Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

GRÜNER LEBEN


Wolle oder Plastik? Das schlechte Gewissen wickelt mit

Foto: Deepol/plainpicture

In trockenen


Tüchern


Umweltbewusste Eltern wickeln ihre Babys mit Stoffwindeln.


Eklig, dachte unser Autor. Und probierte es aus VON OSKAR PIEGSA


D


er Weg zum nachhaltigeren
Konsum beginnt damit,
dass ich meine Schuhe aus­
ziehe, mich zwischen mir
unbekannten Menschen
auf den Fußboden setze
und zweieinhalb Stunden
nur über Pieseln, Pieschern, Pupsern und Ka­
ckern rede. Es ist ein Sonntagvormittag im Au­
gust, und ich besuche einen Workshop von Ka­
tharina Birkholz, einer »zertifizierten Stoffwindel­
beraterin«, wie es auf ihrer Website heißt.
Drei Schwangere sind in Begleitung ihrer
Partner gekommen, zwei weitere allein, ein vier­
tes Paar hat sein Baby mitgebracht, das im Tra­
gegurt an Papas Brust schlummert. Uns eint,
dass wir unseren Plastikmüll reduzieren wollen.
Wir suchen nach Alternativen zur Wegwerf­
windel. Deshalb treffen wir uns in einem dieser
Krämerläden, wie es sie in den Szenevierteln der
Großstädte heute wieder gibt: In den Regalen
liegen Rasierseife und Bambuszahnbürsten.
Couscous, Quinoa und rote Linsen lagern plas­
tikfrei in Einmachgläsern, hinter mir kocht die
Inhaberin noch schnell einen Dinkelmilch­
Cappuccino. Ich sitze in einem Tante­Emma­
Laden, um mehr über Stoffwindeln zu erfahren.
Das 21. Jahrhundert hatte ich mir irgendwie
anders vorgestellt.


Dreimal pro Woche schleppe ich zwei Kilo
Wickelmüll zum Container im Hof


Dass ich hier gelandet bin, hat mit meinem
schlechten Gewissen zu tun. Ich bin Ende letzten
Jahres zum zweiten Mal Vater geworden. Und es
lässt sich nicht leugnen, dass der ökologische
Fußabdruck unseres Haushalts angeschwollen
ist, seit ein Baby darin lebt. Kinderkleidung kau­
fen meine Frau und ich überwiegend gebraucht,
das Essen ist meist vegetarisch, in drei von vier
Urlaube fahren wir mit der Bahn. »Überwie­
gend«, »meist«, »drei von vier«: Das ist nicht he­
roisch, aber machbar. Ökostrom und kein Auto
haben wir eh.
Das Problem sind die Windeln: Etwa alle
zwei Stunden braucht das Baby eine frische.
Dreimal pro Woche schleppe ich zwei Kilo rei­
nen Wickelmüll zum Container im Hof. Das ist
eine Plastiktüte gefüllt mit Plastikwindeln, die
ich in einer Plastikverpackung gekauft habe.
Geht das besser? Ja, lese ich: mit Stoffwindeln.
Das seien heute keine Mulltücher mehr, wie
noch zu Omas Zeiten, sondern ganz moderne
Produkte.
Zudem spare man damit Energie, also CO₂,
lese ich. Vor zehn Jahren hatte eine Studie des
britischen Umweltministeriums noch das Ge
genteil ermittelt und damit Schlagzeilen ge
macht: Plastikwindeln seien energiesparender,
hieß es. Tatsächlich gingen die Studienautoren
von sehr speziellen Umständen aus, und davon
hängt die Ökobilanz der Stoffwindeln entschei
dend ab. Wenn man richtig damit umgeht – wa
schen bei 60 statt bei 90 Grad, trocknen an der
Wäscheleine statt im Trockner –, schneidet die
Stoffwindel besser ab. Organisationen wie der
BUND und das Magazin Öko-Test raten deshalb
zur Stoffwindel.
Die Idee, benutzte Windeln auszuwaschen,
klingt für mich erst mal unangenehm. Aber nicht
so unangenehm wie die Vorstellung, meinen
Kindern einen Höllenplaneten zu hinterlassen,
mit Waldbränden, Sturmfluten und riesigen
Plastikwindel­Atollen, wo einst der Pazifik war.
»Hattest du schon mal eine Kacka­Explosion?«,
fragt Katharina Birkholz und schaut mich an. Ich
bin einer der wenigen Teilnehmer ihres Work­
shops, die bereits ein Kind haben und es bisher
konventionell wickeln, deshalb werde ich aufgeru­


