Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

D


ie Verhandlungen über den
britischen EU-Austritt haben
sich politisch am Back stop
festgefahren, an der Über-
gangslösung dafür, wie das
Grenzregime zwischen Irland
und Nordirland aussehen soll.
Die Gestaltung dieser neuen Außengrenze der EU ist
keine Nebensächlichkeit, gehört aber kaum zu den
zentralen Problemen, mit denen Briten wie Europäer
durch den Brexit konfrontiert werden. Es ist eine
Ironie der politischen Symbolik, dass das Projekt
einer Rückgewinnung der politischen Kontrolle über
das eigene Land durch die Wiedererrichtung alter
Grenzen, wie die Anhänger des Brexits ihr Projekt
begründen, an der Ausgestaltung des damit verbun-
denen Grenzregimes ins Schlingern geraten ist.
Das in den Fünfzigerjahren begonnene Europa-
projekt hatte – unter anderem – zum Ziel, den Gren-
zen zwischen den Mitgliedsstaaten die politische
Brisanz zu nehmen. Davon hat schließlich auch die
Beendigung des Nordirland-Konflikts profitiert. Es
spricht vieles dafür, dass die Wiedererrichtung einer
Grenze zum Wiederaufflammen des Konflikts führen
wird. Der eine Teil der Brexit-Befürworter will sich
deswegen ohne eine die Irische Insel durchtrennende
Grenze von der EU abgrenzen, was freilich ein Wider-
spruch in sich ist, weil der britische Austritt aus der
EU bei Verbleib der Re pu blik Irland in ihr zwangs-
läufig auf eine EU-Außengrenze inmitten der Irischen
Insel hinausläuft. Der von der EU ins Spiel gebrachte
Back stop sollte Zeit verschaffen, diesen Widerspruch
aufzulösen. Tatsächlich lässt sich eine solche Grenze
nur vermeiden, wenn Irland oder ganz Großbritan-
nien in der EU- Zoll union verbleibt. Beides, Back stop
wie Verbleib in der Zoll union, wird aber von dem
anderen Teil der Brexit-Anhänger abgelehnt, weil dies
eine klare Abgrenzung von der EU verhindern würde.
Indem die harten Brexiteers den Austritt auch ohne
Abkommen in Betracht ziehen, setzen sie den Fort-
bestand Großbritanniens aufs Spiel: Die Schotten
könnten einen No-Deal-Brexit für ein neuerliches
Referendum über ihren Verbleib im Vereinigten
Königreich nutzen, und auch eine wachsende Zahl
von Nord iren könnte über die politische Vereinigung
mit der Re pu blik Irland nachdenken. Das wäre das
Ende Großbritanniens. Die Zerschlagung des Verei-
nigten Königreichs, ein Projekt, an dem sich die kon-
tinentaleuropäischen Mächte in der Vergangenheit
die Zähne ausgebissen haben, hätten dann die Briten
selbst zustande gebracht.
In jedem Fall hinterlassen die innerbritischen Kon-
flikte ein politisch tief gespaltenes Land. Selbst wenn,
worauf in Deutschland viele hoffen, der Brexit ins
Wasser fallen sollte, wäre die EU nicht mehr dieselbe,
die sie vor den Bre xit- Aus ein an der set zun gen war: Jede
britische Regierung wäre ein extrem schwieriger Ver-
handlungspartner, der in Brüssel mit Rücksicht auf
die EU-Gegner zu Hause immer wieder Sand ins Ge-
triebe der europäischen Maschinerie streuen würde.
Und umgekehrt müsste jede britische Regierung, die
ein guter Ko ope ra tions part ner in Brüssel wäre, mit
Widerständen im heimischen Parlament rechnen. Die
in der EU ohnehin starken Zentrifugalkräfte würden
durch die dann noch stärker auf Ausgabenbegrenzung
bedachten Briten anwachsen, und die britische
Regierung würde dabei mit Sicherheit auf eine Reihe
von Verbündeten zählen können. Ein schmales
Budget für Brüssel und Widerstand gegen jede in-
stitutionelle Vertiefung wären der Preis für den Ver-
bleib der Briten in der EU. Es gibt deswegen in
Brüssel nicht wenige, die einen Brexit, welchen auch
immer, vorziehen.


D


as politische Scheitern Theresa Mays
hat offengelegt, dass das auf dem
Kontinent von vielen lange bewun-
derte politische System Großbritan-
niens für die Herausforderungen
eines gespaltenen Landes wenig geeignet ist. Ein
Wahlrecht, das knappe Mehrheiten privilegiert, ist
in politisch zentralen Fragen auf nationalen Kon-
sens angewiesen; solange dieser Konsens vorhanden
ist, ist der überwiegende Teil der Wahlbevölkerung
bereit, den Grundsatz »the winner takes it all« zu
akzeptieren. Das ist bei einer politischen Spaltung
nicht mehr der Fall, jedenfalls so lange nicht, wie die
politischen Wunden des leave or remain nicht ver-


