Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Ran an den geistigen Speck!


G


eben wir uns keiner Illusion hin: Das
Gehirn altert. Jenseits des 50. Lebens-
jahrs merken wir, dass Gehirnprozesse
schleppender ablaufen. Man lernt lang-
samer, und die Präzision des Gedächtnisses lässt
nach. Ein Teil dieses Effekts ist dadurch bedingt,
dass alle fünf Jahre ein Prozent aller Nervenzellen
in älteren Gehirnen abstirbt. Allerdings kann ein
Teil dieses Verlustes im Mastermind des bewussten
Gedächtnisses, dem Hippocampus, ausgeglichen
werden. Nur dort können auch noch bei Erwach-
senen neue Nervenzellen gebildet werden.
Diesen Prozess können wir durch unseren
Lebensstil fördern. Zum einen lässt sich feststellen:
Lernen hilft. Es scheint fast so, als ob das Gehirn,
zumindest im Hippocampus, an seinen Aufgaben
wächst. Das ist ein wichtiges Argument für lebens-
langes Lernen, denn die neu entstandenen Neu-
ronen sind auch dann besonders gut geschützt,

wenn krankhafte Abbauprozesse das alternde Ge-
hirn massiv schädigen.
Ein anderer Faktor, der im Hinblick auf das
Alter meist vergessen wird: Das präzise Auffinden
von Erinnerungen ist in riesigen Datenmengen
einfach schwieriger – und mit dem Alter nimmt
die Menge gespeicherter Informationen natürlich
zu. Man muss daher gut unterscheiden, was im
Alter tatsächlich schlechter wird und ab wann wir
einfach anders lernen und erinnern.
Ältere Gehirne haben durchaus eigene Stärken,
zumindest in Bereichen, in denen sie lebenslang
trainiert werden, etwa bei der Präzision sprach licher
Beschreibungen. Nicht allein das Altwerden macht
klug – aber wer lange lernt und mit offenen Augen
die Welt erlebt, sammelt ungeheure Schätze an.
Die These lautet also: Das Alter ist eine Ent-
wicklungsstufe mit besonderen Herausforderun-
gen für unser Gehirn. Als Gesellschaft müssen wir

DER EXPERTE

VON MARTIN KORTE

uns deshalb fragen, was wir von älteren Mitbürgern
am Arbeitsplatz, in der Familie, im Verein erwar-
ten – wir müssen eine Alterskultur entwickeln.
Am Arbeitsplatz hilft es, wenn Lernen und
Fortbildung gefördert werden. Das schafft Inno-
vationsvorteile und hält zugleich Gehirne jung –
denn je länger ein Gehirn gefordert wird, desto
leistungsfähiger bleibt es. Für Betriebe gilt außer-
dem, dass das Miteinander von forschen, schnel-
len Mitarbeitern und abgeklärten, wissenden
Kollegen aus Sicht eines Hirnforschers die opti-
male Belegschaft ausmacht.
Und auch die körperliche Gesundheit ist
wichtig fürs Gehirn. Wer im Alter von 60 oder
75 Jahren noch ein optimal leistungsfähiges
Denkorgan haben will, sollte vor dem 50. Lebens-
jahr damit anfangen, einige Dinge zu beachten:
Er sollte auf sein Gewicht achten, sich gesund
ernähren und Bluthochdruck sowie Diabetes

vermeiden oder behandeln lassen. Er sollte sich
regelmäßig bewegen – denn Sport hilft auch dem
Gehirn; in vielen Berufen jedoch fehlt heute die
körperliche Aktivität. Zudem sollte man sein
Gehör kontrollieren lassen, denn Hörprobleme
führen oft zu sozialer Isolation, was Gehirne
mehr schädigt als lange gedacht. Die Zähne gilt
es zu pflegen, denn entzündliche Reaktionen im
Mundbereich schädigen indirekt auch das Ge-
hirn. Und man sollte nicht am Schlaf sparen,
dieser dient nämlich im Gehirn unter anderem
dem Abtransport von Abfallprodukten, dem
Ausgleich des Energiehaushaltes von Neuronen
und der Regulation des Salzhaushaltes.
Bei alldem gilt wie beim lebenslangen Lernen:
Nicht lange wohlklingende Vorsätze schmieden,
sondern konkrete Pläne machen und danach han-
deln. Ran an den Speck – den körperlichen und
den geistigen!

Ist die Polizei brutal?


Eine Studie über Dunkelziffern bei Polizeigewalt erregt mediales Aufsehen. Doch es gibt Zweifel an den Ergebnissen VON TIN FISCHER


