Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Ildikó v. Kürthy:
Es wird Zeit.
Wunderlich,
Hamburg 2019;
384 S.,20,– €,
als E-Book
14,99 €

Es hat ja nie jemand behauptet, Ildikó von
Kürthy würde große Literatur verfassen. Sie
selbst schon gar nicht. Wenn sie danach ge-
fragt wird, versichert Ildikó von Kürthy, es
bereite ihr keine Magenschmerzen, vom
Feuilleton ignoriert zu werden. Sie schreibe
eben, wozu sie Talent habe. Sie verwechselt
sich nicht mit Sibylle Berg oder Sibylle Lewit-
scharoff. Sie veröffentlicht seit zwei Jahrzehn-
ten, seit dem Bestseller Mondscheintarif,
Unterhaltungsromane und Unterhaltungs-
sachbücher und erreicht damit ein immenses
weibliches Publikum. Sollte je ein Mann ein
Buch von Ildikó von Kürthy gekauft haben,
um es selbst zu lesen, hat er Chancen auf den
Exotenstatus.
Die Fronten scheinen klar: Hier die große
Literatur mit überschaubaren Verkaufszahlen,
dort die Unterhaltung mit
erheblichen Verkaufszahlen
und intellektueller Miss-
achtung. Ob diese Grenz-
ziehung nicht arg deutsch
und etwas verzerrt ist, sei
mal dahingestellt. Sicher
ist: Es gibt noch andere
Fronten. Beispielsweise die
zwischen skrupelloser und
integrer Unterhaltung. Na-
türlich besteht Literatur in
erster Linie aus Sprache
(hier schneidet die syn-
taktische Gelenkigkeit und
das Wortschatzvolumen von
Kürthys keineswegs schlecht
ab), aber nicht nur. Sie ver-
mittelt ein Menschenbild, sie besitzt nun
mal eine moralische Dimension. Und ob
sich ein Bestsellerautor, mit dessen Ge-
schichten und Figuren sich Hunderttausen-
de identifizieren, dieser Dimension bewusst
ist oder nicht, das kann uns eigentlich nicht
gleich gültig sein.
Mag es im Werk Ildikó von Kürthys genre-
gemäß sehr Harmloses und Klischeehaftes ge-
ben – es gibt keinen geschmacklosen Satz. Es
gibt von ihr kein Buch, das man einer Siebzehn-
jährigen nicht auf den Geburtstagstisch legen
könnte, um ihr die Kulturtechnik namens Lesen
sympathisch zu machen. Sie wird sich in einer
Prosa wiederfinden, die konsequent von der
Pointe lebt. Und in der Alltagswelt eines, sich
von Roman zu Roman gleichenden weiblichen
Egos, das mit sich hadert, falsche Liebes- und
Kaufentscheidungen trifft und ständig damit
beschäftigt ist, sich zu berappeln.
Dieses Ego ist mit der Autorin gealtert. Es
ist mittlerweile fünfzig, heißt im neuen Roman
Es wird Zeit Judith und wird vom Leben unter
Beschuss genommen, wie es viele kennen: Die
Kinder verlassen das Haus, die Ehe lahmt, die
Mutter stirbt, die beste Freundin hat unheil-
baren Krebs. Die Zeiten, in denen ausbleiben-
de Anrufe angeschmachteter Herren das Exis-
tenzproblem Nummer eins und Hüftspeck das
Problem Nummer zwei darstellten, sind end-
gültig vorbei. Krankheit und Tod heißen nun
die Themen, und da Ildikó von Kürthy zwar
keine große Schriftstellerin ist, aber keineswegs
eine triviale, ist ihre Geschichte ohne Happy
End, wenn auch nicht hoffnungslos.
Anders gesagt: Als Unterhaltungsliteratur
ist ein solcher Roman ein Glücksfall. Und das
Feuilleton hat keinen Grund, die Augen zu
verdrehen. URSULA MÄRZ

