Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
und Psychologen. Auch sie haben in den vergangenen
Jahren die »Chirografie« (von lat. chiro = mit der Hand)
entdeckt. Sie verweisen darauf, dass Kinder vor allem
haptisch lernen und Buchstaben im wahrsten Sinne des
Wortes erst einmal be-greifen müssen. Verschiedene
Studien zeigen, dass Kinder Buchstaben wie d und p
oder b und q leichter auseinanderhalten können, wenn
sie diese mit der Hand schreiben, statt sie zu tippen.
Kognitionsforscher erklären das damit, dass das von
Hand Geschriebene »plurimodal« – auf mehreren Ebe-
nen – gespeichert werde: Wenn das Gehirn die Bewe-
gungen der Hand mit den erlernten Buchstaben ver-
bindet, werden mehr und größere Netzwerke im Gehirn
aktiviert als beim bloßen Tippen. Denn die Strich-
führung mit der Hand ist wesentlich anspruchsvoller als
das Hämmern auf eine Tastatur. Handschrift erfordert
größere feinmotorische Fertigkeiten und eine viel stär-
kere Differenzierung. Dadurch prägen sich die unter-
schiedlichen Buchstabenformen dauerhafter ein. Die
Handschrift nütze daher »dem Schriftspracherwerb
mehr als das Tippen auf der Tastatur«, resümieren
Sprachforscher der Universität Köln in einem vor zwei
Wochen veröffentlichten Faktencheck, in dem sie die
einschlägige Studienlage sichten.
Wer mit der Hand schreibt, scheint auch Informa-
tionen besser sortieren zu können. Das belegt ein Ex-
periment der Psychologen Pam Mueller und Daniel
Oppenheimer an der Princeton University. Studierende
bekamen Videovorträge zu sehen und sollten sich dazu
Notizen machen – die eine Gruppe per Hand, die an-
dere per Laptop. Später wurde das Wissen der Teilneh-
mer abgefragt. Ergebnis: Die Fakten konnten beide
Gruppen gleichermaßen wiedergeben. Als es jedoch
um Verständnisfragen ging und darum, komplexe Zu-
sammenhänge aus der Vorlesung zu erklären, erzielte
die Handschrift-Gruppe bessere Ergebnisse.
Durch das – motorisch langsamere – Schreiben per
Hand waren die Studenten gezwungen, die Informatio-
nen von vornherein stärker auszu-
wählen und in eigenen Worten
wiederzugeben. Sie hatten den
Stoff stärker durchdrungen, wohin-
gegen die schnellen Tastaturschrei-
ber nahezu wörtlich mitgetippt,
aber weniger mitgedacht hatten.
Das zeigt auch: Die Frage
»Schreiben oder Tippen« kann
nicht pauschal entschieden, son-
dern muss je nach Anforderung
und Können unterschiedlich beant-
wortet werden. Geht es um schnel-
les Notieren, ist ein geübter Tipper
im Vorteil. Will man sich in ein
Thema einarbeiten oder Ideen
strukturieren, ist es sinnvoller, von
Hand den Stift zu führen. Denn
schon in der (Hand-)Bewegung
wird das Denken vorgeformt. Die
Bestseller-Autorin Cornelia Funke
(siehe auch Seite 54) formuliert das
so: »Eine fließende Handschrift
bringt die Gedanken zum Fliegen.«
Doch welche Handschrift ist
dafür am besten geeignet? Mit wel-
cher Schriftart lernen es Schüler am
einfachsten, ihre Gedanken zum
Fliegen zu bringen?
Mit der »Siegener Erklärung zur
Schrift in der Schule« haben vier
Experten im Mai dieses Jahres eine regelrechte Anklage-
schrift an die deutsche Bildungspolitik veröffentlicht.
Die in vielen Schulen übliche Praxis, den Kindern zu-
nächst mit der »Grundschrift« die Druckbuchstaben
beizubringen und sie erst später eine »verbundene
Schreibschrift« lernen zu lassen, bedeute doppelten
Aufwand und verhindere das einfache Erlernen einer
flüssigen Handschrift. Außerdem sei die in den meisten
Bundesländern gelehrte »Vereinfachte Ausgangsschrift«
(VA) nur scheinbar vereinfacht. In Wahrheit erschwere
sie das flüssige Schreiben und sei einer der Gründe für
das schwache Schriftbild vieler Schüler. Als »denkbar
schlechteste Variante« aller verfügbaren Schriften ge-
höre die VA geradezu »verboten«, wettert der Deutsch-
didaktiker Wolfgang Steinig, einer der Initiatoren der
Siegener Erklärung.
Um diesen Streit zu verstehen, hilft es, etwas auszu-
holen. Denn die Frage, wie Buchstaben und Schriftbild
auszusehen haben, wurde immer wieder anders beant-
wortet. Im 16. Jahrhundert breitete sich die Kurrent-
schrift im deutschen Sprachraum aus, eine Schreib-
schrift, in der die Kleinbuchstaben durch Schleifen
miteinander verbunden wurden. Diese Schleifen sollten
das Schreiben verflüssigen und beschleunigen, ließen
aber zunächst viel Raum für individuelle Eigenheiten.
Doch je mehr der Brief- und Schriftverkehr im 18. Jahr-
hundert anschwoll – zu einer Zeit, in der die Alphabeti-
sierung Mitteleuropas nahezu abgeschlossen war –,
desto bedeutender wurde die Standardisierung des
Schreibens mit der Hand.
Zugleich wurde die Schrift zum Ausdruck poli-
tischer Ideologien. In der Kurrentschrift spiegele sich
»der Typus unserer Nation«, hieß es 1856 in einem
Wegweiser für den Schulunterricht. Die Sütterlin-
schrift, 1915 in den preußischen Schulen eingeführt,
galt wiederum als förderlich für die Kreativität des Kin-
des. Verboten wurde sie, wie auch die als »Judenlettern«
diffamierte Frakturschrift, 1941 von den National-
sozialisten. Als »Normalschrift« wurde fortan in den
Volksschulen die gerundete Antiqua gelehrt.

