Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Der Af D kommt das


überraschende


Verdienst zu, aus der


deutschen Tradition


auszubrechen


Der englische Moralphilosoph macht den »gesun-
den Menschenverstand«, wie die Übersetzung bald
im Deutschen lautete, zur Richtschnur nicht nur
des praktischen Lebens, sondern auch der allge-
meinen Erkenntnis. Wer nach ihm verfährt, hält
sich dieser Schule zufolge an das, was wahrschein-
lich ist, nachvollziehbar, anschaulich und zweck-
tauglich. Er nutzt Analogien, Vergleiche, Bilder.
Seine Ausgangspunkte sind stets konkrete Erfah-
rungen und beobachtete Phänomene, aus denen
eine allgemeine Erkenntnis hervorgeht. Der ge-
sunde Menschenverstand funktioniert damit im
aristotelischen Sinn »induktiv«. Und nicht zuletzt:
Er wurzelt in gefühlsbasierten Vorstellungen von
menschlicher Zusammengehörigkeit; er zielt auf
eine Kultur moralischer Gefühle.
In Deutschland wurden Shaftesbury und seine
Nachfolger eifrig gelesen – und ebenso eifrig berei-
nigt. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer klagte:
Bei der Rezeption der englischen Tradition habe
man »den politisch-sozialen Inhalt, der mit sensus
communis gemeint war, nicht mitübernommen«.

Bis heute ist der gesunde Menschenverstand im
Deutschen deshalb vor allem in einer Schwund-
form geläufig. Die Betonung liegt darauf, dass
etwas selbstverständlich ist. Und nicht: dass es für
uns alle so ist.
Die AfD hält es anders. Ihr kommt in diesem
Fall das überraschende Verdienst zu, aus der deut-
schen Tradition auszubrechen. Die Partei knüpft
an die volle Bedeutung des Begriffs an, weil gesun-
der Menschenverstand bei ihr auch immer Zusam-
mengehörigkeit und miteinander geteiltes Wissen
meint. Doch hat ihre politisch-soziale In ter pre ta-
tion einen Preis, und der heißt: Populismus. Der
gesunde Menschenverstand ist bei der AfD ein
Wissen, das sich gegen eine vermeintlich alles be-
herrschende Elite richtet.
Bei Norbert Bolz klingt es so, wenn er sein rechts-
nationalistisches Publikum direkt anspricht: »Sie sind
nicht nur an der Uni oder im Bundestag. Und wenn
Sie ihrem gesunden Menschenverstand trauen, dann
merken Sie bald, die meisten Themen, um die es in
den letzten Jahren geht: Es ist Schwachsinn.«

Ich sehe, also denke ich: Je konkreter die Erfahrung, desto eher ist der Mensch bereit, sich um ein Problem zu kümmern

Illustration: Jules Julien/wildfoxrunning

R


epräsentanten der AfD greifen
gelegentlich auf die Sprache der
Nationalsozialisten zurück. Das
hat sich als probates Mittel erwie-
sen, von sich reden zu machen.
Bei jeder Provokation springt
dann unweigerlich ein medialer
Deutungsapparat an, der die Partei nun endgültig
der Nazi-Nähe überführt sieht. Es ist allerdings
zweifelhaft, ob die Wortwahl der Vergangenheit
die Demokratie bedroht. Schädlicher sind die Ver-
suche von Rechtsnationalisten in aller Welt, das
aktuelle Vokabular der gesellschaftlichen Mitte für
sich zu reklamieren.
Im Zentrum dieses Manövers steht bei der AfD
von Anfang an der Begriff des gesunden Menschen-
verstands. Er dient der Partei dazu, sich unliebsame
Komplexität und wissenschaftliche Erkenntnisse
vom Leib zu halten. Anders als die anderen Par-
teien, die sporadisch und rein rhetorisch den ge-
sunden Menschenverstand ins Feld führen, beru-
fen sich die führenden Köpfe der AfD deshalb
systematisch auf ihn:



