Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Das Flucht-
tagebuch:
»BRD forever!«

Moralische
Schwächen und
Alkoholprobleme
sind nicht bekannt:
So sieht der
Geheimdienst sein
Objekt

Der Helfer:
Er baute in
Freilassing die Zelte
und Feldbetten auf

Der Weg


in den


Westen


A kte A


Die Stasi überwachte sie, sie verliebte sich in einen Westdeutschen:


Die Mutter unserer Autorin KATHARINA MEYER ZU EPPENDORF floh mit 26


aus der DDR. Jetzt bereisten sie gemeinsam die Route von damals


Sie schleichen sich durch den dunklen Wald. Ich halte es keinen
Tag mehr aus, hatte sie ihm oben auf dem Hügel in Zánka ge-
sagt, dem Dorf am Plattensee. Bis hierhin, an die Grenze zur
Republik Österreich, waren sie jetzt gemeinsam gekommen.
Fast geschafft. Die beiden Soldaten bemerkt das Paar erst, als
sich zwei Gewehre auf sie richten.
»Überleg dir mal, wie blöd wir waren«, sagt die junge
Frau aus dem Wald heute. Damals war sie 26, heute ist sie
56 Jahre alt: meine Mutter. »Alleine hätte ich mich nicht
getraut«, sagt sie, die Hand am Steuer unseres Opel Corsa.
Wir fahren über die M87 Richtung ungarisch-österreichi-
sche Grenze. Wir wollen den Weg von damals noch mal
gehen, ihre Fluchtroute im Jahr 1989, von Berlin nach Bu-
dapest über Zánka nach Wien bis Freilassing in Bayern.
Meine Mutter hat die Szene aus dem Wald schon öfter er-
zählt, meist auf Familienfesten. Eine Anekdote, die zur grö-
ßeren Erzählung meiner Familie gehört und derer wir uns
nicht oft genug versichern können: dass unsere Familie ohne
den Mauerfall nicht existierte. Dass ich nicht existierte.
Ich bin ein Nachwendekind, 1991 in Niedersachsen ge-
boren. Vielleicht ist es eine Frage des Alters, dass ich mich
jetzt für die Lebensgeschichte meiner Mutter zu interessie-
ren beginne – also ihre Geschichte, bevor es mich gab. Es
kann auch an den Debatten liegen, die seit ein paar Jahren
über die »ostdeutsche« Identität geführt werden: Mein
Blick auf meine Mutter jedenfalls hat sich geändert. Seit
»Ostdeutschland« zum politischen Begriff wurde, habe ich
angefangen, auch meine Mutter als Ostdeutsche zu sehen.
Vor zwei Jahren habe ich sie das erste Mal gefragt, ob sie
diese Reise mit mir machen wolle. Da hat sie noch gezögert,
das alles sei so lange her. Aber jetzt, zum 30. Jahrestag des Mau-
erfalls, würde sie es schon interessieren, »wie es da nun überall
aussieht«. Vor ein paar Wochen trafen wir uns in Berlin, nah-
men von dort das Flugzeug nach Budapest, wie sie damals.
Am 28. Mai 1963 wird Beatrix Müller in Eisenhütten-
stadt geboren, Mutter OP-Schwester, Vater Kranführer. Die
ersten Jahre ihres Lebens wohnt Beatrix mit Bruder, Mutter,
Vater, Großmutter und Uroma im Plattenbau. Im Jahr 1975
zieht die Familie in ein Einfamilienhaus. Regelmäßig treffen
Pakete der Westverwandtschaft ein, ihre Großmutter hatte die
DDR vor dem Mauerbau verlassen. Die Levis-Jeans trägt
Beatrix mit Stolz, auch wenn sie das Etikett abknibbeln muss.
Die Stasi über meine Mutter als junge Frau, Akte A5379:
»Die finanzielle Lage der M. ist als normal anzusehen. Es wird
eingeschätzt, dass ein großer Teil der Kleidung aus dem NSA
[nichtsozialistischen Ausland] stammt und in der DDR
nicht käuflich zu erwerben ist. Moralische Schwächen und Al-
koholprobleme sind nicht bekannt. Gegen die Genehmigung
der Reise könnte sprechen: es ist nicht bekannt, wie sie auf eine
negative Beeinflussung reagiert.«
Bevor ich meine Mutter in Berlin treffe, besuche ich
meine Großeltern, ihre Eltern. Sie leben noch immer in dem
Einfamilienhaus in Hütte, wie man hier sagt. »Sie hatte ja
schon immer ihren eigenen Kopf«, sagt meine Großmutter
in brandenburgischem Dialekt. Aufhalten wollte sie die
Tochter nicht. »Auch nicht, als sie meinte, vielleicht sehen