Zur Ironie der Geschichte gehört es, dass zur selben
Zeit ein ungarischer Flüchtling eine viel wegweisendere
Schreibentwicklung anstieß: László Bíró erfand den
Kugelschreiber mit Farbmine und rollendem Kügel-
chen in der Stiftspitze. Im Oktober 1945 wurde er in
Manhattans Warenhaus Gimbels erstmals im großen
Stil verkauft. Eine Menschenmenge drängte sich da-
mals vor den Verkaufsräumen, 30.000 dieser Kugel-
schreiber wurden in der ersten Woche zu einem Preis
von 12,50 Dollar verkauft. Ein begehrter Luxusartikel,
so etwas wie das iPhone einer vergangenen Welt.
Den »Ball Pen« gibt es bis heute. Die Schriftarten
hingegen kamen und gingen, gerade so, als ob jedes
Zeitalter und jede Generation ihre eigenen Buchstaben
hätte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Hitlers
Normalschrift abgewandelt zur Lateinischen Ausgangs-
schrift (LA), in der DDR wurde 1968 die sogenannte
Schulausgangsschrift (SAS) eingeführt, die mit der LA
eine Gemeinsamkeit teilt: Beide orientieren sich an der
Grundlinie der jeweiligen Textzeile (siehe Grafik). In
Westdeutschland wurde dagegen von 1973 an die Ver-
einfachte Ausgangsschrift (VA) gelehrt, die sich an einer
zusätzlich gezogenen Mittellinie orientiert. Von der
vierten Klasse an fällt allerdings die Mittellinie in den
Schulheften weg – was die Schrift vieler Schüler haltlos
werden lässt.
So verfiel der Grundschulverband auf eine neue
Idee: Am Anfang sollte gar keine Schreibschrift, son-
dern nur eine einfache Druckschrift (genannt »Grund-
schrift«) gelehrt werden. Daraus sollten dann die Schü-
ler allmählich und selbstständig eine persönliche Hand-
schrift entwickeln. Für das Erlernen des fließenden
Schreibens waren somit nicht mehr die Lehrer, sondern
die Schüler selbst zuständig.
Heute hat jedes Bundesland eigene Regeln: Mal ist
eine Schrift vorgeschrieben, mal keine, und mal stehen
mehrere Schriften zur Auswahl. Die Initiatoren der
Siegener Erklärung fordern nun, in den Grundschulen
einheitlich die Schulausgangsschrift, die SAS, zu leh-
ren. Die Sprachforscher der Uni Köln kommen hinge-
gen in ihrem Faktencheck zu dem
Ergebnis, die jeweilige Schriftart sei
beim Schreibenlernen nicht so
wichtig. »Das ist etwa so, als wür-
den Sie fragen, ob das Schwimmen-
lernen mit roten oder blauen
Schwimmflügeln besser gelingt«,
kommentiert Michael Becker-
Mrotzek, Direktor des Mercator-
Instituts für Sprachförderung, das
den Faktencheck herausgibt. Für
viel wichtiger hält Becker-Mrotzek
die »Schreibflüssigkeit«. Um die zu
entwickeln, brauchten Schüler vor
allem ausreichend Zeit und Übung.
Hinzu kommt, dass die Frage des
richtigen Schreiben stets auch eine
individuelle Angelegenheit ist: Legas-
theniker etwa können vom Schreiben
mit der Tastatur enorm profitieren.
Und je nach Leistungsfähigkeit ist
mal diese, mal jene Schrift passender:
Schwache Schüler oder Inklusions-
kinder haben schon mit dem Erlernen
von Druckbuchstaben genug zu tun.
Bei anderen Schülern hingegen bringt
vielleicht erst die flüssige Schreib-
schrift die Gedanken zum Fliegen.
So gesehen gibt es wenig Grund
zur Glorifizierung der Vergangen-
heit. Denn jahrhundertelang war
das Erlernen des Schreibens vor allem mit Disziplinie-
rung und zum Teil auch mit Züchtigung verbunden.
Wehe, man hatte nicht die richtigen Buchstaben, das
richtige Schreibgerät, die richtige Armhaltung! Alle
Schüler hatten gleich zu sein, im Schreiben und am
liebsten auch im Denken. Noch bis in die 1970er-Jahre
hinein mussten Linkshänder lernen, mit rechts zu
schreiben – heute gälte das als Körperverletzung.
Da hilft es, sich daran zu erinnern, dass das Schrei-
ben nur eine »Scheinselbstverständlichkeit« ist, wie der
Literaturwissenschaftler Sandro Zanetti das genannt
hat. Nichts an unserer Schrift und unserem Lesen ver-
steht sich von selbst, das Abc ist ein kulturelles Ge-
dächtnis. Es formt uns, wie wir es formen.
Das zeigt etwa das Schulheft der Schriftstellerin und
Buchgestalterin Judith Schalansky, das jetzt ebenfalls
im Marbacher Archiv ausliegt. »Mimi Mimi Mimi«
schrieb die sechsjährige Kinderhand 1987, jedes M eine
Anstrengung: Kleiner Schlenker unten links, dann vier
Geraden im Zickzack, kleiner Schlenker unten rechts.
Man spürt die Mühe, den Eifer des Kindes, den Blick
der Lehrerin. In ihrem Bildungsroman Der Hals der
Giraffe entwirft Schalansky später eine Lehrerin, Inge
Lohmark, die die Schule als »Gehege« versteht. »Sie war
dafür bekannt, dass sie die Zügel anziehen und die
Leine kurz halten konnte«, heißt es in dem Roman über
Inge Lohmark; »für die Schüler war es ohnehin das
Beste, sie in jedem Moment spüren zu lassen, dass sie
ihr ausgeliefert waren«. Die Schulbank, die Fibel, der
Füller: tote Objekte. Belebt werden sie durch Lehrerin-
nen und Lehrer, im Guten wie im Schlechten. Und von
den Kindern, die irgendwann frei ihre Linien ziehen.
Die wackligen, verspielten, bemühten Kinderhand-
schriften, die jetzt in Marbach ausliegen, wirken da wie
ein aufmüpfiger Kommentar zur bildungspolitischen
Debatte um das Schreibenlernen ebenso wie zu einem
emphatischen Schriftbegriff der Kunst. Am Anfang
steht immer erst mal das Gekritzel.