  • »Linksgrüne Hypermoral und gesunder Men-
    schenverstand scheinen unvereinbare Gegensätze
    zu sein.« (Jörg Meuthen)

  • »Im Wahlprogramm der Grünen ist so gut wie
    kein gesunder Menschenverstand zu finden. Be-
    sonders absurd ist die Forderung, ab 2030 keine
    Kfz-Brennmotoren in Deutschland mehr zulassen
    zu wollen.« (Alexander Gauland)

  • »Der Fall Sami A. [mutmaßlich ehemaliger Leib-
    wächter von Osama bin Laden, Anm. d. Red.] zeigt
    in erschreckender Weise auf, wie sehr sich Behörden
    und Gerichte in Deutschland vom gesunden
    Menschenverstand entfernt haben.« (Alice Weidel)
    Schon der Gründer Bernd Lucke definierte die
    AfD 2014 als »Partei des gesunden Menschen-
    verstands«. Die Formel überlebte den Ex-Chef
    und ging in das AfD-Grundsatzprogramm 2016
    ein. In den Plenarprotokollen des Bundestags (vgl.
    ZEIT ONLINE: Bundeswörter) nahm die Ver-
    wendung des Begriffs seit 2015 massiv zu. Im Jahr
    2018 wurde er siebenmal so häufig verwendet wie
    noch 2014, weit mehr als je zuvor in der Ge-
    schichte des Parlaments.
    Auch die Publizistik des rechten Rands hat den
    gesunden Menschenverstand zum Kampfbegriff
    erkoren. Von Matthias Matusseks Streitschrift
    White Rabbit oder Der Abschied vom gesunden
    Menschenverstand bis hin zum Vortrag des Medien-
    wissenschaftlers Norbert Bolz auf dem letzten
    Kongress der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-
    Stiftung: Stets ist von einem links-grünen Main-
    stream einschließlich der CDU die Rede, der
    nichts als »Bullshit« produziere, den jeder Mensch
    mit gesundem Menschenverstand glücklicherweise
    sofort durchschaue.
    Diese totalisierende Verwendung des Begriffs
    fiel auch staatlichen Stellen auf. Dem Verfassungs-
    schutz schien sie so bedenklich, dass er sie in seinen
    Bericht über die Partei aufnahm. Das Schriftstück
    wurde Anfang des Jahres geleakt, darin lässt sich
    lesen: »Die AfD versteht sich als Anwalt für die
    Bevölkerung und als Gegenmodell zu den etab-
    lierten Parteien. Sie bezeichnet sich in Abgrenzung
    zu anderen Parteien selbst als ›Partei des gesunden
    Menschenverstandes‹ und attestiert diesen damit
    pauschal eine Irrationalität.«
    Das ist im Übrigen keine deutsche Spezialität.
    Kurz vor der Europawahl warben die AfD und
    ihre Bündnispartner auf einer Mailänder Veran-
    staltung mit dem Slogan: »Für ein Europa der Ver-
    nunft. Die Völker begehren auf.« Für das Wort
    »Vernunft« stand in den anderen Sprachen – Italie-
    nisch, Finnisch, Dänisch – jeweils die Formulie-
    rung »gesunder Menschenverstand«.
    Sollte man den Begriff angesichts dieser Aneig-
    nungsversuche lieber fallen lassen? Das wäre über-
    eilt. Denn an der AfD und der Weise, wie sie den
    gesunden Menschenverstand für ihre Zwecke ein-
    spannt, zeigt sich, welches Potenzial in ihm steckt.
    Mehr noch: Der Begriff hilft, die gegenwärtige
    gesellschaftliche Spaltung besser zu verstehen und
    vielleicht auch überbrücken zu können.
    Doch was meint gesunder Menschenverstand
    überhaupt? Unter Philosophen herrscht darüber
    bis heute keine Einigkeit. Die Urszene des Kon-
    flikts verbirgt sich in einem Werk von Plato, im
    Dialog »Theaitetos«. Darin erzählt Sokrates die
    Anekdote, wie der Naturphilosoph Thales von
    Milet gedankenversunken in einen Brunnen
    fällt, zur Erheiterung einer thrakischen Magd.
    Das sprichwörtlich gewordene »Lachen der
    Thrakerin« besagt: da der weltfremde Philosoph,
    hier die gewitzte, praktisch veranlagte Frau, die
    mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen
    steht; da ein anmaßendes Expertenwissen, hier
    der gesunde Menschenverstand, der besser
    durchs Leben führt.
    Plato, der von einer Philosophenherrschaft
    träumte, hielt nicht viel von der thrakischen Magd.
    Auch Hegel sprach abschätzig vom gesunden
    Menschenverstand, nannte ihn »die Denkweise
    einer Zeit, in der alle Vorurteile dieser Zeit ent-
    halten sind«. Ganz auf dieser Linie haben jüngst
    Psychologen wie Daniel Kahneman gezeigt, wie
    sich hinter scheinbaren Selbstverständlichkeiten
    kognitive Verzerrungen verbergen – sie führen
    unser Urteil schnell in die Irre.
    Dagegen steht die große angelsächsische Tradi-
    tion der Common-Sense-Philosophie. Sie beginnt
    mit dem Earl of Shaftesbury im 18. Jahrhundert.


