Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Illustration: Studio Pong für DIE ZEIT

Wo einst die Scham zu spüren war, regieren heute Gleichgültigkeit und Aggressivität. Einblicke in die deutsche


Insolvenz-Gesellschaft, am Beispiel des Potsdamer Amtsgerichtes VON BETTINA MALTER


W


enn Stefan Berger (Name
geändert) immer mitt-
wochs von einem Termin
zum nächsten fährt,
drückt er Klingelknöpfe,
erst ein Mal, dann noch
ein zweites Mal, doch
nur selten öffnet ihm jemand die Tür. Berger ist
Gerichtsvollzieher. Noch vor kurzer Zeit, sagt der
47-Jährige, da erwarteten ihn die Schuldner häufig
mit Tränen in den Augen. Heute scheint kaum
noch jemand die Briefe ernst zu nehmen, in denen
er den Tag und die Zeitspanne seines Kommens
ankündigt. Statt Respekt vermehrt Ignoranz, so
empfindet es Berger. Man könnte es aber auch so
interpretieren: In Deutschland verlieren sich im-
mer mehr Menschen in ihren Schulden. Schock-
starre hinter verschlossenen Türen.
Jahr um Jahr wiederholt sich diese Nachricht:
Trotz guter Konjunktur gibt es immer mehr über-
schuldete Menschen. Laut dem Schuldenatlas von
Creditreform konnten 2018 fast sieben Millionen
Menschen ihre Rechnungen nicht mehr beglei-
chen. Davon hängt mehr als die Hälfte dauerhaft
in einer Schuldenschleife. Die Auswirkung kann
besonders eindrücklich an Amtsgerichten beob-
achtet werden. Sie sind wie Apparate, die die Pro-
zesse hinter den Schulden steuern, ob bei Sümm-
chen, Summen oder Schuldenbergen. Fast täglich
blicken die Mitarbeiter in Dutzende Leben: in
Gesichter von überschuldeten Villenbewohnern,
von Kindern im Kaufwahn, von insolventen Fami-
lienvätern. Sie spüren, wenn in Deutschland der
Aufschwung ruft, spüren es, wenn sich die Not
breitmacht. Man könnte sie auch als Analysten für
verfallendes Vermögen bezeichnen.
Beispiel Amtsgericht Potsdam. Simon Welten
ist dort Vize-Chef und sagt: »Diese Stadt ist ein
exemplarisches Beispiel, wie die Schere zwischen
Arm und Reich aus ein an der geht.«
Gerichtsvollzieher Berger sagt: »Schulden sind
für alle Normalität geworden – der Unterschied
ist: Die mit geringen Einnahmen zerbrechen be-
reits an alltäglichen Hürden.«


Fernseher werden vom Gerichtsvollzieher
nicht mehr gepfändet: Sind zu wenig wert


Berger arbeitet seit 14 Jahren für das Potsdamer
Amtsgericht. Sein Alltag spielt sich in einer Stadt
ab, in der die Vermögensgrenze deutlich sichtbar
verläuft. Da sind die wohlhabenden Straßenzüge,
mit ihren strahlend weißen Neubauten und was-
sernahen Villen, in denen Berger auch schon mal
hohe Schuldenbeträge bar in die Hand gedrückt
bekommt. Und da sind die finanzschwachen Stra-
ßen, mit ihren Plattenbauten und Sozialwohnun-
gen, in denen vor allem die Profischuldner woh-
nen, wie Berger sie nennt – Menschen, die über
ihre Verhältnisse leben, manche auch mit Kalkül
und Strategie.
Wenn Berger durch seinen Gerichtsbezirk
fährt, kann er viel über die Existenzen der Men-
schen hinter den Fassaden berichten. In seinem