wir uns jetzt fünf Jahre nicht, Mama«, sagt sie. Ich sehe, wie
sich in ihren Augen Tränen sammeln.
Wolltet ihr denn nicht weg?, frage ich. »Nein«, sagen
beide. Meine Großeltern waren stolz auf ihr Haus, ihre
Arbeit und das bisschen Luxus, das ihnen die Westver-
wandtschaft ermöglichte. Zu ihrer Hochzeit 1962 hatte
die ihnen Goldbrocken ins Milchpulver gesteckt, aus de-
nen sie sich ihre Eheringe schmieden ließen. Später kamen
Kakao, Kaffee und Kosmetik dazu.
In Eisenhüttenstadt leben noch 25.000 Menschen, halb
so viele wie 1990. Von ihnen sind 60 Prozent über 65 Jahre
alt. Ganze Straßenzüge sind verwaist. Doch meine Groß-
eltern leben gern in Hütte. Die Freilichtbühne, die Wälder,
die Nähe zum Fluss. Etwas anderes ärgert meine Großeltern.
»Derzeit liegt unser Rentenwert bei 96,5 Prozent des West-
niveaus«, sagt meine Großmutter auf die Nachkommastelle
genau. Es mag nicht mehr viel sein und doch genug, um sich
gekränkt zu fühlen. Erst im Jahr 2024 soll die »Rentenein-
heit« vollzogen werden. Für meine Großeltern wird das der
eigentliche 3. Oktober. Sie werden 85 und 83 Jahre alt sein.
Beatrix hat Deutsch und Russisch studiert und arbeitet als
Lehrerin. Wenn schon DDR, dann wenigstens Berlin, sagt sie
sich. Um dort eine Zweizimmerwohnung zugeteilt zu be-
kommen, fragt sie einen Bekannten, ob er so tun könne, als
wollte er sie heiraten. Nach ihrem Einzug meldet sie sich bei
ihrer Arbeit zum Schein krank, Liebeskummer, die Verlobung
ist leider geplatzt. Sie zieht allein in die Wohnung. System
erfolgreich ausgetrickst.
Im Sommer 1988 fragt ein Freund sie: Kannst du für mich
jemanden aus der BRD unterbringen? Ich habe ihn in Prag
kennengelernt, er hat mir Geld geliehen. Sie verliebt sich sofort
in Hans-Heinrich aus Westdeutschland, groß gewachsen, blaue
Augen. Sie feiern das Wochenende durch. Eine Westmark
tauscht der neue Freund auf dem Schwarzmarkt gegen zehn
Ostmark, ein Bier kostet 40 Pfennig.
»Das war vielleicht die schönste Zeit meines Lebens«,
sagt meine Mutter, »eine Zeit lang hatten wir hier ja alles.
Geld. Partys. Unsere Jugend.«
»Hansi kommt«, schreibt Beatrix immer öfter in ihren
Kalender. Beatrix und Hans-Heinrich sind ein Paar. Der
Fluchtgedanke wird konkreter.
»Weil ich mir nicht auch noch vorschreiben lassen woll-
te, wie ich meine Beziehung zu führen habe«, sagt sie heute.
Sie hätte meinen Vater heiraten müssen, um mit ihm zu-
sammenzuleben. »Aber ich wollte nicht heiraten!«
Das Westfernsehen berichtet von DDR-Bürgern, die über
Ungarn nach Westdeutschland fliehen. Beatrix überlegt, wie
es gehen könnte: erst mal so tun, als würden sie Urlaub am
Plattensee machen, dann zur westdeutschen Botschaft, dort
einen Pass beantragen. Beatrix bucht einen Flug nach Buda-
pest und notiert am 28. August 1989 im Kalender: »9.00 ab
Schönefeld, 10.50 an Budapest«. In ihr Tagebuch schreibt sie
quer über den Monat September »BRD forever!«.
»Dobro pozhalovat«, sagt meine Mutter, als wir am Ge-
päckband am Budapester Flughafen stehen. »Russisch für
›Herzlich willkommen‹, das kann ich noch«. Es ist lange
her, dass ich sie Russisch sprechen hörte. Normalerweise
will sie nicht. »Ich hätte so gern Englisch gelernt. Aber das
war für die DDR die Sprache des Feindes«, sagt sie.
Beatrix und Hans-Heinrich kommen in Siofok am Plat-
tensee an. Ihr Freund Michael ist auch dabei, ein Judoka aus
Luckenwalde, er hat die Anabolika über, die ihm seine Trai-
ner verabreichten. Die drei verbringen ein paar Tage am
Wasser, baden, sonnen, dann fahren sie am 4. September
1989 mit dem Auto nach Budapest in die Úri u. 64, Resi-
denz der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben für ein paar Tage eine etwas heruntergekom-
mene Altbauwohnung in Budapest am Vörösmarty-Platz