fen als Zeuge der Anklage im Prozess gegen die
Wegwerfwindeln. »Eine, äh, was?«, frage ich. »Eine
Kacka­Explosion!«, sagt Birkholz. »Das ist, wenn
das Kacka beim Baby hinten so den Rücken hoch­
schießt.« Fürs Protokoll: Ja, ich hatte schon mal
eine Kacka­Explosion. Und mehr als einmal. »Mit
Stoffis gibt’s das nicht«, sagt Birkholz und demons­
triert den Gummizug, der das große Geschäft in
der Stoffwindel halten soll. Außerdem, erklärt
Birkholz, seien Stoffwindeln langfristig günstiger.
Und einiges spreche dafür, dass »Stoffi«­Kinder
schneller allein aufs Klo gingen.

Beim ersten Versuch mit der Stoffwindel
sieht das Baby nicht sehr glücklich aus

Katharina Birkholz ist 25 Jahre alt, Mutter einer
kleinen Tochter und eine von fünf Frauen, die
in Hamburg nebenberuflich Stoffwindelbera­
tung anbieten. Ihre Workshops sind oft ausge­
bucht, denn die Welt der Stoffwindeln ist un­
übersichtlich. Während fast jede Plastikwindel
identisch ist, gibt es hier verschiedene Systeme,
Hersteller und Materialien. Grundsätzlich, so
lerne ich, bestehen Stoffwindeln aus drei Teilen:
aus einer Überhose, die in der Regel aus Kunst­
stoff ist, einer Saugeinlage aus Textil und einem
Vlies aus Zellulose, das das große Geschäft auf­
fängt. Das Vlies ist der einzige Teil der Windel,
der nicht gewaschen, sondern weggeworfen
wird. Er ist kompostierbar.
Die Unterschiede der verschiedenen Windel­
systeme bestehen darin, wie die Saugeinlage in
der Überhose befestigt wird. Ist sie festgenäht,
nennt man das »All­in­one«, wird sie gefaltet hi­
neingelegt, spricht man von »Prefold« – viele
Hersteller stammen aus Großbritannien oder den
USA. Einlagen gibt es aus verschiedenen Materia­
lien (Mikrofaser, Baumwolle, Bambus, Hanf ),
die sich in ihrer Saugkraft, Sanftheit und Nach­
haltigkeit unterscheiden. Nachts empfehlen sich
andere Systeme als tagsüber, für speckige Babys
andere Hersteller als für dürre, es gibt unkompli­
zierte Systeme, die man auch der Schwiegermut­
ter oder den Kita­Erziehern zumuten kann (Ach­
tung, nicht alle Kitas akzeptieren Stoffwindeln!),
und aufwendige für Hardcore­Ökos, die nicht
nur Plastikmüll reduzieren, sondern komplett
kunststofffrei leben wollen. Statt der Überhosen
aus Polyester gibt es für sie Wollhöschen, die man
nach jedem Waschen neu einfetten muss.
»Der Umweltaspekt ist das eine«, sagt Birkholz,
als ich frage, wie sie zu den Stoffwindeln kam.
»Aber ich glaube, mich haben vor allem die süßen
Muster gereizt.« Ich kann das verstehen: Wegwerf­
windeln wirken immer so, als würde man seinem
Baby einen Plastiksack um den Unterleib kleben.
Die Überhosen der Stoffwindeln sehen hingegen
wie Kleidungsstücke aus. Sie sind hochwertig ver­
arbeitet, haben bunte Druckknöpfe und Muster.
Es gibt sie mit Schmetterlingen oder Kolibris, mit
Donut­ oder Sushi­Aufdruck. Hübscher auf
Instagram ist der Babypopo in Stoffwindeln.
Tatsächlich sind die Stoffwindeln bisher ein
Netzphänomen. In den Filialen der Drogeriemärkte
findet man sie nicht, auch die großen Biomarkt­
ketten halten sich noch zurück. Ich erkundige
mich in den Baby­Boutiquen, die es in meinem
Stadtviertel gibt, aber die Eigentümerinnen win­
ken ab. Stattdessen läuft der Verkauf übers Inter­
net, genau wie der Großteil der Beratung, die von
sogenannten Mamabloggern übernommen wird.
Das sind Influencer für Erwachsene, die keine
Lippenstifte und Sneaker empfehlen, sondern
Babybreie und Windeln. Fast alle von ihnen be­
kommen eine Provision, wenn sie ihre Fans in die
Online­Shops der Hersteller lotsen. Seriös finde
ich das nicht, aber die Beratung im Wickelwork­
shop hat mich überzeugt. Ich bestelle mir einige
Stoffwindeln und starte ein Experiment.