Kopf liegt eine Stadtkarte der Schulden, die von
Arbeitslosigkeit, Einkommensarmut, Krankheit,
Scheidung oder unreflektiertem Konsumieren er-
zählt – das sind die Hauptgründe, warum jemand
in Schulden versinkt. Berger hat sie in allen Vari-
anten gesehen. Im ersten Berufsjahr hat er sich die
Abstürze noch erzählen lassen. Danach begannen
sich die Leben zu ähneln. Heute blickt er meist
nur noch auf die Zahlen. Und die zeigen vor al-
lem: Gerade in den ärmeren Straßenzügen sind es
die kleinen Beträge, die wie Ungetüme wachsen
und Schuldner in Abgründe ziehen. Die genaue
Genese sieht Berger in seinen Akten:
Ein Versicherungsbeitrag von 56,77 Euro, der
sich nun auf 600 Euro beläuft.
Zahnarztkosten von 61 Euro, die jetzt bei 374
Euro liegen.
Eine Zalando-Bestellung von 39,79 Euro, die
jetzt auf 511,49 Euro angewachsen ist.
Es ist eine vertrackte Gebührenspirale. Viele
Unternehmen schlagen Zinsen auf die unbezahl-
ten Forderungen auf; gerade Versicherer, der Ver-
sandhandel und Inkassounternehmen treiben laut
dem Überschuldungsbericht des Hamburger In-
stituts für Finanzdienstleistungen so die Hürden in
die Höhe, schuldenfrei zu werden. Sie verdienen
an den Schulden Geld. Berger sieht auf seinen
Touren, wie Schuldner das lähmt: randvolle Brief-
kästen, die über Wochen ungeöffnet bleiben. Es ist
Überforderung, die zu Ignoranz mutiert.
Auch bei Peter Hoppe (Name geändert) war
das so. Berger stand schon zehn Mal vor dessen
Tür, zehn Mal wollte der Gerichtsvollzieher darü-
ber sprechen, wie er seine Schulden abbezahlen
könne, zehn Mal hat Hoppe ihn versetzt. Nun
wird Berger dabei sein, wenn in Hoppes Wohnung
der Strom abgestellt wird. Dafür darf sich Berger
Zutritt verschaffen.
Als er vor dem Mehrfamilienhaus ankommt,
sind im Erdgeschoss die Jalousien runtergelassen,
die Fenster zum Garten blickdicht mit Gardinen
zugezogen. Während er mit dem Mitarbeiter vom
Schlüsseldienst diskutiert, wie sie in das Haus
kommen, ohne die Gemeinschaftstür aufzubre-
chen, öffnet sie sich plötzlich von innen. Eine
Frau in Trainingsklamotten steht vor ihnen, Mitte
30, dürr, die Wangen eingefallen. Sie hält Berger
ein Handy entgegen: Hoppe sagt durchs Telefon,
er werde gleich da sein. Dass seine Wohnung ohne
Strom ist, wird er nicht mehr verhindern können.
Berger läuft durch den Flur, vorbei am Bad, in
dem sich gewaschene Teller und Tassen auf dem
Vorleger stapeln. Immer wieder sieht er Menschen,
die die Mengen von ungespültem Geschirr in der
Wanne bewältigen. Hoppe lebt in einer kleinen
Einzimmerwohnung, zusammen mit seiner Freun-
din, dem kleinen Sohn und dem Hund, der mehr
nach Straßenköter aussieht als nach Haustier. Ber-
ger nimmt Platz auf dem verschlissenen Ledersofa,
davor eine dünne Matte mit Decken, ein Bett gibt
es nicht. Sorgen, dass Berger Fernsehgerät oder
Ähnliches pfändet, muss heute niemand mehr ha-
ben. In der deutschen Konsumgesellschaft taugt
ein billiger Fernseher nicht mehr zum Begleichen

