internationale Zeit-
schriften wie das »New York Times Magazine«,
»Dazed« aus London, die italienische »Vogue« und
immer wieder auch für das ZEITmagazin. Als er
diese Bilder in Georgien gemacht hat, gab es keine
Pro bleme – nur im Bassiani in Tbilissi wurde es
kompliziert: In dem berühmten Techno-Club
herrscht Fotografie-Verbot. Mitarbeit
Johannes Palm
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