Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

kot, er macht kurzerhand »Schatzi« draus. Schatzi,
90, interessiert sich vor allem dafür, wann Herbert
ebenfalls 90 wird. »In two months«, sagt Herbert.
Dann wird Herbert in die Altersklasse M90 aufrü-
cken, in der auch Schatzi startet. Schatzi sieht darü-
ber nicht glücklich aus.
Am nächsten Tag, dem Tag des ersten Rennens,
studiert Herbert beim Frühstück auf seinem iPad
die Bahnverteilung für den 100-Meter-Lauf. »Fred,
du hast eine optimale Bahn«, sagt er. »Bahn drei,
zwischen Armando Roca und mir. Ideal!«
Fred hat gerade andere Sorgen, er sucht seine
Brille. Das ganze Hotelzimmer hat er schon umge-
krempelt. Gestern war es der Athleten-Ausweis, der
verloren ging, im Sta dion musste er ein Formular
ausfüllen und 20 Euro zahlen, um einen neuen zu
bekommen. Herbert, der Planer, schüttelt in sol-
chen Momenten den Kopf über seinen Freund.
»Pass jetzt gut auf, Fred« ist ein Satz, den Herbert in
den nächsten Tagen noch oft sagen wird.
Als Herbert und Fred am Nachmittag im Sta-
dion ankommen, schüttet es. Sie müssen sich im
Flur vor den Umkleiden einlaufen, so sehr peitscht
draußen der Regen.
Noch eine Stunde. Herbert hibbelt herum.
Nach dem Frühstück hat er sich in seinem Zimmer
ein ge igelt. Mittags wollte er zwei Müsliriegel essen,
ging nicht, die Aufregung.
Noch eine halbe Stunde. Herbert sagt, ihn zwi-
cke es im Bein.
Noch 20 Minuten. Die Läufer finden sich im
Callroom ein, in dem sich vor dem Rennen alle
melden müssen. Dort holen Herbert und Fred ihre
Rennschuhe mit Spikes aus ihren Beuteln, ziehen
Schnürsenkel stramm, binden Schleifen, zerren an
Klettverschlüssen. Draußen findet, das werden sie
später erfahren, unterdessen bei den M90ern, den
allerältesten Läufern, es sind drei bei dieser EM, ein
kleines Drama statt: Schatzi, der Grieche, kommt
von der Bahn ab, wird disqualifiziert.
Noch fünf Minuten. Ein Offizieller führt die
acht M85-Läufer auf die Bahn. Der Spanier Ar-
mando Roca, den Herbert als Favoriten ausgemacht
hat, zuckt zu früh. Fehlstart. Neu aufstellen.
Herbert lag falsch mit seiner Pro gno se. Nicht
der Spanier holt Gold, sondern der Franzose. Als
Dritter kommt Herbert ins Ziel, Bronze. Fred wird
Fünfter. Er ist enttäuscht, sein Gesicht ausnahms-
weise ernst. Er dachte, er habe den Fehlstart ausge-
löst, sagt er. Beim zweiten Start sei er deshalb zu
spät weggekommen.


Was es braucht (IV): Verlieren können


Abends in der Pizzeria gibt Herbert Pizza und Rot-
wein aus. »Ein zentnerschwerer Ballast fällt von der
Seele, wenn das erste Rennen vorbei ist«, sagt er.
Fred lacht mittlerweile wieder – und ist stolz auf
seinen Freund.


»Das ist der Fleiß, Herbert«, sagt er. »Und der
Mut, noch so zu kämpfen.«
Fred glaubt, dass Herbert die 200 Meter gewin-
nen wird. »Enttäusch doch deinen Trainer nicht,
Fred!«, entgegnet Herbert. Er sorgt sich um seinen
Freund, der heute so weit unter seinen Möglich-
keiten blieb. Bei den 200 Metern, überlegt er,
könnte er, wenn sie beide am Ende gleichauf liegen
sollten, Fred den Vortritt lassen. Es wäre schön,
wenn Fred in einer Dis zi plin Europameister würde,
findet Herbert. Nur: Von vornherein langsamer
laufen wird er seinetwegen nicht, Wettkampf ist
Wettkampf.
Am nächsten Tag holt Herbert Silber über 1500
Meter. »Für dich müssen die 400 Meter ja ein Ge-
sundheitslauf werden«, sagt Fred.
Herbert gewinnt Gold über 400 Meter, Fred
Bronze. »Herbert, ich hab ’ne Medaille!«, ruft Fred
nach dem Rennen. »Weißt du deine Zeit?«, fragt
Herbert. »Nee«, sagt Fred. »Will ich auch gar nicht
wissen.« Bei der Siegerehrung ist Fred so gerührt,
dass ihm fast die Tränen kommen.
Herbert holt drei Tage später auch Gold über
200 Meter, die Strecke, auf der Fred ihn in Lei-
nefelde besiegt hatte und auch jetzt die größten
Chancen auf den Sieg hatte. Aber dieses Mal be-
wegt Fred sich wirklich zu früh, wieder Fehlstart.
Danach kommt er als Zweiter ins Ziel, hinter
Herbert.
Am nächsten Tag holt der auch in seinem
letzten Einzelrennen Gold über 800 Meter. Fred
steht auf der Tribüne und schreit »Heer beert!
Heer beert!«.