heilt sind. Im Prinzip bräuchten die Briten für die
Zeit nach der Entscheidung, wie auch immer sie
ausgehen mag, ein auf Kompromiss hin angelegtes
politisches System, wie es etwa das deutsche ist,
eines, das den Ausgleich anstelle einer Politik der
Zuspitzung prämiert. Der Volksentscheid hat
Großbritannien in eine Lage gebracht, für deren
Bewältigung seine politischen Institutionen unge-
eignet sind. Als Faustregel gilt: Wo ein Mehrheits-
wahlrecht besteht, sollte auf Referenden grundsätz-
lich verzichtet werden; dagegen können auf dem
Verhältniswahlrecht begründete politische Systeme
sich Volksabstimmungen gelegentlich leisten. Beim
Mehrheitswahlrecht hat jede Wahl Referendums-
charakter; das genügt für die demokratisch erforder-
liche politische Polarisierung.
Warum aber hat eigentlich die Volksabstimmung
über den Brexit das Vereinigte Königreich so tief ge-
spalten? In der Regel wird diese Frage mit den wirt-
schaftlichen Folgen der EU-Grundfreiheiten beant-
wortet, und es wird auf die mit dem Brexit verbun-
dene Hoffnung einer Rückgewinnung wirtschaftlicher
Prosperität in den abgehängten Regionen verwiesen.
Andere wiederum machen für die Ablehnung der EU-
Mitgliedschaft die starke voluntative Komponente im
politischen System Großbritanniens verantwortlich,
die durch die ausgeprägte Regelstruktur der EU im-
mer weiter eingeschränkt worden sei, sodass ein Teil

der Bevölkerung sich durch Brüssel bevormundet
gefühlt habe. Eine dritte Erklärung hebt auf die Er-
innerung an das frühere Em pire ab und verbindet
diese Erinnerung mit der Erwartung, dass bei einem
EU-Austritt die alten Zeiten wieder aufleben würden.
Es dürfte die Kom bi na tion dieser drei Motive gewesen
sein, die eine Mehrheit der Abstimmenden veranlasst
hat, das Verlassen der EU dem Verbleib vorzuziehen.
In der seitdem geführten Debatte sind die ersten
zwei Motive ausführlich erörtert worden, während
das dritte Motiv als nostalgische Verschrobenheit
abgetan wurde. Dadurch ist eine wesentliche Di men-
sion des Brexits unterbeleuchtet geblieben. Lässt man
einmal dessen Charakterisierung als Nostalgie bei seite,
so handelt es sich dabei um die geopolitische Dimen -
sion des britischen EU-Austritts, die offenbar weder
auf der Insel noch in den europäischen Hauptstädten
hinsichtlich ihrer Folgen durchdacht worden ist. Auf
der Insel wurde sie durch ihre Präsenz in nostalgischer
Gestalt gleichzeitig aufgerufen und der kritischen Re-
fle xion entzogen, und auf dem Kontinent sorgte eine
naive Distanz gegenüber geopolitischen Fragen dafür,
dass sich die Brexit-Debatte um die ökonomischen
Folgen des Austritts drehte, aber die mit ihm ver-
bundene Veränderung der weltpolitischen Rolle
Europas kaum in Betracht gezogen wurde. Allenfalls
war davon die Rede, der Brexit schmälere die ver-
teidigungspolitischen Fähigkeiten der Europäer,

aber kaum hatte man dies angesprochen, beruhigte
man sich auch schon wieder damit, dass die Briten
ja in der Nato verblieben, weshalb der Brexit sicher-
heitspolitisch keine größere Rolle spiele. Das aber
ist ein Irrtum.

A


ls Churchill in seiner berühmten Zür-
cher Rede am 19. September 1946 die
Bildung eines Vereinigten Europas
forderte, ging er ganz selbstverständ-
lich davon aus, dass Großbritannien
diesem Europa nicht angehören werde. Für Chur-
chill war das Em pire nach wie vor eine Weltmacht;
es hatte den Krieg gegen Nazi-Deutschland gewon-
nen, ihn von den drei Siegermächten am längsten
und zeitweilig auf sich allein gestellt geführt, und die
Konferenzen von Jalta und Potsdam hatten diesen
Weltmachtanspruch bestätigt. Das Einzige, was sich
in Churchills Wahrnehmung bis zur Zürcher Rede
verändert hatte, war seine Beurteilung Stalins, der
von einem Verbündeten zu einem potenziellen
Gegner geworden war. Als Gegengewicht zur
UdSSR wollte Churchill das Vereinigte Europa. So
sollte auf dem Kontinent ein politisch-militärisches
Gegengewicht entstehen, das den mit ein an der eng
verbündeten Seemächten USA und Großbritan-
nien zusätzlichen politischen und wirtschaftlichen
Spielraum verschaffen würde. Boris Johnson, der

