Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

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oran noch mal erin-
nerte der Auftritt von
Greta Thunberg beim
Klimagipfel der UN
und ihre Begegnung
mit Angela Merkel am


  1. September 2019?
    Genau, an ein ungleich größeres, aber doch
    ähnliches Ereignis, nämlich an Martin Luther
    vor dem Reichstag zu Worms und sein Zusam-
    mentreffen mit der weltlichen Macht in Gestalt
    von Kaiser Karl V. am 17. April 1521. Der Kai-
    ser war keineswegs ein Vertreter der katholischen
    Reaktion, sondern ein Reformer, nur waren ihm
    die Thesen des Herrn Luther viel zu radikal,
    man könnte auch sagen: Er empfand sie als
    Weckruf und erwartete zugleich ihren Wider-
    ruf. Selbst seinen Anhängern war Luthers Rede
    vor dem Reichstag dann »vil zu küne«. Der
    hatte aber nur gesagt, was seiner Wahrheit ent-
    sprach: »Und solange mein Gewissen durch die
    Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich
    nichts widerrufen, weil es (...) die Seligkeit be-
    droht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott
    helfe mir, Amen.«
    Aber wie war Martin Luther, ein unbedeu-
    tender Augustinermönch aus der ostdeutschen
    Provinz, überhaupt vor die Tore der Macht ge-
    langt? Nun, er hatte ein paar klare Sätze gesagt,
    mit denen er die unerträglich gewordene Kluft
    zwischen Bibelwort und Machtgebaren offen-
    gelegt und so die Machtbasis der Kirche und
    des Reiches (»durch tirannei verschlunden und
    erschopft«) angegriffen hatte.
    Alles wie bei Greta also, auch sie brachten
    ein paar einfache Sätze vor die Tore der Macht,
    auch sie konnte dorthin einzig deshalb gelan-
    gen, weil bei den Mächtigen Worte und Taten
    so krass aus ein an der fal len, auch sie sprach bei
    den UN »vil zu küne«. Nur dass Greta sich
    nicht auf den Glauben beruft, sondern auf die
    Wissenschaft.
    Und nun zu Karl V., also Angela Merkel. Sie
    antwortete auf Greta Thunbergs naturwissen-
    schaftlich basierte Vorwürfe mit dem Rückzug
    in eine völlig andere Sphäre, dorthin, wo auch
    ein Molekül nicht mehr sein kann und sein
    darf als Material der Macht. Die ehemalige
    Klimakanzlerin sagte einen bemerkenswerten
    Satz, eigentlich eine Doktrin: »Aufgabe jeder
    Regierung ist es, möglichst alle Menschen mit-
    zunehmen.« Das kann man so sehen. Doch es
    kann durchaus auch die Aufgabe einer Regie-
    rung sein, ein ziemlich großes Problem zu lö-
    sen, und zwar durch Mehrheit, nicht durch
    Konsens.
    Irgendwie ist in Deutschland der Gedanke
    abhandengekommen, dass Politik nicht nur
    darin besteht, den Willen des Volkes mittels
    Umfragen zu erahnen und dann gleich einer
    Servicekraft umzusetzen. Auch demokratische
    Politiker dürfen den Willen des Volkes prägen
    wollen, ja bearbeiten. Sie dürfen auch Wider-
    stand erzeugen. Doch die gemutmaßte Mehr-
    heit scheint zu einer absoluten Grenze der Po-
    litik geworden zu sein. An den Haustüren ho-
    len sich die Politiker ihre Marschbefehle ab.
    Wer das Volk nicht als Bürger anspricht, son-
    dern als Kunden, macht keine Politik, sondern
    Dienstleistung. Und jeden Tag kommen Re-
    klamationen.
    Man muss das noch mal sagen, weil es in der
    Ära Merkel in Vergessenheit geraten ist: Demo-
    kratie ist Herrschaft auf Zeit mit Mehrheit. Die
    Ostpolitik, die Nato-Nachrüstung – alles Ent-
    scheidungen mit knapper Mehrheit, für die Po-
    litiker ihre Karrieren riskiert haben. Merkel
    aber setzt auf einen breiten Konsens, der einen
    ebenso breiten Kompromiss erfordert.
    Wir wissen nicht, was Angela Merkel und
    Greta Thunberg mit ein an der beredet haben,
    aber vielleicht hat die junge Schwedin darauf
    hingewiesen, dass die Wissenschaftler im
    Vorfeld des Pariser Klimaabkommens bereits
    einen Kompromiss formuliert hatten. So
    schlimm, wie es dann doch gekommen ist bei
    der Erwärmung, hatten sie es seinerzeit nicht
    pro gnos ti ziert. Auf der Basis dieses Kompro-
    misses formulierten die Staatschefs fast aller
    Länder dann einen politischen Kompromiss,
    an den sich freilich fast niemand hielt. Um
    diesem Kompromiss nun wiederum national
    Genüge zu tun, fand am vergangenen Freitag
    die Regierungskoalition in Berlin einen:
    Kompromiss.
    So wird in immer neuen Kompromissver-
    dünnungen die molekulare Wirklichkeit zum
    Verschwinden gebracht. Homöopolitik könnte
    man das nennen, weil die Politiker ja an die Wir-
    kung glauben. Oder eben auch: Politik, wie man
    sie bisher kannte. Nur dass diese Politik von Greta
    Thunberg nicht mehr akzeptiert wird.