100 km
ZEIT-GRAFIK

Berlin

Budapest

Wien
Kőszeg

Freilassing

Zánka

1

2
3

DEUTSCHLAND

UNGARN

ÖSTERREICH

5
6
4

gemietet, fünf Minuten von der Donau entfernt. Mit dem
Bus fahren wir auf den Burgberg. Hier befindet sich die
Fischerbastei, das Wahrzeichen Budapests. »Oh Mann, da
ist jetzt ein Starbucks drin«, sagt meine Mutter. Wir gehen
weiter zur deutschen Botschaft, gleich in der Nähe. Im
September 1989 wurde meine Mutter hier an der Tür abge-
wiesen. Zu voll, hieß es damals. »Ich dachte, das war’s jetzt.«
Ich rufe Christian Much an, von 1988 bis 1989 Konsul
in der Budapester Botschaft. »Ich wäre an dem Druck, der
auf mir lastete, fast zerbrochen«, sagt er. »Im Mai 1989
begann es, dass immer mehr DDR-Bürger in die Botschaft
strömten und irgendwann auch nicht mehr gingen.« Im
August war die Botschaft so voll, dass Much nach Unter-
bringungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge suchte, erst
Privatwohnungen, dann Freizeitlager.
Much befragte die Leute nur noch in Gruppen nach
ihren Fluchtgründen: Werden Sie politisch-weltanschau-
lich verfolgt, oder fliehen Sie aus wirtschaftlichen Moti-
ven? Ersteres war ein Asylgrund, Letzteres nicht. »Die Ver-
antwortung, ob jemand wegen meiner Entscheidung in
Haft kommt, trug ich mit dem Wort Ja oder Nein.« DDR-
Bürger, die aus Budapest nach Hause zurückkehrten, ris-
kierten wegen des Fluchtversuchs langjährige Gefängnis-
strafen. Das Regime der DDR hatte Spitzel in eine Woh-
nung gegenüber der Botschaft einziehen lassen. Sie ver-
suchten, jeden zu fotografieren, der Zuflucht gesucht hatte.
Beatrix, Hans-Heinrich und Michael fahren zurück
Richtung Plattensee, in der Botschaft hat man sie an das
Flüchtlingslager für DDR-Bürger in Zánka verwiesen.
Wenn’s bald nichts wird, feiern wir einfach Weihnachten
hier, sagt Beatrix zu Hans-Heinrich, der sich verabschiedet.
Er will sie zu Hause in Niedersachsen erwarten.
Im Flüchtlingslager schläft Beatrix warm, ihr Bauch ist voll.
Es macht ihr nur Angst, dass Stasi-Mitarbeiter Flugblätter über
den Zaun werfen. Darauf Appelle, dass ihnen nichts passiere,
wenn sie jetzt zurückkehrten. Dass sie nach Kőszeg, der Grenz-
stadt zur Republik Österreich, fahren, beschließen Michael und
sie spontan. Sie wollen nicht länger auf »die politische Lösung«
warten, die sich bereits ankündigt, wie es unter den Flüchtlingen
heißt. Sie will nicht mehr den ganzen Tag nur schlafen, essen,
nichts tun. Lass uns gehen, Michael. Jetzt. Sofort.
Mitkommen!, rufen die beiden ungarischen Soldaten auf
Deutsch, als sie die Gewehre auf Beatrix und Michael im Wald
von Kőszeg richten. Auf der Wache reichen sie ihnen Kaffee,
Kekse und ein Rückfahrticket nach Zánka. Beatrix schreibt in
ihr Tagebuch: »8. September: Fluchtversuch gescheitert«.
Am 11. September beschließt die ungarische Regierung
ohne Absprache mit Ost-Berlin, die Grenze zu öffnen. Chris-
tian Much verkündet die Entscheidung im Lager Zánka.
»Ich hatte nicht zu Ende gesprochen«, erinnert Much
sich, »da begannen die Menschen schon zu jubeln, zu
weinen, zu schreien.«
Die Einwohner von Zánka strömen, bepackt mit Wein-
flaschen und Kerzen, ins Lager. Eine große Party für die
Flüchtlinge. Am nächsten Tag brechen Beatrix und Michael
Richtung Wien auf. Am Stephansdom suchen sie nach einer
Telefonzelle. Beatrix ruft ihre Großmutter in West-Berlin an:
»Das Paket ist angekommen.«
Nur wenige Tage später weiß das Regime Bescheid. Bea-
trix’ Eltern werden aufs Polizeipräsidium bestellt. Doch es
geht nur der Vater, die Mutter hat zu viel Angst. Er wisse
