Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Er spaltet die Familie


Siemens läutet den Abschied vom mächtigen Chef Joe Kaeser ein. Mit ihm wird der Konzern in seiner heutigen


Form verschwinden – und die Frage ist: Was kommt nun? VON ROMAN PLETTER


E


inmal in diesem Frühjahr be-
sucht Siemens-Chef Joe Kae-
ser in Sacramento an der kali-
fornischen Küste eine Zugfa-
brik seines Weltreiches. Wie
stets auf Staatsbesuch trifft er
auch hier nach den Managern
der Fabrik eine Gruppe sogenannter Toptalen-
te. Die jungen Leute haben sich in einem
dunklen Konferenzraum um einen großen
Tisch versammelt und stellen ihrem Vorstands-
vorsitzenden, der kurz zuvor noch den US-
Außenminister getroffen hat, allerlei Fragen.
Wen von den politischen Führern mochten
Sie am liebsten?
»Queen Elizabeth. Sie ist eine beeindrucken-
de Persönlichkeit, die ich sehr bewundere.
Leute wollen oft ein Selfie mit mir. Und das ist
okay. Manchmal denke ich mir dann: Mit wem
würde ich am liebsten ein Selfie machen? Und
das wäre sie.«
Wie können wir verhindern, dass es uns er-
geht wie General Electric?
General Electric, das muss man dazu wissen,
war einmal der größte Siemens-Konkurrent.
Heute ist der US-Konzern ein Sanierungsfall.
Wie also dieses Schicksal verhindern? Kaeser
spricht vor den Talenten von seiner Strategie
»Vision 2020plus«, mit der er die Siemens-
Zukunft sichern wolle, und gibt die Losung aus:
»Nicht arrogant werden, den Kopf unten halten.«
Der US-Außenminister und die Queen als
Peergroup und die Rettung des Konzerns vor
dem Untergang als Mission – das ist ohnehin
schon eine ambitionierte Jobbeschreibung, die
für Siemens-Chefs mit Regierungskunden in fast
allen Ländern der Erde und Hunderttausenden
Mitarbeitern seit je Alltag ist. Bei Joe Kaeser
kommt manchmal erschwerend hinzu, dass er
in der Disziplin Kopf-unten-Halten noch ein
bisschen üben muss.
Seit vergangener Woche ist klar: Viel Zeit
bleibt ihm nicht. Der Siemens-Aufsichtsrat hat
am Mittwoch Personalentscheidungen getroffen,
die die Frage aufwerfen, wann der Mann an der
Spitze einem Nachfolger das Feld überlassen wird.
Es geht dabei um mehr als eine einfache Per-
sonalie. Tatsächlich ist Siemens der letzte in einer
einst langen Reihe von Konzernen, die als indus-
trielle Gemischtwarenläden die Wirtschaftswelt
geprägt und Millionen Menschen Arbeit gege-
ben haben. Kaesers Nachfolger wird Siemens
nicht mehr auf diese Weise führen können.