Kein Happy End, aber Hoffnung:
Ildikó von Kürthys neuer Roman

Man berappelt sich


VOM STAPEL

S


eine Briefe an mich pflegte er mit
»Dein Frosch« zu unterzeichnen, weil
er der Ansicht war, dass die Mitleser bei
der Stasi auch etwas zum Schmunzeln
haben sollten. 1979, zu seinem 50. Ge-
burtstag, hatte ich als sein westdeutscher Lektor
ein Bändchen mit Aufsätzen zu Leben und Werk
zusammengestellt, das ich ihm in seinem Haus in
(Ost-)Berlin-Buch übergeben wollte. Es sollte
eine Überraschung sein. Das erste Exemplar hatte
ich in meinen Mantel eingenäht, weil ich Angst
hatte, dass es mir von der Volkspolizei abgenom-
men werden würde. Vor dem Haus hatte die Stasi
ihre Autos geparkt, was man schon von Weitem
an den Rauchschwaden erkennen konnte, die aus
den Fenstern in die Kälte quollen. Im Haus wurde
ich nicht nur von seiner Frau empfangen, sondern
auch vom damaligen Minister für das Bücher-
wesen, Klaus Höpcke, dem ich die fröhliche Mit-
teilung machte, ein Buch zu Kunert im Mantel zu
haben, das er garantiert noch nicht kenne.
Alles bekannt, war seine Antwort, aber wir
wollten dem geschätzten Autor eine Freude ma-
chen und haben nichts unterbunden. Tatsächlich
pochte der angstlose Günter Kunert auf seine
demokratischen Rechte und machte nichts heim-
lich oder an der Stasi vorbei, was diese zur Weiß-
glut brachte. Er schrieb so lange Briefe an die
Behörden, bis er ein Visum für Amerika, für Eng-
land oder für Italien erhielt, wo er Gastprofessu-
ren wahrnahm (und später auch Ehrendoktorhü-
te bekam). Seine West-Honorare investierte er in
einen Renault, die Klobrille hatte er aus Amerika,

er besaß sogar schon ein Xerox-Kopiergerät, als
im Aufbau-Verlag noch jedes Manuskript mit
drei Durchschlägen abgeschrieben werden muss-
te, und statt des westdeutschen Racke-Rauchzart-
Whiskys, der üblicherweise von West-Freunden
aus dem In ter shop mitgebracht wurde, musste
ihm sein Freund Reinhard Let-
tau, der einen amerikanischen
Pass besaß, den echten Johnny
Walker besorgen. Ich habe sogar
als Bürger der DDR Rechte,
sagte Kunert gerne, und wenn
wir alle darauf bestehen wür-
den, dass wir diese Rechte aus-
üben dürfen, sähe es in unserem
Staat besser aus als bei euch.
Kunert hatte einen sardoni-
schen Witz, wie er in der DDR
nicht üblich war. Beim Anhören
selbst der bedrückendsten Ge-
schichten, die er aus dem DDR-
Alltag berichtete, kam man
nicht aus dem Lachen heraus.
Wenn er mal eine freie Leitung
in den Westen erwischte und
wir unter stummer Aufsicht telefonieren konn-
ten, erzählte er für die Mithörer von der Staatssi-
cherheit erst einmal ein paar böse Witze. Im Üb-
rigen war er ein besessener Arbeiter (»Was soll ich
denn sonst machen im Ar bei ter- und- Bauern-
Staat?«), er hat rund hundert Bücher mit Gedich-
ten, literarischen Essays, Erzählungen, Fabeln
und Romanen gefüllt, dazu kamen zwei Dutzend

Hörspiele und ein Dutzend Fernsehdrehbücher
(unter anderem von Bernhard Wicki verfilmt),
Gemälde und Zeichnungen, Reisetagebücher
und Notizen. Seine Tage waren ein einziger
Schreibakt, der ihn am Leben hielt trotz einer
»staatlich verpfuschten Kindheit« (seine Mutter,
die ich noch kannte, war Jüdin,
von ihr hatte er seinen Wider-
spruchsgeist geerbt), trotz der
Schikanen der DDR-Kultur-
politik, die seine Bücher mal er-
scheinen ließ, mal nicht oder
nur in zensierter Form, weil
irgendein Gedicht der Partei
nicht passte.
Hat er zu viel geschrieben?
Sein Nachlass im schleswig-hol-
steinischen Kaisborstel (wohin
er kurz nach meinem Geburts-
tagsbesuch 1979 übersiedelte)
umfasst sicher noch Hunderte
von unveröffentlichten Gedich-
ten und andere Arbeiten, wie
das Romanmanuskript, das er
im vergangenen Jahr durch Zu-
fall wiederfand. War das Publikum seines pessi-
mistischen Sarkasmus, seiner immer negativer
werdenden Anthropologie überdrüssig? Offen
bleibt die Frage, warum er nicht den Büchner-
preis, den Schiller- oder Goethepreis erhalten hat
für das Werk, das quer zu allen Ideologien stand.
Er war ein Meister der kurzen Form, seine ver-
rätselten Fabeln hatten immer einen gesellschafts-

