Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

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Das Oberste Gericht beendet den Zwangsurlaub des britischen Parlaments. Und revolutioniert die Verfassung VON JAN ROSS


O


b, wann und wie das Ver-
einigte Königreich aus der
Europäischen Union aus-
scheidet, ist gar nicht mehr
die größte Frage, die das
monatelange Brexit-Dra-
ma aufwirft. Viel tiefgrei-
fender und folgenreicher wirkt inzwischen der
Wandel Großbritanniens selbst, die Umschich-
tung der Parteienlandschaft, die Erschütterung
einer lange als musterhaft stabil geltenden poli-
tischen Kultur. Seit dem Dienstag dieser Woche
ist klar, dass der Streit um den Brexit das gesamte
Verfassungssystem des Landes revolutioniert.
Der Oberste Gerichtshof in London hat
nicht nur entschieden, dass der Zwangsurlaub,
mit dem Premierminister Boris Johnson das bri-
tische Parlament für mehrere Wochen als Kon-
troll- und Störfaktor seiner Brexit-Politik aus-
schalten wollte, ungesetzlich war. Das Urteil ist
vielmehr auch von maximaler, unerwarteter
Härte und Klarheit. Es lässt der Regierung kei-
nerlei Spielraum für die Korrektur ihres irre-
gegan ge nen Handelns, sondern erklärt die »Pro-
rogation« schlichtweg für null und nichtig: Es
ist, als habe der beanstandete Akt nie stattgefun-
den; das Parlament befindet sich von Rechts we-
gen weiterhin in Sitzung und kann seine Bera-
tungen jederzeit wieder aufnehmen (das war bei
Redaktionsschluss für Mittwoch geplant). Zu-
dem ist die Entscheidung der elf Richterinnen
und Richter einstimmig getroffen worden. Das
ist beim britischen Supreme Court alles andere
als die Regel und daher ein starkes Zeichen. Die
Keule der Justiz ist auf Boris Johnson mit zer-
schmetternder Wucht niedergegangen.
Der Premier selbst erklärte danach, dass er das
Urteil für vollkommen falsch halte, es jedoch
»respektieren« werde: »Ich muss sagen, dass ich
überhaupt nicht mit dem übereinstimme, was
die Richter festgestellt haben. Ich denke nicht,
dass es richtig ist, aber wir werden nach vorn bli-
cken, und natürlich wird das Parlament aus der
Sitzungspause zurückkehren.« Die britischen
Sozialdemokraten sehen sich dagegen bestätigt.
Sie hatten die Prorogation stets als Anschlag auf
die Demokratie gegeißelt. Kaum hatten die
Richter gesprochen, forderte ihr Vorsitzender Je-
remy Corbyn den Premierminister zum Rück-
tritt auf. Seine Rede auf dem Labour-Parteitag in
Brighton war dafür eigens um einen Tag vorge-
zogen worden. Allerdings verzichtete Corbyn
zunächst darauf, ein Misstrauensvotum gegen
Johnson anzukündigen – eigentlich der logische
nächste Schritt. Die Labour-Strategen argumen-
tieren, dass ein Regierungssturz und Neuwahlen
erst stattfinden sollten, wenn die Brexit-Frist
über den 31. Oktober hinaus verlängert und die
Gefahr eines ungeregelten Ausscheidens aus der
EU (No Deal) abgewendet sei.
Die politischen Konsequenzen des Gerichts-
entscheids werden sich erst in den kommenden
Tagen voll entfalten. Vielleicht könnten die wie-
der versammelten Abgeordneten versuchen, das
Austrittsabkommen wiederzubeleben, das John-
sons Amtsvorgängerin Theresa May bereits mit
der EU ausgehandelt hatte. Der Sache nach gäbe
es dafür, über die Parteigrenzen hinweg, wahr-
scheinlich eine Mehrheit, deren Realisierung
freilich bisher am herrschenden Lagerdenken
scheitert. Die Parlamentarier müssen jetzt, nach
dem Desaster der Regierung, jedenfalls zeigen,
wie ihre eigene Brexit-Politik aussieht. Ob sie
dazu imstande sein werden, nachdem sie bisher
zu allen angebotenen Brexit-Politiken immer nur
Nein gesagt haben, ist durchaus nicht klar.
Vollkommen klar ist dagegen, dass das Urteil
vom Dienstag das Zeug hat, die Staatsordnung
Großbritanniens fundamental zu verändern.
Man muss sich in diesem Zusammenhang in Er-
innerung rufen, dass der Oberste Gerichtshof
des Vereinigten Königreichs erst seit einem Jahr-
zehnt, seit 2009, überhaupt existiert. Zuvor fun-