STATISTIK • HIRNFORSCHUNG


H


inter jedem angezeigten Poli-
zei-Übergriff verbergen sich
nicht angezeigte, geschätzt
sind es fünf. Weil die Opfer
Anzeigen für zwecklos hal-
ten, weil die Polizisten nicht
identifizierbar sind, weil Op-
fer Gegenanzeigen fürchten. Das steht in einer
Studie der Ruhr-Universität Bochum. Von einem
verdrängten und kaum bekannten Problem ist in
der Presse nun die Rede. 12.000 Fälle von Polizei-
gewalt gebe es jedes Jahr, jede fünfte Verletzung sei
schwerwiegend.
Die Studie ist die erste Untersuchung ihrer Art
in Deutschland. Sie versucht herauszufinden, wel-
che Polizeigewalt gar nicht erst zur Anzeige
kommt, wie groß also das Dunkelfeld ist. Doch
das herauszufinden ist schwierig, schließlich gibt
es legitime Gewalt bei Polizeieinsätzen. Die Studie
kann daher nur erheben, was die Betroffenen als
nicht legitim empfanden. Welche Erkenntnisse
über Polizeigewalt also kann eine solche Unter-
suchung überhaupt liefern?
Die Autoren selbst, der Kriminologe Tobias
Singelnstein und seine Mitarbeiter, weisen darauf
hin, dass die Studie nicht repräsentativ sei. Sie haben
den Link zu ihren Online-Fragebögen an 1500 Or-
ganisationen geschickt, an Medien, NGOs, Foren.
Eine Zufallsstichprobe entsteht so natürlich nicht –
für eine andere Erhebung der Daten aber wäre der
Aufwand immens gewesen.
Googelt man, wer den Link zur Umfrage weiter-
verbreitet hat, findet man vor allem eher linke
Medien und Gruppen sowie Foren von Fußballfans.
Es wurden also Menschen erreicht, die eher zu
Demonstrationen und Großveranstaltungen gehen
als andere. Am Ende antworteten 55 Prozent aller
Teilnehmer, sie hätten Gewalt bei Demonstrationen
erlebt – 25 Prozent bei Fußballspielen oder Großver-


anstaltungen. Gefragt worden waren sie: »Ist Ihnen
rechtswidrige Polizeigewalt widerfahren?«
Erstes Problem der Studie: Was genau ist rechts-
widrig? Die meisten Teilnehmer werden das nicht
juristisch korrekt beantworten können, zudem
empfindet dies jeder anders. Das zweite Problem:
Die Studie fragt nur nach dem schwerwiegendsten
Fall, den man erlebt hat. So gelangten überpropor-
tional viele ernste Zwischenfälle in die Stichprobe.

nicht justiziable Fälle möglichst ausschließen. Bei
manchen Taten ist das einfach: »Wurde Ihr Fahrrad
geklaut, und Sie haben es nicht angezeigt?« Wer mit
»Ja« antwortet, ist (ziemlich sicher) Opfer einer Straf-
tat im Dunkelfeld. Bei Polizeigewalt sind solche
Fragen ungleich schwieriger und heikler. Denn ob
ein Polizeieinsatz tatsächlich eine Straftat ist, lässt sich


  • anders als bei einem Fahrraddiebstahl – nur äußerst
    schwer und meist erst in aufwendigen Gerichtsver-


fahren entscheiden. Was die Studie dabei abfragt, ist
problematisch. Etwa, ob man »geschubst oder zur
Seite gestoßen« wurde. »Geschubst« impliziert Ab-
sicht, »zur Seite gestoßen« wird man auch mal, wenn
ein Polizist irgendwo schnell durchrennt – also keine
Polizeigewalt vorliegen muss. Die Studie fragt auch,
ob man »festgehalten/zu hart angefasst« wurde. Was
aber als »zu hart« empfunden wird, variiert von Person
zu Person. »Man sollte die Leute nicht unterschätzen«,
wendet Singelnstein ein, »sie haben ein gutes Gefühl
dafür, was die Polizei darf und was nicht.«
Aus dem Anteil erstatteter Anzeigen (vonseiten
der Umfrageteilnehmer) berechneten die Autoren
daraufhin, dass etwa fünfmal so viel Polizeigewalt
passiert sei, wie in der offiziellen Statistik auftaucht.
Nur, wie verlässlich ist so eine Zahl? Schließlich
könnten mehrere Faktoren die Daten verzerrt haben:
viele schwere Fälle in der Stichprobe, viele juristisch
fragwürdige, viele, die sich während einer Demons-
tration ereignet haben.
Diese Verzerrungen schaffen ein zusätzliches
Problem. Sie lenken die Aufmerksamkeit womöglich
weg von den eigentlichen Opfern von Polizeigewalt.
Besonders stark könnte eine Gruppe betroffen sein,
die in der Studie nur zwanzig Prozent der Teilnehmer
ausmacht: Menschen, die allein unterwegs waren.
Hier sind die typischen Opfer der Studie zufolge
etwas älter und haben eher einen Migrationshinter-
grund. Sie könnten häufig mit Polizeigewalt kon-
frontiert sein, nicht nur an Demo-Wochenenden. Sie
geraten in Ausweiskontrollen und/oder werden
durchsucht, festgehalten, fixiert. Möglich ist auch,
dass sie deutlich schwerere Verletzungen davontrugen
als etwa ein Demonstrant auf einer Kundgebung.
Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Alltags-
Opfer an einer Umfrage teilnehmen, ist wesentlich
kleiner – hier könnte jenes eigentliche Dunkelfeld
der Polizeigewalt liegen, das auch die Studie nur
schwer erreicht.

Fotos: Jonas Wresch/Agentur Focus; privat (u.)
Teilnehmer an Demonstrationen erleben überdurchschnittlich oft Polizeigewalt

Der 55-Jährige ist Professor
für Neurobiologie an der
TU Braunschweig. Vor
kurzem erschien sein Buch
»Hirngeflüster« über das
lebenslange Lernen

Als Auffälligkeit kommt hinzu, dass die meisten
Fälle aus den vergangenen Jahren stammen. 2017
etwa sind über 200 Fälle mehr verzeichnet, als
statistisch zu erwarten gewesen wären. Das könnte
mit den Protesten zum G20-Gipfel in Hamburg
zu tun haben – und verzerrt die Ergebnisse.
Generell versucht man in Dunkelfeldstudien die
Fragen so zu formulieren, dass eine Bejahung auf eine
Straftat schließen lässt. Auf diese Weise will man,

36 WISSEN 26. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40


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