Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

19 GESCHICHTE 26. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No^40


Aufgrund von Gerüchten, die USA steckten hinter dem Angriff, kommt es
vielerorts zu Protesten – so wie hier in Delhi am 23. November 1979

Schüsse


in


Mekka


Im November 1979 stürmen


Dschihadisten die Große Moschee


und richten ein Blutbad an.


Die Täter werden hingerichtet.


Ihre Ideologie aber setzt sich


in Saudi-Arabien auf ganzer Linie durch


VON MICHAEL THUMANN

D


er Heilige Krieg beginnt
mit der schwersten aller
Sünden. 500 vermummte
Männer schießen mit au-
tomatischen Pistolen in
die Moschee von Mekka.
Sie feuern von den Dä-
chern auf die Wachpoli-
zisten. Sie bellen Befehle aus den Lautsprechern der
Minarette. Sie rufen: »Die Welt geht unter!«, um
kurz darauf zu verkünden: »Der Mahdi, der Retter
der Welt, ist gekommen.« Sie nehmen Imame
gefangen. Sie schließen die großen Tore. Sie sperren
Zehntausende Pilger ein in der Moschee. Mekka zu
besuchen war der sehnlichste Wunsch der Pilger
und wird jetzt zum Albtraum ihres Lebens.
Die Chronisten schreiben den Vor abend des


  1. Muharram 1400 nach islamischem Kalender, es
    ist der 20. November 1979 nach westlicher Zeit-
    rechnung. Dschuhaiman al-Utaibi, ein 43-jähriger
    Beduine und Dschihadist, erobert mit seinen
    Männern die heilige Stätte.
    Die zweiwöchige Besetzung zerstört Teile der
    Großen Moschee, sie krempelt Saudi-Arabien um
    und die gesamte islamische Welt. Dschuhaiman al-
    Utaibi führt seinen Kampf im Schatten der Islami-
    schen Re vo lu tion im Iran, des Kräftemessens zwi-
    schen dem iranischen Ajatollah Chomeini und der
    Weltmacht USA. Viele Menschen im Westen ver-
    passen daher, was zeitgleich in Mekka geschieht. Die
    Nachbeben aber reichen bis in unsere Zeit, in die
    lebensgefährlichen Berge von Afghanistan, die zer-
    störten Städte des Jemens, das New Yorker Banken-
    viertel und die Hinterhof-Moscheen von Europa.
    Dschuhaiman al-Utaibi beherrscht die Große
    Moschee per Lautsprecher. Er scheucht die Pilger
    herum, während er ihnen das Himmelreich ver-
    spricht. Als er merkt, dass mehrere Zehntausend
    Menschen sehr schwer zu versorgen sind, lässt er die
    meisten frei; einige Dutzend behält er als Geiseln.
    Dschuhaiman ist mit der Waffe groß geworden.
    In seiner erzkonservativen Familie war die Pistole so
    wichtig wie die Kopfbedeckung gegen die Sonne.
    Seine Vorväter gehörten den Ichwan (»Brüdern«) an,
    strenggläubigen Beduinen-Clans, die in den Zwan-
    zigerjahren geholfen hatten, Mekka und Medina zu
    erobern, danach aber von dem saudischen Staats-
    gründer und ersten König Abdel Asis al-Saud nieder-
    gerungen wurden. Das Schießen verlernten sie nie.


»Dschuhaimans Leute wirkten
wie ein Haufen Verrückter«

Noch als Teenager trat Dschuhaiman in die sau-
dische Nationalgarde ein. Das war seine eine Seite.
Nach fast zwei Jahrzehnten Dienst warf er hin und
ging auf die Islamische Universität von Medina.
Tiefe Gläubigkeit zu demonstrieren – das war sei-
ne andere Seite. In Medina hörte er Vor lesun gen
von Abdel Asis bin Bas. Für den einflussreichen
sunnitischen Kleriker war die Frau ein niederes
Geschöpf und die Aussage, die Erde kreise um die
Sonne, ein Verstoß gegen den Koran.
Mit der Waffe und der passenden Ideologie hat
Dschuhaiman im November 1979 alles, was er für