Die Staffel
Inzwischen sind Edi und Armin angekommen,
»mein Dream team«, sagt Herbert. Das Rennen
über 4-mal 400 Meter, das er so genau geplant
hat, ist für sie alle der Höhepunkt der Europa-
meisterschaften. Für einen wie Herbert, der gern
die Kontrolle hat, ist es auch eine Belastung. Au-
ßer ihm kennt keiner der vier die Regeln. Also
geht Herbert am Abend noch über die Bahn und
erklärt den anderen, wo sie sich beim Rennen
aufstellen müssen, erklärt, wie der Staffelstab
übergeben wird. Schon dass er in Italien vieles
für Fred mitorganisieren muss, macht ihm
manchmal zu schaffen. Jetzt kommen auch noch
Armin und Edi dazu. Es ist der einzige Abend,
an dem Herbert erschöpft wirkt. Er geht nicht
mehr aus, isst nur eine Banane im Hotel.
Schlecht schlafen wird er auch.
»Manchmal«, sagt Herbert, »frage ich mich na-
türlich: Warum tue ich mir das eigentlich an?«
Schlimmer als die körperliche Belastung sei die
mentale. Herbert fühlt sich unter Druck, weil er
die Leistungen bringen will, die er sich vorgenom-
men hat. Unter Druck auch, weil er derjenige ist,

der alles regelt. Edi, noch mehr als Fred der Passt-
schon-Typ, hatte eine Woche vor Abreise noch
nicht mal ein Hotelzimmer. Herbert hat ihm dann
eins organisiert. Ein Handy hat Edi auch nicht.
Er sagt Bescheid, wann er am nächsten Tag ins
Sta dion gehen wird, und dann ist er dort halt ir-
gendwann irgendwo. Für Herbert ist das schwer
auszuhalten.
Herbert starrt so intensiv in sein iPad oder sein
Smart phone wie die jungen Leute in den Straßen-
cafés von Jesolo. »Fred, du musst dir auch ein iPad
schenken lassen«, sagt er beim Frühstück im Hotel,
denn Fred hat zwar ein Handy, aber »ein Alt-Opa-
Handy«, große Tasten, kein Internet. Herbert hin-
gegen wird zappelig, wenn das Internet im Hotel zu
lahm ist, wenn sich Seiten zu langsam aufbauen
wegen der schlechten Verbindung. Wie einfach die
Staffelplanung wäre, wenn sie eine Whats App-
Grup pe hätten? Darüber will Herbert gar nicht
nachdenken.
Herbert hat viele WhatsApp-Gruppen, andau-
ernd poppen neue Nachrichten auf, von seiner Frau,
von seiner Gymnastikgruppe »Sport betagter Bür-
ger«, von seinen Kindern. Als Herbert am vorletzten
Morgen frühstückt, schickt seine Tochter ihm ihren
Live- Stand ort – aus einem Hotel ganz in der Nähe.
Sie überrascht ihn, zusammen mit Mann und Toch-
ter. Eine zweite Enkelin steht plötzlich im Früh-
stücksraum, auch sie ist hergekommen zum großen
Staffelfinale, eine Über raschung, die sogar Herbert
sprachlos macht.

Was es braucht (V): Alles geben
On your marks!
Ein Ergebnis des Rennens steht praktisch schon
fest. Die vier Männer laufen gegen zwei M75-
Staffeln und eine M80-Staffel. Sie müssen also nur
ins Ziel kommen, dann haben sie die Goldmedaille
in ihrer Altersklasse, niemand sonst hat eine M85-
Staffel zusammenbekommen.
Aber sie wollen ja den Weltrekord.
Set!
Startschuss.
Als Edi losläuft, ist sofort klar: Er kann links
nicht richtig auftreten. Es muss die Achillessehne
sein. Mit verbissenem Gesicht holpert er die Bahn
entlang.
Die Startläufer der drei anderen Staffeln sind
längst davongezogen, da hat Edi gerade die erste
Kurve geschafft. Sein Rückstand wird größer und
größer. Aber Edi läuft weiter.
1 Minute 45. Edi biegt auf die Zielgerade ein,
und auf der Tribüne wird jetzt das Publikum laut,
schreit, klatscht, jubelt, die Leute sehen ja, was da
los ist, sehen das Humpeln, das schmerzverzerrte
Gesicht.
1 Minute 50.
1 Minute 55.