von Schulden. Während Berger endlich Hoppes
monatliches Einkommen abfragt, spricht er leiser
als sonst, als wollte er den Mann nicht noch
mehr belasten. »Sie schaffen das nicht allein«,
sagt er zu ihm. Der Mann, der vor Berger auf
dem Boden kniet, als wolle er um Gnade betteln,
widerspricht nicht.
Georg Winkler (Name geändert) kümmert sich
um die, die den Kollaps erleben. Er ist Rechts-
pfleger in der Insolvenzabteilung. Hier erlebt der
54-Jährige täglich, wer die Schwächsten der Ge-
sellschaft sind. Einen Großteil von Winklers Fällen
kann man den Gruppen zurechnen, von denen
bekannt ist, dass sie besonders von Armut be-
droht sind – Rentner, Alleinerziehende, Men-
schen, die mit einem Nettoeinkommen zwischen
1000 und 1300 Euro auskommen müssen. Sie
sind es hauptsächlich, die Privatinsolvenz an-
melden. Wenn ihr Finanzgerüst zusammenbricht,
leiten die Richter-Kollegen von Winkler den Pro-
zess ein, um mit dem, was noch übrig ist, die
Schulden auszugleichen.
Meist gibt es nichts mehr zu verteilen.
Winkler kümmert sich darum, dass alles nach
Vorschrift läuft. Das Insolvenzgericht tagt immer
mittwochs. Der Rechtspfleger sitzt neben dem In-
solvenzverwalter im Gerichtssaal 25 und wartet
entspannt auf die Gläubiger. Seit Jahren beobach-
tet der 54-Jährige, wie immer weniger Verbrau-
cher Insolvenz anmelden. Winkler warnt, das als
Si gnal der Entspannung zu verstehen. Im Gegen-
teil: Er beobachtet, wie leichtfertig Banken Geld
verleihen, wie Versandhändler großzügig Raten-
zahlung anbieten, wie sich viele aufgrund der
niedrigen Zinsen von einem Loch zum nächsten
retten. Ihm graut davor, wenn irgendwann die
Zinsen steigen.

Heute ist eine erste Gläubigerversammlung
angesetzt – der öffentliche Auftakt eines Insolvenz-
verfahrens. Nur hier darf der Verwalter gegenüber
den Gläubigern offenlegen, wie es um das Vermö-
gen des Schuldners steht. Jeder, der eine Forderung
hat, kann hier die Wahrscheinlichkeit ausloten, ob
am Ende noch Geld für die erbrachte Leistung
übrig bleibt. So hat es der Gesetzgeber erdacht.
Während sich vor den anderen Sälen des Ge-
richts bereits Grüppchen bilden, die auf den Start
ihrer Verhandlung warten, bleibt es vor der Tür
des Insolvenzgerichts leer. Ein kurzer Aufruf über
den Lautsprecher, dass die Verhandlung beginnt,
aber niemand tritt ein. Statt wütender Gemüter
ein leerer Saal. »So verläuft derzeit jede Gläubiger-
versammlung«, sagt Winkler. Bis vor Kurzem sei
zumindest noch jemand vom Finanzamt gekom-
men, aber auch dessen Beamten sparen sich die
Geisterversammlung.
Winkler ist rechtlich verpflichtet, hier zu sitzen.
Für den Fall, dass doch jemand auftaucht – je-
mand von einer Bank, einer Versicherung, Ex-
Frauen, Ehemänner oder Unternehmer. Heute
hätten eigentlich 19 Gläubiger Fragen zu dem in-
solventen Transportunternehmen stellen können.
Insgesamt geht es um eine Schuld von 446.
Euro. »Die Aussichten in den Verfahren sind ge-
ring, dass am Ende irgendjemand etwas be-
kommt«, sagt Winkler. »Daher bleiben die meisten
Gläubiger den Versammlungen fern.« Denn auch
hier zu sitzen ist ein Aufwand, der einkalkuliert
werden muss. Inzwischen meldeten viele nicht
einmal mehr ihre Forderung beim Insolvenz-
verwalter an. Winkler sagt: »Die Gläubiger sind es,
die am Ende den Preis zahlen.« Den Preis des an-
dauernden zinslosen Rauschs.
Weil niemand mehr kam, gab es eine Phase, da
setzte Winkler Termine am Insolvenzgericht im
Fünfminutentakt an. Wenn dann plötzlich doch
ein Gläubiger im Saal auftauchte, brach der enge
Zeitplan zusammen. Das passierte meist, wenn
Fälle auf der Tagesordnung standen, bei denen die
Gläubiger den Schuldner verdächtigten, heimlich
das Vermögen zu verschieben. Dann wandelten
sich die Geisterversammlungen zu Streitorgien.
Inzwischen wickelt Winkler die meisten Verfahren
schriftlich ab.
Die Schuldner selbst spricht Winkler nur am
Telefon. Sie melden sich meist, wenn sie wissen
wollen, wie lange es noch dauert, bis das Insol-
venzverfahren abgeschlossen ist und die sogenann-
te Restschuldbefreiung eintritt. Sie sehnen sich
nach dem Moment, in dem sie die Schuldenlast
ablegen können. Winklers Eindruck: »Den
Schuldnern geht es während ihrer Krise selten da-
rum, dass die Gläubiger entschädigt werden. Sie
haben nur ihren eigenen Anspruch im Kopf.« Der
Beamte kann es nachvollziehen. Anders hätten die
meisten nie eine Chance, sich von den Rückstän-
den zu be freien.
Wer seine Schulden mit in den Tod nimmt,
dessen Angehörige kommen in den ersten Stock
des Potsdamer Amtsgerichtes, die Treppe hoch
gleich rechts ist die Geschäftsstelle der Nachlass-