die Besetzung der Großen Moschee braucht. Nun
kann er Rache nehmen. Rache an der Dynastie der
Sauds, die seine Vorfahren entmachtet und getötet
haben. Rache für die Modernisierung Saudi-Ara-
biens, die konservative Beduinen verstört. Rache
für die Kinos, die James- Bond- Filme zeigen, für
die Restaurants, in denen unverheiratete Männer
und Frauen ne ben ein an der sit zen und lachen,
Rache für die Königsbilder auf den Geldscheinen.
Das alles empfinden Islamisten wie Dschuhaiman
als unerträgliche Provokationen. In der Großen
Moschee wird vom 20. November 1979 an zu-
rückgeschossen.
Das Königshaus ist überrumpelt. Der König
liegt mit Erkältung zu Hause. Saudi-Arabiens star-
ker Mann, Kronprinz Fahd, besucht gerade eine
Konferenz der Arabischen Liga in Tunis, als er von
der Ter ror aktion erfährt. Er beauftragt einen seiner
besten Männer, den damals 34-jährigen Prinzen
Turki al-Faisal, sofort nach Mekka zu fliegen. Erst
kurz zuvor ist er Geheimdienstchef geworden. In
den vergangenen Jahren hat er sich immer wieder
zu den Ereignissen von 1979 geäußert, kürzlich
auch im Gespräch mit der ZEIT.
In Mekka eingetroffen, lässt Turki die Moschee
durch Späher auskundschaften. Für das Königs-
haus ist der Erfolg von Prinz Turki und den Sicher-
heitsorganen eine Überlebensfrage. Sie hängt auch
an der Re li gion, und deren Bedeutung wächst da-
mals überall in der Region, nicht nur im Nachbar-
land Iran. In Saudi-Arabien beruhen das Ansehen
und die Le gi ti ma tion der Saud-Familie darauf,
dass sie die Hüter der heiligen Stätten des Islams
sind. Das Recht darauf sprechen ihnen die Revo-
lutionäre in Teheran ab, und Dschuhaiman tut es
ebenso. So steht es in seinem Programm »Sieben
Episteln«. Sein Angriff ist nicht nur militärisch,
sondern auch ideologisch. Das Königshaus muss
auf beiden Ebenen antworten.
Dafür braucht es die hohen Geistlichen, die
Ulama, unter ihnen auch Dschuhaimans früherer
Lehrer Abdel Asis bin Bas. Das Königshaus wünscht
sich eine Fatwa gegen die Terroristen, jetzt und so-
fort. Doch die Ulama zögern. Bin Bas hat schon
einmal die Inhaftierung seines ehemaligen Schülers
Dschuhaiman verhindert. Dessen islamistisches
Gedankengut ist Bin Bas nicht fremd – wohl aber
die brutalen Methoden.
Nach einigen Tagen entscheiden sich die Ula-
ma, das jahrhundertealte Bündnis zwischen den
Sauds und dem Wahhabismus nicht zu beschädi-
gen: In einer Fatwa betonen sie die religiöse Legi-
timität des Königshauses. »Sie erlaubten uns, die
Moschee mit Waffengewalt zu befreien«, erinnert
sich Prinz Turki. Allerdings fordern sie einen Preis
dafür: Keine Frauen im Fernsehen, kein Alkohol,
kein Kino. Dafür Mil liar den Petrodollar für die
Verbreitung des rigiden Wahhabismus in der
Welt. Die Ulama helfen den Sauds, Dschuhaiman
loszuwerden, setzen dessen Agenda aber kon-
sequent durch.
Am Donnerstag, dem 22. November, rücken
saudische Truppen zum ersten Mal auf die Moschee
vor – noch ohne religiösen Segen. Morgens um halb
vier beschießen sie das heilige Gebäude mit Grana-

Der Anführer der Islamisten Dschuhaiman al-Utaibi
nach seiner Festnahme im Keller der Moschee

Fotos: AFP/Getty Images; Keystone USA/Zumapress/action press (r.)