gierten als höchste Appellationsinstanz die soge-
nannten Law Lords, die zwar ausgebildete Juris-
ten und berufsmäßige Richter waren, jedoch zu-
gleich Sitz und Stimme im Oberhaus hatten.
Legislative und Justiz überlappten oder durch-
drangen sich also gegenseitig.
Die eigentümliche Konstruktion spiegelte die
Tatsache wider, dass es herkömmlicherweise in
der britischen Verfassung keine Gewaltenteilung
gibt: Das Parlament ist extrem mächtig, und der
Rest der Macht gehört der Regierung (als Erbin
der historischen Kompetenzen der Krone). Dass
das politische System als Ganzes, Legislative plus
Exekutive, sich in wesentlichen Punkten vor der
Justiz verantworten und von ihr gegebenenfalls
zur Rechenschaft ziehen lassen muss – das ist
zwar etwa in den Vereinigten Staaten mit ihrem
starken Supreme Court oder in Deutschland mit
seinem angesehenen Bundesverfassungsgericht
eine selbstverständliche Vorstellung. In Groß-
britannien jedoch keineswegs. Hier war man
traditionell der Meinung, dass das richtige und
einzige Instrument der Machtkontrolle die De-
mokratie ist: Das Parlament kann eine neue Re-
gierung und das Volk kann ein neues Parlament
wählen. Die Rolle der Justiz war eher technisch
und marginal.
Es bedeutet daher eine spektakuläre Neue-
rung, wenn die Richter in London jetzt so
energisch in das politische Geschehen einge-
griffen haben.
Paradoxerweise haben sie damit ausgerech-
net in einem Augenblick, da der Brexit die
volle nationale Souveränität und Sonderstel-
lung des Landes wiederherstellen soll, Groß-
britannien weiter europäisiert und internatio-
nalisiert. Schon die Schaffung des Obersten
Gerichtshofs 2009 hatte das Vereinigte König-
reich stärker an die kodifizierten und ge-
waltenteiligen Verfassungsordnungen auf dem
Kontinent (und in den USA) herangeführt.
Doch so richtig tief schien der Einschnitt zu-
nächst nicht zu sein, weil dem britischen Su-
preme Court wichtige Kompetenzen fehlen,
die andere Verfassungsgerichte besitzen. So
kann er zwar Verwaltungsakte und Verordnun-
gen, aber keine vom Parlament verabschiede-
ten Gesetze für ungültig erklären.
Man mochte daher denken, dass das neue
Gericht die gewohnten Machtverhältnisse im
Staat letztlich doch unberührt lassen würde. Da-
von kann nun keine Rede mehr sein. Seit diesem
Dienstag steht fest, dass die Politiker in West-
minster sich an eine Figur werden gewöhnen
müssen, die ihren europäischen und amerikani-
schen Kollegen längst vertraut (wenn auch kei-
neswegs besonders lieb) ist: die einschüchternde
Gestalt der Richterin oder des Richters, die in
wichtigen öffentlichen Angelegenheiten das letzte
Wort haben.
Darin allerdings steckt zugleich ein enormes
Spannungs- und Krisenpotenzial. Bisher standen
im Brexit-Konflikt zwei konkurrierende Formen
von Legitimität gegeneinander, die schon schwer
genug zum Ausgleich zu bringen waren: die de-
mokratische Autorität des Referendums, in dem
eine Mehrheit sich für den Austritt aus der EU
entschieden hatte, und die ebenso demokratische
Souveränität des Parlaments, das letztlich die
Verantwortung für die Politik des Landes trägt.
Nun ist mit der Justiz als finaler Schiedsrichterin
noch ein dritter entscheidender Akteur dazuge-
kommen – und zwar einer, der keine unmittel-
bare, auf Wahl beruhende demokratische Legiti-
mation besitzt.
Die Brexit-Befürworter, die schon in der
bremsenden Rolle des Unterhauses eine Sabota-
ge des Volkswillens sehen, müssen den Einspruch
der Richter und generell die gewachsene Bedeu-
tung der Justiz als noch provozierender empfin-
den. Die Macht der Rechtsgelehrten erscheint
aus dieser Perspektive als Inbegriff undemokra-
tischer Anmaßung, als besonders krasses Beispiel

für jene Arroganz der Eliten, die das Referendums-
ergebnis nicht akzeptieren und die Bevölkerungs-
mehrheit um die Erfüllung ihrer politischen Wün-
sche betrügen will.
Die Strategie, mit der Boris Johnson in den
kommenden Wahlkampf zu ziehen vorhat, ist
offenkundig auf genau diesen anti-elitären Af-
fekt zugeschnitten: Der Regierungschef tritt als
Anwalt der einfachen Bürgerinnen und Bürger

gegen das Parlament, die BBC, die Experten, die
Eurokraten und andere hochnäsige Besserwisser
auf. In diese Galerie der Volksfeinde passen auch
die Richter.
So steckt in der beispiellosen Demütigung, die
der Premierminister jetzt erlitten hat, für ihn wo-
möglich immer noch eine politische Chance. Für
Großbritannien freilich eine unkalkulierbare Polari-
sierungsgefahr.

Das Vereinigte Königreich, so viel scheint sicher,
wird nach den Brexit-Kämpfen nie wieder das Land
sein, das es einmal war. Dass es am Ende wahrschein-
lich nicht mehr zur Europäischen Union gehören wird,
dürfte dabei noch die geringste Veränderung sein.

Mitarbeit: Matthias Krupa

A http://www.zeit.deeaudio

Foto: David Levene/ddp

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  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 POLITIK 5

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