abteilung – ein gefliester Flur mit hohen Decken,
in denen kalte Metallbänke auf den Ansturm war-
ten. Es ist ein Dienstag, der einzige Tag in der
Woche, an dem auch nachmittags Sprechstunde
ist. Schon bevor es losgeht, sitzen hier Wartende
Jacke an Jacke. Später werden es so viele sein, dass
einige stehen müssen und eine Schlange bis ins
Treppenhaus bilden.
Wer die Faktenfragen im ersten Zimmer beant-
wortet hat, wird mit Lächeln und Small Talk per-
sönlich zu Sophia Schmitt (Name geändert) ge-
leitet. Die 53-Jährige stellt Erbscheine aus, nimmt
die Unterschriften für Erbausschlagungen ab. Sie
kommt ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen
und ist seit knapp 20 Jahren am Amtsgericht; eine
freundliche Frau, die fürs Lesen inzwischen im-
mer ihre Lesebrille aufsetzt und so ernster wirkt,
als sie es eigentlich ist. Es scheint wie eine Strate-
gie, es den Besuchern etwas einfacher zu machen


  • und mit Ernsthaftigkeit und bürokratischer
    Sprache erst gar keine Trauerstimmung aufkom-
    men zu lassen. In ihrer Schublade hält sie Taschen-
    tücher bereit.


Erbschaften? Nein, danke, sagen die meisten.
Sind eh nur Schulden

Frau Schmitt sitzt vor ihrem Rechner, das Fenster
offen, um die Dönerluft aus ihrem Zimmer zu
lassen, die von Besuchern zurückgeblieben sind.
Duftnoten ihres Arbeitsalltags. Dann bittet sie
zwei ältere Damen herein. Sie wollen das Erbe aus-
schlagen, sagen sie, wie schon 17 Familienmitglie-
der vor ihnen. Das Schreiben, das die Kette der
Abwehr belegt, halten sie ausgeklappt in der Hand.
Ihr Erbe besteht aus Schulden. »Die habe ich nicht
gemacht – wieso soll ich dafür geradestehen?«, sagt
eine der beiden. Und die andere nickt. Da wären
vorher außerdem noch andere gewesen, die dem
Verstorbenen viel näher standen. Offiziell notiert
Schmitt: Die Frauen geben keinen Grund an, wa-
rum sie das Erbe ablehnen.
An diesem Tag wird Schmitt fast nur Unter-
schriften für Erbschaftsausschlagungen erbeten. Es
ist inzwischen ihr Hauptgeschäft, sagt sie. »Früher,
da haben die Leute auch das Erbe angenommen,
obwohl die Verstorbenen verschuldet waren. Heute
steht kaum noch jemand für die Schulden seiner
Verwandten gerade.« Nun hört sie in ihrer Sprech-
stunde ständig Sätze wie: »Damit will ich nichts zu
tun haben.« Oder: »Wer weiß, was wir da kriegen.
Ich bin zufrieden, ich brauche nicht mehr.«
Manchmal gibt es sogar Leute, die sich über die
30-Euro-Gebühr aufregen, die eine Erbausschla-
gung kostet: »Ich kenn den nicht, und dann soll
ich dafür noch was bezahlen?«
Es ist der Ton, der in den letzten Jahren viel rauer
geworden ist. Aber Angriff sei die vielleicht beste
Verteidigung: So versucht Frau Schmitt die lauten
Momente einzuordnen. Denn irgendwie muss es
doch immer noch so sein, dass sich beim Thema
Schulden hinter der Fassade so etwas wie Scham
verbirgt. Sie bekommt sie allerdings nur noch sel-
ten zu Gesicht.


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 RECHT & UNRECHT


Im Strudel der Schulden


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Illustration: Lea Dohle

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