ten, dann rücken Sturmtrupps ein. Doch die bleiben
schnell stecken. Dschuhaimans Kämpfer setzen
Schützenpanzer mit Molotowcocktails in Brand,
Sniper schießen aus dem Hinterhalt und verschwin-
den wieder im Labyrinth der Moschee. Die saudi-
schen Truppen ziehen sich zurück, sie haben die
Terroristen unterschätzt.
»Dschuhaimans Leute wirkten wie ein Haufen
Verrückter«, erinnert sich Prinz Turki. »Sie schie-
nen nur wenige zu sein. Daher kam meine anfäng-
liche Nachlässigkeit.« Auch ein zweiter Befreiungs-
versuch scheitert.
Am Sonntag, dem 25. November, sieht sich Turki
einen von der Armee gesicherten Teil der Moschee
selbst an. Ein ausgebrannter Transportwagen steht
im Hof, neun Leichen liegen verstreut in den Korri-
doren, über allem hängt eine bedrückende Stille – so
schildert er den Moment später. Von den Terroristen
ist nichts zu sehen; sie haben sich im Untergeschoss
verschanzt. Der Betonboden ist raketensicher; gegos-
sen wurde er von dem saudischen Bauunternehmer
Mohammed bin Awad bin Laden, dem Vater jenes
Bin Laden, der 2001 New Yorks Bankenviertel an-
greifen lassen wird. Für Dschuhaiman, den Inspirator
von Osama bin Laden, sind die Zisternen, Keller,
Lager und Versorgungsräume unter der Großen
Moschee ein perfekter Rückzugsort. Die Armee
kommt hier nicht weiter. Die Regierung verhängt
daher als Erstes eine Informationssperre, um sich
keine Blöße zu geben. Die Welt merkt erst am Freitag,
fünf Tage später, dass Saudi-Arabien weiterhin ein
großes Problem hat: Die Freitagspredigt wird nicht
aus Mekka, sondern aus Medina übertragen.
Schnell rächt sich die Geheimniskrämerei. In
Teheran hat Ajatollah Chomeini die islamische
Welt längst mit Fake- News aufgepeitscht. »Zio-
nisten und US-Imperialisten« steckten hinter den
Ereignissen in Mekka, behauptet der iranische
Revolutionsführer. In Syrien und im Libanon
stimmen Geistliche und Staatssender mit ein.
Für die Amerikaner wird das brandgefährlich.
Chomeinis Predigten wirken wie ein Sprengsatz. Im
Osten Saudi-Arabiens protestieren die Schiiten. In
Pakistan geht die US-Botschaft in Flammen auf.
Kurz darauf greifen aufgebrachte Menschenmengen

in Indien, der Türkei, Bangladesch und Libyen
amerikanische Einrichtungen an.
Die US-Außenpolitik gerät dadurch unter
massiven Druck – und ist zunächst wie gelähmt.
Präsident Jimmy Carter schlingert im Kampf
zwischen den Falken im Sicherheitsrat und den
Tauben im Außenministerium. Auch die CIA ist
paralysiert. Als Prinz Turki seine Geheimdienst-
kollegen um Hilfe bittet, kommt nicht viel mehr
als gute Ratschläge. Die Angst hat Saudis und
Amerikaner gleichermaßen im Griff.
In dieser düsteren Stunde erhalten die Saudis
Schützenhilfe von unerwarteter Seite: In Paris
spricht Präsident Giscard d’Estaing von einer Be-
drohung des Westens durch die Ereignisse in
Mekka und Teheran. Wie sein Freund, Bundes-
kanzler Helmut Schmidt, hält Giscard den zögern-
den Carter für ein Weichei. Die Franzosen bieten
den Saudis ihre Hilfe an.
Umgehend trifft Prinz Turki den französischen
Geheimdienstchef zu ersten Beratungen und macht
einen Vorschlag, wie man Dschuhaimans Leuten in
den Kellergewölben stellen könnte. »Es kam die Idee
auf, Löcher in die Ebene darüber zu bohren«, erzählt
er rückblickend, »um Gas in die Räume zu leiten,
in denen diese Leute sich versteckten.«
Prinz Turki besteht auf absoluter Dis kre tion. Die
Saudis, nicht die Franzosen, sollen die Moschee von
den Terroristen befreien. Westliche Soldaten in den
heiligen Stätten – das würde die Empörung in der
islamischen Welt explodieren lassen. Giscard d’Es-
taing schickt daher nur ein dreiköpfiges Kommando
nach Mekka. Die Spezialeinsatzkräfte haben 300
Kilogramm französisches CS-Reizgas dabei und
besitzen viel taktische Erfahrung im Kampf gegen
Terroristen. In der Stadt Taif, kaum eine Autostunde
südöstlich von Mekka, trainieren sie saudische
Soldaten im Anti-Terror-Kampf. Danach werden die
drei Franzosen zu ihrer großen Überraschung in ihren
Hotelzimmern eingesperrt. Für den Fall, dass sie doch
mit nach Mekka wollten.
Am frühen Morgen des 3. Dezember 1979,
zwei Wochen nach der Besetzung der Großen
Moschee, beginnt die saudische Operation n ach
französischem Plan. Erst bohren Helfer Löcher in
den Boden, dann ziehen die Soldaten sich die von
den Franzosen gelieferten Gasmasken und Spezial-
anzüge über, werfen die Gaskanister in die Tiefe
und stürmen die Keller. Dschuhaimans Leute trei-
ben ihre Geiseln in die hinteren Räume. Sie zün-
den Reifen an – gegen das Gas und gegen die An-
greifer. Es wird unerträglich heiß, die letzte Luft
zum Atmen verbrennt. Die Dschihadisten schie-
ßen noch einmal mit allem, was sie an Mu ni tion
zusammengerafft haben. Nach 18 Stunden erbit-
terten Kampfes geben sie auf.
Die saudischen Soldaten finden sie, in ver-
dreckten Gewändern und mit rußgeschwärzten
Gesichtern in einem Gewölbe kauernd, zwischen
Haufen von Gewehren, Granaten, Käse, Datteln
und Flugblättern. Einer sitzt in der Ecke mit lan-
gem, zerzaustem Bart und verfilztem Lockenhaar.
Wie viele radikale Islamisten lässt er sich Haare
und Bart lang wachsen, so wie es die Urahnen an-
geblich getan haben. »Dschuhaiman«, antwortet

