Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Das »Cozy Studio« im fünften Stock hat mich für die Dauer meines
Aufenthalts zu einem besseren Menschen gemacht. Oder, vielleicht
treffender: zu einem glücklichen Streber. Statt meine Reisetasche in
eine Ecke zu werfen und mir bei Bedarf T-Shirts herauszuziehen,
habe ich meine Kleidung fein säuberlich in den Schrank einsor-
tiert und mich über die hellgrünen Rattantüren und die Leuchten
im Schrankinneren gefreut. Der nächste Schritt meiner Verwand-
lung vollzog sich am Schreibtisch vor dem Fenster, der mit seinem
schnörkellosen nordischen Design so viel Klarheit und Ordnung
verströmte, dass ich mich sofort setzte, um mich an meine Arbeit
zu machen. (Normalerweise hätte ich sie wahrscheinlich nachts
vor dem Schlafengehen erledigt, nach zwei Gläsern Rotwein.) Das
schlichte grüne Sofa ist zwar gemütlich genug, um darauf die Zei-
tung zu lesen, gleichzeitig aber kein Ort, an dem man verkatert seine
Tage vertrödelt – es hat nicht mal Kissen.
Vieles im Zimmer ist auffallend schlau gelöst, sodass man mit sei-
nem eigenen Verhalten dagegen nicht abfallen möchte. Ich stöpsele
zum Beispiel nicht wie sonst Lampen und Fernseher aus, um mei-
nen Laptop, mein iPad und mein Smart phone aufzuladen, sondern
benutze die USB-Anschlüsse und Steckdosen, die sich diskret an
den Seiten der Nachttische und unterhalb eines Stiftehalters auf
dem Schreibtisch befinden.
Bei aller Gewieftheit lässt das Zimmer aber auch Entspannung zu:
Unter der großen Regendusche, in der Shampoo, Pflegespülung
und Seife einer schwedischen Marke bereitstehen, könnte man
bestimmt auch gut einen Nachmittag verbringen, und bei den
Badehandtüchern habe ich daran gedacht, dass sich die Finnen
im Winter nach ihren Saunagängen ja gerne im eiskalten Meer
erfrischen – bestimmt wickeln sie sich danach in solche dicken,
flauschigen Handtücher, wie sie in diesem Hotelbadezimmer hän-
gen. Läuft man barfuß vom Bad über das Fischgrätparkett zum
Bett, kann man sich den Gang in den Wellness-Bereich im Keller
des Hauses sparen: Angenehmer als hier oben im Zimmer kann
es dort unten gar nicht sein. Im Liegen erkennt man dann, dass
die Farben – Grau, Rosa und Grün – konsequent durchgehalten
werden, sogar die Heizung ist grau gestrichen. Interessanterweise
wirkt das Design trotzdem nicht bemüht: Es stehen ein paar Vasen
auf dem Fenstersims, an der Wand hängt ein abstraktes braunes
Gemälde – das war’s, mehr Dekoration gibt es nicht.
Auf wundersame Weise haben sie es im Hotel sogar geschafft, den
riesigen fliegenden Drachen des chinesischen Künstlers Ai Wei Wei,
der von der Decke der Lobby hängt, mit vornehmer Zurückhaltung
zu präsentieren: Ich habe ihn erst beim Rausgehen bemerkt.

Die günstigsten Zimmer
in den besten Hotels (Folge 11)

St. George, Helsinki


Von Sascha Chaimowicz

Fotos Markus Henttonen

Das »Cozy Studio«, ein Zimmer der günstigsten Kategorie,


hat 297,50 Euro gekostet

Das nächste Reise-Extra im ZEITmagazin
erscheint am 21. November 2 019

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