I


n Berlin sucht man derweil einen Schul-
digen für den größten Schwachpunkt des
Klimapakets – den extrem niedrigen
CO₂-Preis. Der Sachverständigenrat der
Wirtschaftsweisen – kein Verein von Kli-
maaktivisten – hatte in einem Gutachten für die
Regierung empfohlen, dass jede Tonne Kohlen-
dioxid künftig 35 Euro kosten solle. Die Logik:
Wenn es teurer werde, CO₂ auszustoßen, dann
lohne es sich, klimaschonende Antriebstechno-
logien zu entwickeln oder einfach weniger Auto
zu fahren. Der Preis sollte helfen, die Wirtschaft
auf einen nachhaltigeren Pfad zu bringen.
Die Koalition jedoch beschloss einen Ein-
stiegspreis von zehn Euro im Jahr 2021. Eine
Tonne CO₂ würde dann weniger kosten als
ein Kasten Bier. Der Preis für einen Liter
Benzin wird um etwa drei Cent steigen, was
an den Tankstellen kaum auffallen dürfte.
Für den Klimaexperten Ottmar Edenhofer,
Direktor des Potsdam-Instituts für Klima-

folgenforschung, ist das ein »Dokument der
Mutlosigkeit«.
Aber wer genau war denn da so feige? In CDU-
Kreisen wurde schon am Wochenende folgende
Variante der Ereignisse verbreitet: Man selbst
hätte sich einen deutlich höheren Preis vorstellen
können. Die CDU habe sogar 35 Euro pro Tonne
ins Spiel gebracht. So haben es auch mehrere
Medien berichtet. Nach Informationen der ZEIT
aber hätten diese 35 Euro erst ab dem Jahr 2025
gegolten – also in sechs Jahren. Der angeblich
höhere Preis ist also gar nicht höher: Nach der jetzt
beschlossenen Regelung steigt der Einstiegspreis
um zehn Euro pro Jahr – und soll im Jahr 2025
genau 35 Euro erreichen.