der Mann mit auffällig weicher Stimme auf die
Frage, wie er heiße.
Wenige Tage später fährt Prinz Turki zum Ge-
fängnis von Mekka. Er wird von Polizisten beglei-
tet, ein Wärter öffnet ihm eine Zelle. Dschuhai-
man springt auf und formt die Hände wie zum
Gebet. Stockend beginnt er sich zu entschuldigen.
»Ich bereue, Eure Hoheit«, sagt Dschuhaiman.
»Bitte sagt König Chalid, dass es mir sehr leidtut.
Könntet Ihr ihn bitten, mich zu begnadigen?«
Turki mustert den hageren Mann mit der wei-
chen Stimme, dann muss er lachen: »Du musst Gott
um Begnadigung bitten.« Bevor er geht, dreht sich
der Geheimdienstchef noch einmal um. »Warum
trägst du das Haar so lang?« Dschuhaiman ist über-
rascht: »Was ist schlecht daran?« Am frühen Morgen
des 9. Januar 1980 wird Dschuhaiman auf einem
öffentlichen Platz in Mekka enthauptet. Nach ihm
werden weitere 62 Dschihadisten in acht Städten
Saudi-Arabiens öffentlich hingerichtet. Alle sollen
sehen, dass der Spuk von Mekka be endet ist. Ins-
gesamt hat der Terroranschlag mindestens 382
Menschen das Leben gekostet, nach manchen
Schätzungen sogar bis zu 1000.

Erst heute gewährt die autoritäre Führung
wieder begrenzte Freiheiten

Dschuhaimans Siege werden erst nach seinem Tod
sichtbar. König Chalid hält Wort gegenüber den
Geistlichen. Versprochen ist versprochen: Die
Moderatorinnen im saudischen Fernsehen verlieren
ihre Jobs. Die Zeitungen schwärzen Frauengesichter.
Die Restaurants führen strikte Geschlechter-
trennung ein. Die Kinos schließen. Und auf den
Plätzen und Straßen wacht die Religionspolizei über
die Einhaltung des neuen Re gimes. Bin Bas wird
später Großmufti und lehrt Generationen von
Saudis die Gebote des Wahhabismus.
Dschuhaimans zweiter Sieg ist der Aufstieg des
militanten Islamismus. Der saudische Staat fürch-
tet die Konkurrenz des schiitischen Gottesstaats im
Iran und sponsert die Ausbildung von sunnitischen
Islamisten weltweit. In den Achtzigerjahren unter-
stützt Riad die Mudschahedin in Afghanistan ge-
gen die Sowjets. In den Neunzigern fließt Geld an
zentralasiatische Islamisten. Am 11. September
2001 geht die Saat in den USA auf. Seit 2003 je-
doch richtet sich der Terror auch gegen das Haus
Saud. Die schweren Anschläge in Saudi- Arabien,
der Aufstieg des IS in Syrien und im Irak, der
Kampf von Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel
bedrohen das Königshaus aufs Neue.
Erst heute beginnt das Land, einige seiner histo-
rischen Fehler zu korrigieren. Die Regierung be-
kämpft mittlerweile den Terror und den ideologi-
schen Export des Islamismus, seit jüngster Zeit weist
sie sogar die Religionspolizei in die Schranken. Nach
40 Jahren haben die ersten Kinos wieder eröffnet,
werden Konzerte gegeben, dürfen Frauen Auto fah-
ren. Eine zunehmend autoritäre Führung gewährt
den Unter tanen Freiheit in begrenzten Bereichen der
Gesellschaft. Die Erben von Dschuhaiman al-Utaibi
aber leben weiter – in den kriegszerrütteten Land-
strichen von Syrien, dem Jemen und Zen tral asien.

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