Churchill als Vorbild hat, dürfte die Dinge so
ähnlich sehen.
Nun haben sich die Konstellationen aber nicht so
entwickelt, wie Churchill das 1946 erwartete: Zwar
hat ein gutes Jahrzehnt danach ein Zusammenwach-
sen Europas begonnen, aber das war wesentlich wirt-
schaftlicher und später auch politischer, aber nicht
militärischer Art; das britische Em pire ist trotz Trans-
for ma tion ins Commonwealth in den späten Vierzi-
ger- und Fünfzigerjahren zerfallen, was die Voraus-
setzung dafür war, dass die Briten doch zu einem Teil
des Europaprojekts wurden, und schließlich ist auch
die Sow jet union mitsamt ihren äußeren Imperien
untergegangen, und der »Eiserne Vorhang« – ein von
Churchill geprägter Begriff – ist verschwunden. In
der Folge hat sich das vereinigte Europa bis ins Bal-
tikum und zur weißrussischen und ukrainischen
Grenze ausgedehnt. Dieses Europa ist mehr als ein
Gegengewicht zur UdSSR; es kann, wenn es die Kraft
dazu aufbringt, als weltpolitischer Akteur auftreten,
was Großbritannien für sich allein schon lange nicht
mehr kann. Oder um es in der Perspektive Churchills
zu formulieren: Aus dem gleichberechtigten Bündnis
der beiden Seemächte, wie es Churchill unter Rück-
bezug auf die beiden Weltkriege im Auge hatte,
würde nach dem Brexit eine Abhängigkeitsbeziehung
erwachsen, in der Washington den Ton angibt und
London nach der US-amerikanischen Pfeife zu tan-
zen hat. Solche Aussichten erklären, warum US-Prä-
sident Trump sich mehrfach für den Brexit ausgespro-
chen hat und die USA zuletzt sogar einen No-Deal-
Brexit präferierten. Das könnte man als ein spezifisch
britisches Problem ansehen, wenn es nicht die geo-
politische Rolle der EU zentral tangieren würde.
Fast möchte man meinen, dass Trumps Blick auf
die EU spiegelbildlich dem Putins gleicht: Beide
setzen alles daran, die EU in Gruppen aufzuspalten
oder gar in ein Konglomerat von Nationalstaaten
aufzulösen, denen gegenüber sie dann durchweg in
der stärkeren Po si tion wären. Das ist bei einer hand-
lungsfähigen EU, die von der Irischen See bis ins
Baltikum und die Ägäis reicht, nicht der Fall. Sie
kann als weltpolitischer Akteur auftreten – wenn sie
denn einen gemeinsamen Willen hat. Putins De-
kon struk tions stra te gie setzt bei den rechtspopulis-
tischen Bewegungen in Europa an, während Trump
die EU-Gegner in Großbritannien zu seinen Ver-
bündeten gemacht hat. Es war nicht zuletzt die
politische Schlafmützigkeit – sprich: geopolitische
Naivität – der Brüsseler Politiker, die Putin und
Trump das ermöglicht hat. Hieraus ist für die Zu-
kunft zu lernen: Die Schwächung von Konkurren-
ten um Einfluss auf die Gestaltung der Weltord-
nung findet nicht mehr mit genuin militärischen
Mitteln statt, sondern in Form ihrer politischen
De kon struk tion.
In dieser Hinsicht ist der Abschied Großbritan-
niens aus der EU mehr als eine wirtschaftliche und
politische Schwächung der Union, sondern verändert
fundamental deren geopolitische Selbstwahrneh-
mung. Im 18. Jahrhundert entstand in Frankreich die
in Deutschland später übernommene geopolitische
Vorstellung von Europa als »Mitte der Welt«, die von
zwei Flügelmächten gerahmt sei: der großen Seemacht
Großbritannien und der großen Landmacht Russland.
Was anfänglich ein Bild vom Ausgreifen der Euro-
päer in die Welt war, wurde im 19. Jahrhundert zur
obsessiven Vorstellung des Eingekreistseins durch
äußere Mächte. Wer so dachte, hatte eine Neigung
zur bewaffneten Aus ein an der set zung mit diesen
Flügelmächten – von Na po leon bis Hitler. Derlei wird
sich kaum wiederholen, aber dass nach dem Brexit
und der Anlehnung der Briten an die protektionistisch
auftretenden USA sowie einem Anschwellen infor-
mationspolitischer Störmanöver der Russen sich in
der EU Einkreisungsvorstellungen analog zu denen
des 19. und 20. Jahrhunderts entwickeln werden, ist
recht wahrscheinlich. Und die wiederum sind einer
der schlechtesten politischen Ratgeber, die man sich
vorstellen kann. Noch ist das Vereinigte Königreich
Europas »Tor zur Welt«. Seine Schließung würde die
geopolitischen Sichtweisen fundamental verändern.

Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter
Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-
Universität Berlin. Zuletzt veröffentlichte er
zusammen mit Marina Münkler »Abschied vom
Abstieg« im Rowohlt Verlag

Die Angst vor der


Einkreisung


Wir konzentrieren uns beim Brexit sehr auf die Wirtschaft. Aber er bedeutet vor allem


eine geopolitische Katastrophe für Europa VON HERFRIED MÜNKLER


Eine marode Häuserwand in Belfast. In Nordirland würde die Außengrenze der EU verlaufen

Foto: Paul Seawright/Courtesy Kerlin Gallery

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