Schwierigkeitsstufe 1: Wickeln im Alltag. Meine
erste Stoffwindel ist eine Enttäuschung. Sie feuchtet
an den Rändern durch. Das Baby sieht auch nicht
besonders glücklich aus, sein Po leuchtet rot und
wund. Wegwerfwindeln saugen die Feuchtigkeit
auf und halten die Haut trocken. In Stoffwindeln
trägt das Baby feuchte Lappen um die Lenden. Im­
merhin: Die zweite Windel hält. Die dritte auch.
Und die Hautreizungen verschwinden. Das Waschen
ist übrigens kein Problem: Da das Baby gerade selbst­
ständig zu essen übt, türmen sich die Wäsche­
berge ohnehin. Die zusätzlichen Windeln fallen
kaum ins Gewicht.
Schwierigkeitsstufe 2: Ich werde mutiger und
nutze die Stoffwindeln jetzt nicht nur zu Hause,
sondern auch unterwegs. Ich wickle das Baby über­
all, wo es sein muss: In den komfortablen Eltern­
Kind­Räumen der Einkaufszentren, in den engen
Toilettenkabinen der Hipster­Cafés, auf Tischtennis­
platten und einmal im Fahrradabteil eines Regional­
zugs (»WC defekt«). Letzteres erweist sich als Pro­
blem: Für die feuchte Saugeinlage habe ich einen

sogenannten Wetbag dabei, einen geruchsdichten
Beutel, der zu Hause einfach mit in die Wasch­
maschine kommt. Was aber mache ich mit dem
kotverschmierten Vlies? Eigentlich soll es in den
Müll, aber hier geht das nicht. Der Geruch würde
sich im ganzen Waggon ausbreiten. Ich bräuchte
kleine Plastiktüten, wie Hundebesitzer sie bei sich
tragen. Immerhin: Auch die gibt es inzwischen in
einer biologisch abbaubaren Variante.
Schwierigkeitsstufe 3: Mehrere Wochen lang
habe ich mich gescheut, die Stoffwindeln auch
nachts zu verwenden, jetzt wage ich es doch. Gegen
Mitternacht bekommt das Baby noch eine Flasche,
dann ist Ruhe. Doch um kurz nach drei beginnt es
zu meckern. Windel, Body, Schlafsack: alles nass.
Die Stoffwindel hat spektakulär versagt, trotz Saug­
booster aus Hanf. Doch auch, wenn sie dicht ge­
halten hätte: Finde ich zumutbar, dass das Kind
noch mehrere Stunden im Feuchten schlummert?
Nein, finde ich nicht. Schlaftrunken stehe ich am
Wickeltisch und beschließe grimmig, nachts wieder
mit Plastik zu wickeln.