Andreas Willi nennt das Unternehmen
einen »Überlebenden« aus einer vergangenen
Zeit. Seit 19 Jahren beobachtet er Siemens als
Analyst für die Investmentbank JP Morgan. Es
gibt wenige Experten, die Geschichte und Ge-
schäfte des Konzerns so gut kennen wie er.
Auch mit den großen Konkurrenten hat er sich
beschäftigt, die wie Siemens von der Glühbir-
ne bis zum Kraftwerk alles bauten, was mit
Strom zu tun hatte. Doch die gibt es heute
nicht mehr.
Willi sagt: »Von all den Konglomeraten, die
mit Glühbirne und Stromerzeugung begonnen
haben wie General Electric und Westinghouse
in den USA, wie Siemens und die AEG in
Deutschland, wie GEC in Großbritannien, wie
Alstom in Frankreich, wie Toshiba in Japan –
von all diesen Unternehmen ist eigentlich nur
Siemens heute noch ein relativ profitables und
erfolgreiches Unternehmen mit Relevanz in den
wichtigen Märkten der
Elektrifizierung.«
Philips? Betreibt noch
die Gesundheitstechnik,
die Lichtsparte ist ver-
kauft. GEC? Praktisch
bankrott. Alstom? Nur
noch Transport. AEG?
Pleite und zerlegt. Wes-
tinghouse? Zerlegt.
In dieser Welt ist Sie-
mens ein Dinosaurier, der
überlebt hat und verloren zwischen Bulle und
Bär vor der Börse steht. Aus Sicht von Willi hat
der Konzern »eine Struktur, die nicht mehr die
Berechtigung hat zu existieren, weil es die Sy-
nergien von früher nicht mehr gibt aus Energie
und Strom und damit verbundenen Geräten«.
Eine Struktur ohne Existenzberechtigung?
Und das bei einem Unternehmen, dessen Chef
eine Art Außenminister der deutschen Industrie
ist? Zu dessen Bedeutung dem ehemaligen Wirt-
schaftsminister Sigmar Gabriel zuerst ein Besuch
mit Kaeser beim Präsidenten Ägyptens einfällt?
Von dem Gabriel erzählt: »Der Präsident wollte
offenbar unbedingt dieses deutsche Unterneh-
men. Fast so, als habe er mit Deutschland einen
Vertrag gemacht. Das war Pars pro Toto. Das
Unternehmen für das Land.«
Nationaler Stolz und Tradition sind an der
Börse keine Kategorien. Was zählt, ist die Zu-
kunft. Willi und seine Kollegen glauben nicht
an die von Gemischtwarenläden.

»Ein Konglomerat«, sagt Willi, »kann ja nicht
so gut und effizient geführt sein wie ein pure
play.« Ein pure play, ein reines Spiel, erkannten
Willi und seine Kollegen im Siemens-Konzern
irgendwann nur noch in den digitalen Industrien
und der Infrastruktur. »Was nicht reinpasste«,
sagt Willi, »das sind Gesundheitstechnik und
Kraftwerkssparte. Darum ist die Entscheidung,
beide separat zu führen, mit einem direkten Zu-
gang zum Kapitalmarkt, auch richtig.«
Kaesers Vision 2020plus liefert Willi und
dem Kapitalmarkt genau das. Nach sechseinhalb
Jahren an der Spitze führt Kaeser ein geteiltes
Reich. Er hat den Konzern, der seit dem Bau
erster Telegrafenanlagen vor 172 Jahren eine ein-
zige Geschichte von Metamorphosen ist, selbst
für dessen Verhältnisse radikal filetiert.
Wo früher unter einem Dach verschiedene
Sparten sich gegenseitig halfen, wenn es etwa
bei den Kraftwerken besser lief als bei den
Zügen oder Telefonen,
gibt es nun mehr oder
weniger unabhängige Fir-
men: die Medizintechnik
unter dem Namen Healt-
hineers (schon eigenstän-
dig an der Börse, Siemens
hält Anteile), die Kraft-
werke (werden gerade vom
Konzern getrennt, kom-
men mit der Windkraft an
die Börse und erhalten
vielleicht auch einen ulkigen Namen) und die
digitale Industrie plus die Mobilität (heißen bis-
lang weiter Siemens, wobei die Mobilität viel-
leicht auch bald eigenständig wird).
Fokussierte Unternehmen seien in dieser
schnellen digitalen Welt besser aufgestellt, um
zu überleben, sagt Kaeser. Der Druck von Willis
Kollegen und Investoren, den komplizierten
Konzern zu entflechten, tat sein Übriges. Kaeser
sorgte sich, davon sprach er oft, dass sie mit sei-
nem Unternehmen sonst umgehen würden wie
mit Thyssenkrupp. Dass sie ihn in die Aufspal-
tung treiben. Den genauen Unterschied zu der
von ihm selbst betriebenen Zerschlagung kann
allerdings auch Kaeser nicht so richtig erklären.
Die Frage ist: Was bleibt?
Zuletzt sprach der Vorstandschef ab und an
von einem Erbe, das er hinterlassen wolle. Ihm
scheint so etwas wichtig zu sein. Er ist ja auch ein
Mann, der privat in Wald investiert, was bedeu-
tet, dass er vielleicht nicht mehr leben wird, wenn