Herbert steht auf der Bahn, er ist als Nächster
dran, sein Blick geht von der Uhr zu Edi, wieder
zur Uhr, wieder zu Edi.
Unbarmherzig verstreichen die Sekunden, aber
es ist jetzt nicht mehr weit für Edi.
2 Minuten 05.
2 Minuten 10.
Bei 2 Minuten 12 schiebt Edi den Arm nach
vorn und drückt Herbert den Stab in die Hand.
Dann humpelt er von der Bahn, greift sich an die
linke Wade. Der Schmerz, wird er später sagen,
sei gar nicht von der Achillessehne gekommen. Er
habe sich vertreten, schon beim ersten Schritt sei
ihm der Schmerz in die Wade geschossen.
Nach Edis Schmerzenslauf sieht der von Her-
bert mühelos aus, bei 3 Minuten 50 übergibt er den
Stab an Armin.
Jetzt steht Fred auf der Bahn, wartet, schaut, war-
tet. Da kommt Armin, Fred streckt den linken Arm
aus, die linke Hand. Hauptsache, die Nerven machen
mit. Hauptsache, er lässt den Stab nicht fallen.
Bei 5 Minuten 40 rennt Fred los.
Die Schlussläufer der anderen Staffeln, der jün-
geren Alten, sind schon im Ziel, da hat Fred noch
mehr als eine halbe Runde vor sich. Er ist jetzt al-
lein auf der Bahn. Noch 200 Meter.
»Andiamo«, schreit der Stadionsprecher, als Fred
die Zielgerade erreicht, »un grande applauso!«
Noch 100 Meter.
Fred wird langsamer, auch ihm steht jetzt der
Schmerz im Gesicht.
Noch 50 Meter.
Und dann ist Fred im Ziel.
7 Minuten, 23 Sekunden. Neuer Weltrekord,
27 Sekunden schneller als der alte.
»Weltrekord?«, fragt Edi. »Mit meinem Lauf?
Das gibt’s ja nicht.«
»Edi, du bist ein Goldstück!«, sagt Herbert.
»Wahnsinn«, sagt Edi, immer wieder, »Wahnsinn«.
Fred kann noch nicht wieder reden.
»Ich finde Gefallen an den kurzen Strecken«,
sagt Armin. »Vielleicht steige ich noch um.«
Später dann: Goldmedaillen, Urkunden, die
Hymne, Einigkeit und Recht und Freiheit, das
Siegerlächeln, das ganz besonders ist, wenn die
Gesichter schon so runzlig sind.
Am meisten strahlt Edi, der Held des Tages, den
die anderen nur noch »Super-Edi« nennen.
»Die ersten Schritte von dir«, sagt Fred. »Oweh-
oweh oweh. Ich dachte, das stehst du nicht durch.«
»A Wahnsinn«, sagt Edi, er wird noch viele Stun-
den nicht glauben können, dass er es geschafft hat.
Am Abend liegen die Männer sich zum Ab-
schied lange in den Armen. »Ich weiß nicht, wie
ich dir danken soll«, sagt Edi zu Herbert. »Hof-
fentlich hab ich noch ein paar Jahre, dass ich mich
daran immer erinnern kann.«
»Wir sehen uns noch mal wieder«, sagt Fred zu
Edi. »Wir sehen uns wieder!«