Schwierigkeitsstufe 4: Nach Abgabe dieses Textes
werde ich mit meiner Familie in den Urlaub fahren.
Anderthalb Wochen Spätsommersonne, ich freue mich
darauf. Doch es zeichnet sich ab, dass die Windel­
logistik kompliziert wird. In unserer Unterkunft haben
wir keinen Zugang zu einer Waschmaschine. Eine
zusätzliche Reisetasche nur mit Überhosen, Saug­
einlagen und Wetbags mitzunehmen wäre wohl kein
Problem, wenn wir mit dem Auto fahren würden. Aber
das tun wir nicht. Wir reisen nur mit dem, was wir
selbst tragen können. Im Urlaubsort gibt es einen Dis­
counter. Wir werden dort Wegwerfwindeln kaufen.
Nach einem Monat ziehe ich Bilanz: Die Win­
delberaterin Katharina Birkholz war sicher, dass mich
die »Stoffis« begeistern würden. Das ist nicht der Fall.
Aber das Wickeln war weniger umständlich – und
meist auch weniger eklig –, als ich erwartet hatte.
Selbst wenn ich die Stoffwindeln nicht rund um die
Uhr verwende, helfen sie, Müll zu vermeiden. Ich
beschließe, sie weiterzuverwenden, im Mix mit Plastik­
windeln. Nennen wir es: die Hybridlösung. Das ist
nicht heroisch, aber machbar.

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  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 WIRTSCHAFT 33


Überallaufder WeltsprießenStadtgärtenwiePilzeausde mBoden
–auchinDeutschland.AufParkplätzen, inHinterhöfenundauf
HochhausdächernhabenUrban-Gardening-InitiativenbunteOasen
erschaffen.NebenGras,BlumenundBüschengedeihenhierauch
Kräuter ,GemüseundObst.

DerPrinzessinnengarteninBerlin-Kreuzbergisteinesderbekanntes-
tenProjekt eEuropas.AnstattMöhrenundErdbeerenimSupermarkt
zukaufen,ziehenMenschenmitSpitzhackeundGießkannegemein-
samlos,säenSamenundpflanzenSetzlinge.

Urban-Gardening-Vorreiter inDeutschlandistBerlin:Hierhatdas
städtischeGärtnernimwahrstenSinnedesWortesFlügelbekommen.
EssummtundbrummtinderHauptstadt –auchaufdemAlexander-
platz imBezirkMitte.Seit2015habendort,inBienenstöckenaufdem
Dachder BerlinerSparkasse,BienenihrZuhause.Damitunterstützt
dasFinanzinstitutdievonderStiftungfürMenschundUmwelt
geschaffeneInitiative„Berlinsummt!“.

Jenach Wetter könnendieImkerhierein-biszweihundertKiloHonig
imJahrabfüllen.Auchwennesparadoxklingt:In ParksundGärten,
aufdengrünenVerkehrsinselnundBalkonenfindendieBienenmehr
NahrungalsindenMonokulturenaufdemLand.

AuchinanderenStadtgärtenstehenBienen stöcke.Vonhier aus ziehen
dieInsektenlosundbestäubenJahrfürJahrhunderttausendeBlüten,
damitBlumen,BüscheundBäumeimmerwiederbuntblühenkönnen.

SoschafftUrbanGardeningnichtnurbunteOasen inden Beton-
wüstenderGroßstädteundeinHeimfürBienen.Esbietetauchgute
Gelegenheiten,andereMenschenzutreffen.Und:Hiervollzi ehtsich
eineUmkehrung.WasdieStädteJahrzehnt elanggetrennthaben,
verbindensienun:MenschundNatur.

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Jahrbiszu200KiloHonig.

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Projek teEuropas.

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