nicht, wo Beatrix sei, lügt er.
Beatrix erreicht am Abend des 12. September das Aufnah-
melager in Freilassing, 200 Menschen auf dem Gelände eines
Freibads. Am Eingang begrüßt sie ein älterer Herr. Möchten Sie
einen Russen?, fragt er Beatrix und reicht ihr ein Weizenbier mit
Limonade. Beatrix lacht. Vom Russen habe ich genug, sagt sie.
Seit meine Mutter bayerischen Boden betrat, besitzt sie
eine Sozialversicherungsnummer. Freilassing ist wie ein
zweiter Geburtsort. Wir spazieren über die grüne Wiese des
Freibads. Sie hatte ein Feldbett, davor lag ein kleiner Teppich.
Daran könne sie sich erinnern. »Das hat es irgendwie gemüt-
lich gemacht, und ich fühlte mich willkommen«, sagt sie.
Johann Spitzauer, damals 36, heute 66 Jahre alt, bau-
te die Mannschaftszelte und Hunderte Feldbetten auf.
Noch immer trägt er eine Uniform des Technischen
Hilfswerks. Wir stehen auf dem Parkplatz vor dem
Schwimmbad. »Da war doch ein kleiner Teppich vor
meinem Feldbett«, erzählt meine Mutter auch ihm noch
einmal. »Ja«, sagt Spitzauer, »die lokale Bevölkerung
brachte alles, was sie entbehren konnte.« Meine Mutter
nickt. »Wir hatten wenig Zeit«, sagt Spitzauer. Dass
Tausende Flüchtlinge kommen würden, hätten sie erst
ein paar Tage vor dem 11. September vom Deutschen
Roten Kreuz erfahren. »Danke für die Reise in die Ver-
gangenheit«, sagt meine Mutter zu Johann Spitzauer. Sie
umarmen sich zum Abschied.
»Im Durchschnitt sind die Menschen, die der DDR den
Rücken gekehrt haben, nicht älter als 27 Jahre«, meldet die
»Tagesschau« am 12. September 1989. Beatrix bleibt nur eine
Nacht in Freilassing, fährt weiter zu Hans-Heinrich nach
Südniedersachsen. Familie Meyer zu Eppendorf begrüßt sie
auf ihrem Bauernhof. Auf der Dorfkirmes gewinnt sie ein
paar Wochen später eine Reise nach Lloret de Mar.
Ihre DDR-Lehrerausbildung sei ideologisch, erfährt
meine Mutter, im Westen angekommen. Und Russisch
kein Regelfach. Meine Mutter schult also, während sie
mich stillt, zur Reiseverkehrskauffrau um und studiert ein
zweites Mal, diesmal Touristik und BWL, um schließlich
Berufsschullehrerin zu werden. Den Brandenburger Dia-
lekt gewöhnt sie sich ab.
Am 11. März 2003 wird Beatrix vom Bundesland Hes-
sen als Lehrerin auf Lebenszeit verbeamtet.
Vor zwei Jahren bewarb sich meine Mutter auf eine
Leitungsposition als Oberstudienrätin an ihrer Berufs-
schule. Ihr Schulleiter hatte sie dafür vorgeschlagen, sie
war die einzige Bewerberin. Nach ihrer Prüfung teilte ihr
ein Mitarbeiter des Schulamts mit, dass sie die Vorausset-
zungen nicht erfülle. Ihr fehle das zweite Staatsexamen. Sie
müsse noch mal studieren, ein Referendariat machen.
»Schwachsinn« nennt meine Mutter das.
Es ist wie mit den 3,5 Prozentpunkten, die meinen
Großeltern zur vollen Anerkennung fehlen. Auch 30 Jahre
nach dem Mauerfall gereicht es einem zum Nachteil, in
der DDR gelebt zu haben. Wahrscheinlich eine Typfrage,
ob man sich der Kränkung hingibt oder nicht. Ich glaube,
meine Mutter ist stolz darauf, was sie überstanden hat, wie
sie sich durchgeschlagen hat. Ihr Leben ist ein Trotzdem.

Zu den Folgen der Wende in Osteuropa lesen Sie im Feuilleton
auf Seite 59. Außerdem erscheint dieser Tage die neue Ausgabe
von ZEIT Geschichte zum Thema »30 Jahre Mauerfall«

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Die Reise in die
Vergangenheit:
30 Jahre nach dem
Mauerfall, fast
2000 Kilometer in
fünf Tagen

Fotos: Sima Dehgani für DIE ZEIT

6 POLITIK 26. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40

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