A http://www.zeit.de/audio

TITELTHEMA: HANDSCHRIFT


Quellen


Die Anspitzung des Denkens Fortsetzung von S. 43

HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Schreiben nach Gehör: In einem Brief bittet der
kleine Magnus seinen Vater, bald zu kommen. Die
Zeichnung stellt eine »ilegterrische Aisenban« dar

ILSE AICHINGER
Die sechsjährige Erstklässlerin beginnt ihren
ersten Satz im Schreibheft mit einem großen
»ICH«. Sie hat ihn von der Tafel abgeschrieben

JUDITH SCHALANSKY
Clara-Zetkin-Schule in Groß Kiesow bei Greifswald: Judith Schalansky erlernt das Schreiben.
Heute verwendet die Autorin und Buchgestalterin immer noch den Füller

Abb.: DLA Marbach; ZEIT-Grafik (r.)

DURS GRÜNBEIN
Der Dichter beginnt als Neunjähriger, Erzählungen
zu schreiben. »Das Fort am Bärenfluss« war ein
Weihnachtsgeschenk »für Omi und Opa aus Gotha«

STEPHAN DÖBLIN
Die Familie Döblin emigrierte 1933 über Zürich und
Paris nach Kalifornien. Der jüngste Sohn Stephan,
Jahrgang 1926, lernte nie richtig Deutsch

Die Ausstellung Hands on! Schreiben lernen,
Poesie machen im Literaturarchiv Marbach läuft
vom 29. September 2019 bis 1. März 2020

Einen Überblick über die Studienlage gibt der
Faktencheck »Handschrift in der digitalisierten
Welt« des Mercator-Instituts (Köln, 2019)

Zum Thema Handschrift gibt es unter anderem
die Siegener Erklärung und die Umfrage des
Verbands Bildung und Erziehung (VBE)

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden sich auf ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2019-40

In den Schulen sind heute
verschiedene Schriften im
Einsatz. Die Lateinische
Ausgangsschrift (oben) geht
von der Grundlinie aus; die
Vereinfachte Ausgangsschrift
(Mitte) orientiert sich an der
Mittellinie, und die neue
Grundschrift besteht vor
allem aus Druckbuchstaben

Schreibschriften


44 WISSEN 26. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40

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