PHILOSOPHIE


Quellen »Wahrheit und Methode«. Das Buch^
von Hans-Georg Gadamer erschien 1960

Robert Nehrings Dissertationschrift von 2010:
»Kritik des Common Sense«

Studie der London School of Economics:
»Outrage, Offence and Common Sense«

Links und weitere Quellen auf ZEIT ONLINE
unter zeit.de/wq/2019-40

Nicht in der Uni, nicht im Bundestag, nicht in
der Wissenschaft, nicht in anspruchsvoller Politik –
also im Volk. Der gesunde Menschenverstand wird
damit auf perfide Weise populistisch scharfgemacht.
Die Spaltung zwischen denen da oben (abgehoben)
und uns hier unten (miteinander verbunden) er-
scheint nicht mehr als das, was sie ist: eine ideolo-
gische sprachliche Setzung, sondern als selbst-
evidente Zustandsbeschreibung.
Wenn diese Strategie gut verfängt, dann auch
deshalb, weil das wissenschaftliche, gesellschaftliche
und politische Leben von steigender Komplexität
geprägt ist. Das trifft vor allem auf das Verhältnis
zwischen den Geschlechtern (Gender-Theorie)
zu, zwischen dem Westen und dem Rest (Migran-
ten, Postkolonialismus) und zwischen uns allen
und der Atmosphäre (Klimawandel). Diese drei
Bereiche sind durch weitreichende Verflechtungen
und Rückkoppelungsmechanismen besonders un-
übersichtlich, für die Gradlinigkeit des gesunden
Menschenverstands eine Herausforderung – und
für die AfD das verlockendste Schlachtfeld. Für
das alte Geschlechterverhältnis, gegen Migranten
und gegen Klimaschutz zu kämpfen macht den
Kern der Partei aus.
Geschichtliche Verirrungen sind fast aus-
nahmslos mit dem Hinweis legitimiert worden,
sie entsprächen dem gesunden Menschenver-
stand. Positiv ausgedrückt kann man sagen: Der
gesunde Menschenverstand ist lernfähig (ob es
auch die Partei ist, die sich auf ihn beruft, muss
sich erst zeigen). Ging er einst davon aus, dass
die Welt eine Scheibe ist, weiß er heute von ihrer
Kugelform.
Beim menschengemachten Klimawandel ver-
hält es sich ähnlich. Anfangs überstieg er das
durchschnittliche Vorstellungsvermögen bei Wei-
tem. Mittlerweile ist dem gesunden Menschenver-
stand in der Mehrheit der Bevölkerung hingegen
klar, dass schnelle und weitreichende Maßnahmen
gegen den CO₂-Ausstoß nötig sind. Erreicht wor-
den ist dieser Umschwung in den letzten 30 Jah-
ren, weil der Klimawandel durch Hitzewellen zum
Gegenstand konkreter Erfahrung geworden ist,
weil er dank einer regen Bildproduktion, die Dia-
gramme ebenso umschließt wie Fotos, Filmmate-
rial und sprachliche Metaphern, an Anschaulich-
keit gewonnen hat, und weil Gegenmaßnahmen –
von fossilen auf erneuerbare Energien umsteigen,
Wildnis schützen, Bäume pflanzen – als völlig
praktikabel erscheinen.
Die Gender-Theorie und der Postkolonialis-
mus tun sich mit den Kriterien der Anschaulich-
keit, Praktikabilität und Erfahrungszugänglichkeit
noch schwer. Das zeigt sich anhand des umstritte-
nen Begriffs der »politischen Korrektheit«, der sich