seine Kinder die Bäume schlagen. Heute fährt
er nur manchmal mit einem Quad, einer Art
vierrädrigem Geländemotorrad, hindurch.
Die Frage nach Kaesers Erbe als Konzernchef
ist komplizierter. Es wird einerseits darum gehen,
was die Investoren später an Gewinnen ernten.
Es wird aber auch eine Rolle spielen, ob er als der
Mann in Erinnerung bleiben wird, der Siemens
in drei erfolgreiche Unternehmen überführt hat,
die vielen Menschen Arbeit geben und von de-
nen eines vielleicht sogar noch Siemens heißt –
oder ob Siemens dann wie die AEG-Philips-
Alstoms ein Schatten seiner selbst sein wird. Es
geht dem an seiner Außenwirkung nicht uninte-
ressierten Chef also auch um sein Bild in der, nun
ja, Geschichte. Dabei ist es komplizierter gewor-
den, dieses Bild in klaren Konturen zu zeichnen,
seit der Kapitalmarkt für einen Vorstandschef
nicht mehr das einzige Maß aller Dinge sein soll.
Der Siemens-Umbau fällt nämlich mit einer
Debatte zusammen, die Chefs großer US-Kon-
zerne zurzeit zumindest vorgeben zu führen:
Kürzlich haben einige von ihnen in einem Mani-
fest den in der Managementlehre lange Zeit
dominanten Gedanken kritisiert, dass sie vor
allem den Aktionären dienten. Einer der neuen
Wortführer ist Larry Fink, der Chef des Invest-
mentkonzerns Blackrock, der auch Anteile an
Siemens hält. Kaeser trägt manchmal Manschet-
tenknöpfe in Hundekopfform, die Fink ihm
geschenkt hat. Er spricht auch gerne wie Fink von
purpose, dem tieferen Zweck, den ein Unterneh-
men habe. Dass eben nicht das Geschäft selbst
Zweck des Geschäfts sei, sondern etwa jener der
Medizintechnik die Gesundheit von Menschen.
Dazu hat Kaeser vor ein paar Monaten einen
»inklusiven Kapitalismus« gefordert. Dieser
müsse die soziale Drift zwischen Arm und Reich
in den Griff kriegen, wobei da in Bezug auf
Kaesers eigene Entlohnung noch Raum für Ver-
besserungen ist – auch wenn er selbst gerne allen
Ernstes sagt, seine fast zehn Millionen Euro
Jahresgehalt seien ein verhältnismäßiger Lohn.
Insofern steht Kaesers Rede vom inklusiven
Kapitalismus ebenso wie die Kritik seiner Kolle-
gen am Shareholder-Value für den Wunsch,
nicht nur als renditegetriebene Millionäre wahr-
genommen zu werden. Es folgt daraus aber ge-
meinhin nichts, was ihnen selbst wehtut. Und
mit den Konglomeraten schaffen sie etwas ab,
was vielen Beschäftigten zumindest ein Gefühl

Joe Kaeser ist seit
2013 Vorstandschef
der Siemens AG

Die Investoren


glauben nicht


mehr an Gemischt-


warenläden


Fortsetzung auf S. 22

Künftige Siemens AG

Das neue


Siemens-Reich


Umsatz 2018 der verschiedenen
Unternehmensbereiche

Digitale
Industrien
(digitale Fabrik,
Fabriksteuerung)

Bahntechnik

Intelligente
Infrastruktur
(Stromnetz-
steuerung,
smarte
Gebäude)

Siemens Healthineers
Medizintechnik (Börsengang März 2018)

Gas und Energie
Kraftwerke, Öl- und Gastechnik
(geplanter Börsengang 2020)

13,4
Mrd. €

15,6
Mrd. €

14,4
Mrd. €

8,8
Mrd. €

ZEIT-GRAFIK/Quelle: Siemens
Überleitung/Konsolidierung: –2,3 Mrd. €

30,0
Mrd. €

Prognose

Foto: Thomas Pirot für DIE ZEIT; ZEIT-GRAFIK/Quelle: Siemens

21


ANZEIGE


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40


WIRTSCHAFT


GIGA


desMonats


Mit der Multilayer-Power
zurGigabit-Republik S.

GIGA


des Monats


Mit der Multilayer-


Powerzur


Gigabit-Republik S.

Free download pdf