Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Sie nennen sich »alte Säcke«: Edi Bscheid (links), Fred Ingenrieth und Herbert E. Müller (rechts) beim Wettkampf in Italien

E


di läuft in der Staffel als Erster,
hoffentlich verpasst er nicht das
Kommando On your marks!, »Auf
die Plätze!«, er hört nicht mehr
so gut.
Herbert läuft als Zweiter, wo-
für eigentlich Fred vorgesehen
war. Der aber traut sich nicht, weil er dann den
Staffelstab nicht nur annehmen, sondern auch an
den dritten Läufer weitergeben müsste. Freds rech-
te Hand ist seit einem Unfall steif, und mit der
linken fühlt er sich unsicher. Herbert mag die
Wechsel auch nicht, weil er auf einem Auge nicht
mehr viel sieht, aber gut, Fred zuliebe.
Armin läuft als Dritter und hatte vorgestern
das erste Mal in seinem Leben einen Staffelstab in
der Hand.
Fred läuft also als Vierter und Letzter, er muss,
wenn er den Stab übernommen hat, nur noch rennen,
so schnell er kann. Aber er hasst die 400 Meter. Eine
ganze Stadionrunde, die härteste Sprintstrecke, bei
der die Läufer im Ziel oft auf der Bahn liegen, pum-
pend, keuchend, manchmal weinend. Junge Läufer.


Caorle in Italien, nicht weit von Venedig, der
Abschlusstag der Leichtathletik-Europameister-
schaften der Senioren. Senioren, das bedeutet im
internationalen Sport: ab 35. Die vier Männer
aber, die sich nun für die 4-mal-400-Meter-Staf-
fel bereit machen, sind nicht 35. Sie sind auch
keine Mittfünfziger, die es noch mal wissen wol-
len. Sie sind Männer, die den Zweiten Weltkrieg
erlebt haben.
Es treten an:
Edi, Startnummer 1744, 87 Jahre.
Herbert, Startnummer 2012, 89 Jahre.
Armin, Startnummer 2223, 85 Jahre.
Fred, Startnummer 1882, 85 Jahre.
Sie wollen nicht nur Gold holen. Sie wollen
den Weltrekord der sogenannten M85 brechen,
was bedeutet: in der Gruppe der 85- bis 89-jähri-
gen Männer. Im Seniorensport werden die Sport-
ler in Fünfjahres-Altersgruppen zusammengefasst.
Herbert hat die Staffel aufgestellt. Mit vollem
Namen heißt er Herbert E. Müller, das »E
Punkt« zwischen Herbert und Müller steht für
»Ernst«, es ist ihm wichtig – es heißen einfach zu

viele Leute Müller, so ein E. macht da schon
einen Unterschied. Da sich im Sport aber alle
duzen, ist Herbert E. Müller beim Laufen immer
nur: Herbert.
Herbert ist der Älteste, hat aber die schnells-
ten Beine der Mannschaft. Er ist auch so etwas
wie ihr Chef. Herbert kennt alle Regeln, die ge-
schriebenen und die ungeschriebenen. Gerade
hat er Edi noch mal erklärt, wie der Start abläuft.
»On your marks!« bedeutet: locker an der Start-
linie aufstellen. »Set!« bedeutet: für den Kampf-
richter sichtbar in Startposition gehen. Dann
kommt der Startschuss.
Auf seine linke Handfläche hat sich Herbert
mit Filzstift einige Zahlen geschrieben. Die benö-
tigten Zwischenzeiten. So kann er bei jedem
Wechsel kontrollieren, ob sie den Weltrekord noch
schaffen können: 7 Minuten und 50 Sekunden,
gelaufen im vergangenen Jahr von vier Chinesen.
Es ist Viertel nach zwei, bei 30 Grad, als Edi,
der erste Läufer, die Bahn betritt. Da geht sie an
den Start, »die Achillessehne der Na tion«, wie
Herbert sagt. Edi ist verletzt. Er ist zu Hause im

Training gestürzt, seitdem schmerzt die Achilles-
sehne. Der Arzt hat ihm einen Zinkleimverband
angelegt, und unter Edis linker weißer Socke ver-
birgt sich eine Stützbandage. Niemand weiß:
Kann er wirklich 400 Meter durchlaufen? Edi hat
ein paar Schmerz ta blet ten geschluckt. Herbert
schaut ihm sorgenvoll nach.
14.23 Uhr. »On your marks!« – »Set!«
Der Schuss knallt.

Herbert
Anderthalb Wochen zuvor fährt Herbert von Gre-
ven broich nach Düsseldorf, setzt sich im Flugzeug
in Reihe fünf ans Fenster und fliegt nach Venedig,
neben ihm Fred, sein Trainingspartner, Sports-
freund und auch: Konkurrent. In Venedig fragt
Herbert nach dem Bus nach Jesolo, wo er während
der Wettkämpfe wohnen wird. Dort angekom-
men, nimmt er einen weiteren Bus zum Hotel. Es
liegt am Meer, aber Herbert wird bis zur Abreise
nicht einmal seine Füße ins Wasser tauchen. Er ist
nicht hier, um zu baden.

Herbert ist ein kleiner, schmaler Mann, 1929
geboren, aufgewachsen in der Nähe von Köln. Der
Vater, ein Bergmann, starb früh, der zwei Jahre äl-
tere Bruder kehrte nicht aus dem Krieg zurück.
Seine Frau Helga lernte Herbert in Aachen ken-
nen, wo er Elektrotechnik studierte, in zwei Jahren
feiern sie diamantene Hochzeit. Sie haben zwei
Töchter und einen Sohn, außerdem fünf Enkel,
die auch schon wieder erwachsen sind.
Abseits des Sportplatzes sieht Herbert aus, wie
viele ältere Männer aus sehen. Er trägt gern Stoff-
hosen und karierte Hemden, darüber eine beige
Jacke. Seine Füße stecken in Socken in Trekking-
sandalen. In Jesolo unterscheidet ihn wenig von
anderen deutschen Rentnern, die hier nach dem
Ende der Sommerferien die letzten Sonnenwochen
an der Adria genießen. Nur, Herbert geht aufrech-
ter, federnder und vor allem: schneller.
Herbert ist kein ehemaliger Spitzensportler, der
im Alter nicht aufhören will. Er hat im Alter über-
haupt erst angefangen. Er ging in Rente, was jetzt


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 DOSSIER 15


Vier Männer zwischen 85 und 89. Ein Traum: Sie wollen nicht nur bei den Leichtathletik-Europameisterschaften der Senioren starten. Sie wollen auch


einen Weltrekord holen. Eine Geschichte vom Altwerden und Jungbleiben VON NICOLA MEIER; FOTOS: JULIA SELLMANN


Ja! Jaa! Jaaa!


Fortsetzung auf Seite 16
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