Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Ich teile sehr gerne. Aber ich verliere nicht gerne Dinge. Es gibt da
zum Beispiel diesen Kugelschreiber von dieser Schweizer Marke, die
mir gerade nicht einfällt. Das ist ein echter Qualitätskugelschrei-
ber. Wenn ich mir etwa beim Telefonieren etwas notieren muss,
dann möchte ich gerne einen Kugelschreiber zur Hand haben, der
zuverlässig schreibt, gut in der Hand liegt und überhaupt einfach
meiner ist. Leider finde ich ihn im entscheidenden Augenblick nie.
Denn Lotta hat ihn sich ausgeliehen. Um irgendetwas aufzuschrei-
ben. Und wenn Lotta meinen Kuli leiht, dann ist er weg. Lotta
weiß dann sehr bald nicht mehr, wo er sein könnte. »Aber er muss
ja irgendwo sein«, sagt Lotta dann. Er könne ja schließlich nicht
weg sein. Weil kein Körper einfach so verschwinden könne, sagte
Lotta, das habe sie mal in Physik gelernt. Weiter belastet das Lotta
überhaupt nicht.
Gerade sucht sie ihr Portemonnaie. Das werde schon wieder auf-
tauchen, meint sie. Irgendwie, irgendwo, irgendwann. »Du musst
auf die Dinge besser achten«, mahne ich. Denn Lotta verliert stän-
dig Dinge. Nicht nur unwichtigen Kram. Auch ihren Schüleraus-
weis oder ihr Handy. Ich würde nie mein Handy verlieren, ich weiß
immer, wo es ist. Und meine Karten, Fahrkarten, Kredit karten,
Geld – darauf passe ich auch immer auf. Wenn man die Dinge
in Ordnung halte, habe man mehr vom Leben, sage ich zu Lotta.
Lotta sagt, die Dinge würden sich ja immer wiederfinden. So wie
der Schülerausweis: Den hatte wer von der Straße aufgehoben und
in einen Briefkasten geworfen, die Post schickte ihn zu. Oder das
Handy. Das konnte sie am nächsten Tag im Sekretariat der Schule
wieder abholen. »Ich habe einfach immer, immer Glück!«
Mich belastet Lottas Sorglosigkeit umso mehr. Für mich ist Lottas
Zimmer schlimmer als das Bermudadreieck, so viele Vermisstenfälle
gibt es darin. Es ist ein Strudel, ein Mahlstrom, der die Dinge auf
Nimmerwiedersehen von mir wegreißt, wenn ich sie nicht ganz,
ganz fest halte. Ständig streife ich durch die Wohnung auf der Suche
nach irgendetwas. Ständig frage ich: »Wer hat (beliebigen Gegenstand
eintragen) vom Schreibtisch genommen?! Das darf doch wohl nicht
wahr sein! Hat denn niemand mehr Respekt vor dem Eigentum an-
derer Menschen?« Dauernd suche ich nach meinem Kleinkram und
verdächtige jeden. Sobald jemand etwas ausleiht, stiefele ich hinter-
her und poltere: »Das kommt aber gleich wieder zurück! WIEDER-
SEHEN MACHT FREUDE!« Alle in der Familie ver drehen die
Augen über diesen missmutigen Mann. Manchmal höre ich sogar,
ich sei offenbar auf Gegenstände »fixiert«, ich höre, man habe gar
nicht geahnt, was für eine »Krämerseele« ich sei. Auch »Spießer«
wurde ich schon genannt. Das finde ich so ungerecht. Ich fühle
mich allerdings selbst wie einer der griesgrämigen Zwerge aus dem
Märchen, die widerborstig über ihren Goldschatz wachen. Ich hasse
es, meinem Kugelschreiber hinterherzurennen. Ich hasse mich, wie
ich diesem Kugelschreiber hinterherrenne. Ich hasse ... ach, ich hat-
te mir das alles anders vorgestellt.
Gerade hat Lotta einen Behördenbrief aus dem Briefkasten gefischt.
Er ist vom Fundbüro. »Papa, guck mal: Mein Portemonnaie ist ge-
funden worden. Und ich hatte gedacht, es wäre in meinem Zimmer!
Yay! Das Leben ist so gut zu mir! Ich liebe die ganze Menschheit!«
Ich weiß, dass Lotta es im Grunde falsch macht und ich richtig.
Aber es fühlt sich halt gar nicht so an.

Prüfers Töchter MEINE 14-JÄHRIGE

Illustration Aline Zalko

Lotta ist 14 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt


hier im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 19, 12 und 6 Jahren

»Es muss ja


irgendwo sein«


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