Im Dossier »Kann er Gedanken
lesen?« berichteten wir vor zwei
Jahren über Niels Birbaumer
(ZEIT Nr. 47/17). Eine vielfach
zitierte Studie des Hirnforschers
hatte nahegelegt, dass er eine
Methode entwickelt hatte, mit
Patienten zu kommunizieren, die
am Completely-Locked-in-
Syndrom (CLIS) leiden, die also
in einem regungslosen Körper ein-
geschlossen sind. Im vergangenen
April berichtete das Magazin der
Süddeutschen Zeitung erstmals
über Zweifel an der Studie. Im
Juni kam eine Kommission der
Universität Tübingen, an der Bir-
baumer arbeitet, zu dem Schluss,
er habe »Untersuchungsdaten in
relevantem Umfang nicht ausge-
wertet beziehungsweise nicht be-
rücksichtigt«. Vergangene Woche
warf ihm nun auch die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG)
wissenschaftliches Fehlverhalten
vor. Birbaumer und ein Mitarbei-
ter hätten »die Untersuchungen
ihrer Patienten nur unvollständig
per Video aufgezeichnet«. Daten
seien »nur summarisch und nicht
aufgeschlüsselt ausgewertet«
worden. Allerdings, so die DFG,
sei damit »keine Aussage zur
Validität der von den beiden
Forschern aufgestellten Thesen
zur Kommunikation mit CLIS-
Patienten« getroffen. Durchaus
möglich also, dass die Methode
funktioniert. Birbaumer ist davon
überzeugt. Ein Patient, sagt er,
könne jetzt sogar per Gedanken
Wörter buchstabieren, Birbaumer
hat das gefilmt. Er kündigte an,
die Uni Tübingen zu verlassen.

Wissenschaftliches


Fehlverhalten


ANZEIGE



  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 DOSSIER 17


#ZKGES

Fotos (von links oben nach rechts unten): 1: Sven Lorenz, Essen, 3: BAG SELBSTHILFE e.V., 4: Maya Claussen, 5: B. Braun Melsungen AGAnbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg | Convent Gesellschaft für Kongresse und Veranstaltungsmanagement mbH, Senckenberganlage 10–12, 60325 Frankfurt am Main

GESUNDHEIT


Die Digitalisierung verändert das Gesundheitswesen – darüber
herrscht unter Kostenträgern und Leistungserbringern, aber auch
unter Branchenvertretern und Patienten große Einigkeit. Auch zum
Wohle der Patienten gilt es, innovative und datenbasierte Lösungen
zu fördern. Die sektorenübergreifende Zusammenarbeit stationärer
und ambulanter Behandlung kann über den Einsatz digitaler Instru-
mente optimiert werden. Gleichzeitig können automatisierte Prozes-
se dazu beitragen, die Über-, Unter- bzw. Fehlversorgung abzubau-
en und die Effizienz des Gesundheitswesens zu verbessern.

Wie werden datengetriebene Geschäftsmodelle und Lösungen die
medizinische Versorgung und das Verhältnis zwischen Arzt und Pa-
tient verändern? Wie muss das Gesundheitswesen im Kontext der
digitalen Transformation weiterentwickelt werden, um die Qualität
der Patientenversorgung und die Effizienz des Gesundheitssystems
zu verbessern?

Die ZEIT KONFERENZ Gesundheit führt bereits zum sechsten Mal in
Folge ca. 400 Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Forschung und
Politik am 5. November in Hamburg zusammen, um diese und andere
zentrale Fragestellungen kontrovers zu diskutieren.

Die Teilnehmerzahl ist begrenzt.
Kontakt: Jan Heißler • 069/79 40 95 65 • [email protected]

Weitere Informationen und Anmeldung unter:
http://www.convent.de/gesundheit

Wie können Effizienz und Qualität


der Patientenversorgung verbessert werden?


Referenten (Auszug):

PROF. DR. BORIS AUGURZKY
Leiter des Kompetenzbereichs
»Gesundheit«, RWI – Leibniz-Institut für
Wirtschaftsforschung; Wissenschaftli-
cher Geschäftsführer, Stiftung Münch

DR. BERNARD GR. BROERMANN
Gründer und Gesellschafter,
Asklepios Kliniken GmbH & Co. KGaA

DR. MARTIN DANNER
Bundesgeschäftsführer,
BAG Selbsthilfe e.V.; Sprecher,
Patientenvertretung beim Gemeinsamen
Bundesausschuss

SVEN HANNAWALD
Ehem. Skispringer; Olympia-Sieger;
Unternehmensberater; TV-Experte,
Eurosport

DR. MEINRAD LUGAN
Vorstandsmitglied
(Sparte Hospital Care, Sparte OPM),
B. Braun Melsungen AG

SUSANNE MÜLLER
Geschäftsführerin,
Bundesverband BMVZ e.V.

DR. SABRINA REIMERS-KIPPING
Founder, Head of Medical Advisory,
FUSE-AI

KATINA SOSTMANN
Executive Director
Digital Health & Insurance,
aperto – An IBM Company


  1. NOVEMBER 2019 · HAMBURG
    HOTEL ATLANTIC KEMPINSKI


In Zusammenarbeit mit Veranstalter

107433_ANZ_10743300018754_24246490_X4_ONP26 1 17.09.19 10:
Free download pdf