Wirklichkeit, nicht nur beim Klima. Manche
glauben, das ändere sich nun. Noch allerdings
laboriert insbesondere die SPD an den Folgen
des Mehrheitsschwundes und an der Angst vor
dem Volk, die sich bei den Volksparteien ein-
genistet hat und sie beinahe lähmt. Und jetzt
noch dieses verdammte Klima.
An der Basis, der Quelle aller Demokratie,
sucht die SPD nach einem neuen Vorsitzenden-
Paar, und dahinein gerät nun das Paket aller
Pakete: Bei der 16. von insgesamt 23 Regional-
konferenzen, bei denen die SPD gerade ihre
neuen Vorsitzenden ermittelt, war die Enttäu-
schung über die Klimabeschlüsse vor allem vor
der Halle groß. Rund 200 »Fridays for Future«-
Aktivisten war die Zukunft der Welt wichtiger
als die Zukunft der SPD. Sie empfingen die
Kandidaten am Montagabend vor der Ettlinger
Schlossgartenhalle mit lautstarkem Protest.
Drinnen aber warnte die Umweltpolitikerin
Nina Scheer am Anfang ihres State ments davor,
alles »kleinzureden«, was beschlossen wurde.
Olaf Scholz, der vor den Verhandlungen von
einem »großen Wurf« sprach, der nötig sei, um
die Koalition zu retten – und die Welt wohl
auch –, verteidigte die Beschlüsse im Klein-
Klein-Modus. Das Eigenkapital der Bahn wer-
de deutlich gestärkt, die Mittel für den Ausbau
des öffentlichen Nahverkehrs wie für das Schie-
nennetz würden aufgestockt. Und dann dankte
er noch den »Fridays for Future«-Aktivisten für
den »Auftrag, dafür zu sorgen, dass es eine gute
Zukunft gibt«.

G


ute Zukunft? Am Tag vier nach
dem Klimakompromiss möchte
die SPD nun wieder nachbes-
sern, aber nicht grün, sondern
rot. Als Ausgleich für die leicht
steigenden Benzinpreise soll die Pendlerpau-
schale erhöht werden. Die ist im Kern eine
Steuer erleich te rung: Wer pendeln muss, zahlt
weniger Steuern. Arbeitnehmer mit niedrigem
Einkommen zahlen aber keine Steuern – und
bekommen damit auch nichts erstattet. Ihnen
soll nun nach Vorstellungen der Sozialdemo-
kraten eine Art Klimabonus gutgeschrieben
werden. Es sei wichtig, dass das Paket »sozial
gerecht ausgestaltet« werde, sagt dazu Johannes
Kahrs, haushaltspolitischer Sprecher der SPD,
der ZEIT.
Enttäuscht zeigen sich jene Sozialdemokra-
ten, die das Paket mit ausgehandelt haben.
Weniger vom Ergebnis als von der öffentlichen
Reaktion. Die heftige Ablehnung auf breiter
Front schmerze »schon sehr«, sagt einer von ih-
nen. Dass der »Einstieg in eine echte Klima-
wende« gelungen sei, werde wohl deshalb zu
wenig gewürdigt, weil Einzelne die Erwartun-
gen im Vorfeld zu sehr hochgeschraubt hätten.
Das Reden vom »großen Wurf« erzeuge not-
wendigerweise große Enttäuschung.
Das ist dann Politik in ihrer Reinform, völlig
befreit von aller Materie: Das Ergebnis misst
sich an der Erwartung, die Wirklichkeit ver-
schwindet in den Wünschen.
In New York hatte auch Angela Merkel die
Klimabewegung der jungen Leute gelobt, so
wie Greta Thunberg persönlich bei den UN
förmlich zugelobt wurde, bis sie ihren irritie-
renden Wutanfall bekam und eine Rede hielt,
wie man sie von ihr noch nicht kannte, so, als
wolle sie sich durch Aggression vor all dem
taten armen Schulterklopfen schützen. Was im
Falle der nach ihr auftretenden Kanzlerin nicht
recht half, denn die überhörte Gretas Angst wie
Gretas Wut und sagte unbeeindruckt: »Wir alle
haben den Weckruf der Jugend gehört.«
Merkels Reaktion war also wunderbar mer-
kelig, sie ist jetzt auch auf einer Art Verdopp-
lungspfad: »International werden wir unsere
Mittel für den weltweiten Klimaschutz im Ver-
hältnis zu 2014 von zwei auf vier Milliarden
Euro erhöhen«, sagte sie in New York. Es heißt,
dass sie den Einstiegspreis für das CO₂ statt bei
zehn Euro je Tonne gern bei 20 Euro gesehen
hätte. Und im Klimapaket selbst wird auch sehr
viel verdoppelt, unter anderem das Eigenkapital
für die Bahn. Verdoppelung, verdammt, kann
das denn zu wenig sein?
Greta Thunberg und Angela Merkel vertre-
ten zwei unterschiedliche, nein, gegensätzliche
Generationen, auch entgegengesetzte Emotio-
nen, die eine bis ins Mark bewegt, die andere
durch nichts zu erschüttern; beides hat seine
Berechtigung, denn es kann natürlich Situatio-
nen geben, in denen derjenige hysterisch ist, der
nicht schreit. Schließlich stehen Merkel und
Thunberg auch für zwei schwer mit ein an der
vereinbare Konzepte von Politik, das eine ba-
siert auf Klimagewissheiten (oder Fast-Gewiss-
heiten), das andere auf Mehrheitsmutmaßun-
gen, und wiederum gilt: Beides hat sein Recht,
beides steht aber auch unvermittelt im Raum.
Es gab übrigens noch eine Szene in New
York, die nachhallt. Da betrat ein Mann die
Szene, der sich die Welt am liebsten einverlei-
ben oder sie zumindest in einen einzigen, sei-
nen Golfplatz verwandeln würde. Es war, als
hätte im April 1521 der leibhaftige Papst Leo
X. den Wormser Reichstag gestürmt. Als
Donald Trump kam, verzog Greta Thunberg
das Gesicht zur Grimasse, etwa so, wie es
Angela Merkel sicher gern täte, wenn sie dürfte.
Vielleicht gibt es ja doch potenzielle Gemein-
samkeiten zwischen dem Prinzip Merkel und
dem Prinzip Greta.
Aber jetzt geht das Klimapaket erst mal ins
Gesetzgebungsverfahren, und wie es da wieder
rauskommt, das wissen die Götter, oder, soweit
es sich um den Bundesrat handelt: die Grünen.