auf das Geschlechterverhältnis und das Verhältnis
zu vermeintlich Fremden bezieht. In einer gerade
veröffentlichten Studie der London School of
Economics etwa stimmten drei Viertel aller Be-
fragten folgendem Satz zu: »Politische Korrektheit
geht manchmal zu weit und übersteigt den gesun-
den Menschenverstand.«
Das heißt allerdings nicht, die Gender-Vorstel-
lung einer offenen Skala zwischen männlich und
weiblich sei ebenso falsch wie die Vorstellung von
offenen Grenzen zwischen Ländern, auf die der
Postkolonialismus zuläuft. Es heißt bloß: Vorerst
funktionieren beide nicht. Dazu bräuchte man im
Zweifelsfall andere Bilder und erweiterte Erfah-
rungsmöglichkeiten. An die Wissenschaftler an
den Universitäten und deren Vermittler könnte
man daher folgenden Rat adressieren: Überlegt
noch mal, oder erklärt es besser!
Und es heißt: Grundsätzlich ist an den Vor-
stellungen der Gender-Theorie und des Post-
kolonialismus was dran, sie gehen eben nur
»manchmal« zu weit. Dass sich in den Jahrtau-
senden des Patriarchats ein paar langlebige Vor-
stellungen und Praktiken herausgebildet haben,
die nicht der Weisheit letzter Schluss sind, liegt
schließlich auch für Skeptiker auf der Hand.
Und dass die Jahrhunderte des Kolonialismus
Wunden hinterlassen haben, die noch nicht ver-
heilt sind, ist von der Forschung gut belegt. Um
ein Beispiel zu nennen: Indiens Anteil am Welt-
handel lag um 1700 bei fast 25 Prozent, der Sub-
kontinent lag in etwa gleichauf mit Europa.
Nach seiner Kolonialismus-Erfahrung mit Eng-
land, 1950, war dieser Wert auf 4 Prozent abge-
stürzt, wie der Wirtschaftswissenschaftler Angus
Maddison errechnet hat.
Die entscheidende Frage lautet also, wie der
gesunde Menschenverstand heute zu den Wissen-
schaften steht. Sie beide gegeneinander zu positio-
nieren, wie es die AfD tut, ja, einen Keil zwischen
sie zu treiben öffnet einer irrationalen Politik Tür
und Tor. Gesund ist der Menschenverstand hin-
gegen dann, wenn er pragmatisch genug ist, zu
wissen, dass es ohne die Wissenschaft nicht geht.
Im Idealfall korrespondieren beide miteinander
und korrigieren sich gegenseitig.
Darin liegt der für die Demokratie so wich-
tige politisch-soziale Inhalt des gesunden
Menschenverstands. Aus ihm spricht nicht das
Volk, wie es die AfD gern hätte, und erst recht
keine »Volksgemeinschaft«, sondern eine Ge-
sprächsgemeinschaft aus Laien und Wissen-
schaftlern, die sich über die kniffeligen Fragen
des menschlichen Zusammenlebens miteinander
Gedanken machen.

A http://www.zeit.deeaudio

Der »Gesunde Menschenverstand« wird als Kampfbegriff gegen Wissenschaft und


Rationalität benutzt. Dabei braucht ihn die Demokratie noch VON MAXIMILIAN PROBST


Anschlag


auf die Vernunft



  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 WISSEN 37

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