Peter Dausend, Anna Mayr, Petra Pinzler,
Mark Schieritz, Bernd Ulrich

Zahlen gestritten, die eines gemeinsam hatten:
ihre faktische Wirkungslosigkeit. Doch in der
Eigenweltlichkeit der Politik können sie durch-
aus wirksam sein und die Zustimmung zum
Klimapaket und damit auch zur großen Koali-
tion erhöhen. Immerhin sind die Deutschen
zwar mehrheitlich für die Rettung der Erde,
allerdings ebenso mehrheitlich dafür, dazu
selbst nicht zu viel beitragen zu müssen. Der
Wunsch, das Paket möge beides versöhnen,
könnte sogar mehrheitsfähig sein, Wissen-
schaftler hin oder her.
In den vergangenen Jahren hat diese Regie-
rung auf ihrem ultramoderaten Weg oftmals
beides verloren, die Mehrheit und Teile der

In New York


fordert Greta


Thunberg eine


andere Welt.


In Berlin aber


bleibt alles


beim Alten


So ging es in der Nacht von Donnerstag auf
Freitag zu wie auf dem Basar: Die Verhand-
lungsführer der SPD hätten sich 20 Euro pro
Tonne als Einstiegspreis vorstellen können,
nicht jedoch die CSU. Sie wollte über die zehn
Euro nicht hinausgehen, wie es in Teilnehmer-
kreisen hieß. Die Ergrünung des Markus Söder
stößt offenbar an Grenzen, wenn es ums Geld
geht. Dass sich die Christsozialen damit durch-
setzen, liegt nicht nur an der späten Stunde.
Insgeheim sind viele froh, den eigenen Wählern
»nicht mehr zumuten zu müssen«, wie es ein
Beteiligter formuliert.
Aus Sicht der meisten Wissenschaftler ha-
Foto (Ausschnitt): Lucas Jackson/Reuters ben die Koalitionäre in jener Nacht über lauter

4 POLITIK 26. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40

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