Zum Tode des Dichters Günter
Kunert, der den SED-Staat narrte
wie keiner und allem Pessimismus
lustig trotzte VON MICHAEL KRÜGER

Bestens


gelaunt am


Abgrund


kritischen Dreh, in vielen Gedichten geißelte die
»Kassandra aus Kaisborstel« den verheerenden Um-
gang mit den Ressourcen der Natur. Schlechte Nach-
richten konnten ihn nicht treffen, weil er immer
schon mit noch Schlimmerem gerechnet hatte.
Kunert war in einem altmodischen Sinne ein radi-
kaler Aufklärer, ganz in der Art Lichtenbergs, den er
liebte. Mir bleibt er in Erinnerung als der unerschro-
ckene »Frosch«, der seine gesetzlichen Rechte in der
DDR gegen die Partei geltend machte; als der deut-
sche Dichter meiner Zeit, der im Geiste Heines und
Brechts auf die Hoffnung setzte, dass doch noch ein-
mal bessere Tage anbrechen würden. Was die ökolo-
gische Seite unseres Umgangs mit der Erde anging,
machte er sich indes keine Hoffnung mehr – oder nur
in absurd-ironischer Brechung. Als die Kunerts ein-
mal, noch zu DDR-Zeiten, Urlaub in einer Kärntner
FKK-Anlage machten, haben Nicolas Born und ich
sie besucht. Wir mussten uns schon am Eingang ent-
kleiden und wurden, mehr oder weniger entblößt,
den Berg hinaufgefahren, auf dem die Nackten vor
ihren Holzhäuschen saßen. Vor einem auch die Ku-
nerts, fröhlich winkend. Born war kurz vor einem
Peinlichkeitszusammenbruch, ich versuchte, mit einem
Buch meine Blöße zu bedecken, nur Günter war in
seinem Element: Das ist der wahre Sozialismus,
krähte er uns entgegen, wenn alle nackt sind, wie
Gott sie schuf.

Michael Krüger war Lektor und später Verleger von
Günter Kunert. Gerade erschienen ist Krügers Buch
»Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch«, das wir
demnächst besprechen werden

LITERATUR


Die 1972 in Halle
an der Saale
geborene
Jackie Thomae

Fotos (Ausschnitte): Urban Zintel; Georg Wendt/dpa (u.)


Das Glück lauert an der Ecke


Wie werden wir, wer wir sind? Jackie Thomae erzählt von zwei afrodeutschen Brüdern, die in verschiedenen Welten leben VON JULIANE LIEBERT


W


enn wir Entscheidun-
gen treffen, wer agiert
dann eigentlich? Das,
wozu wir »ich« zu sagen
pflegen, ohne genau zu
wissen, was wir damit
meinen? Oder doch nur
Abermillionen von Neuronen in unserem Ge-
hirn? Sicher ist nur: entschieden wird. Selbst
dann, wenn man alles dafür tut, sich der Verant-
wortung zu entziehen, während das Leben wie
von selbst immer richtig zu laufen scheint.
So ungefähr muss Mick das Berlin der Neunzi-
gerjahre erlebt haben. Mittendrin in dem Aben-
teuerspielplatz, den die wiedervereinigte Stadt bot.
Eine einzige große Party sollte sein Leben sein – und
wurde es. Für ein Jahrzehnt jedenfalls. Entscheidun-
gen nahm man leicht, es würde sich schon alles
finden. Das Geld war immer knapp, aber
das Glück lauerte an jeder Ecke.
Mick ist die erste Hauptfigur in Jackie
Thomaes neuem, für den Deutschen
Buchpreis nominiertem Roman Brüder.
Wie die Autorin ist er um 1970 herum in
der DDR geboren, wie sie Kind eines afri-
kanischen Vaters, der zum Studium nach
Deutschland gekommen war, aber allein
bei der Mutter aufgewachsen. Um ein
Memoir mit Genderwechsel handelt es
sich bei diesem Buch allerdings nicht. Im
Gegenteil, es ist eine Erzählung von einer
solchen Spannweite, dass hinter der mitt-
lerweile ja gelegentlich schlicht in der
Hoffnung auf bessere Verkaufszahlen ver-
wendeten Gattungsbezeichnung Roman nicht das
kleinste Fragezeichen steht. Autobiografisches findet
sich hier nur in Fragmenten, die wiederum als
Keimzelle der Fik tion dienen.
Bis Mitte der Achtzigerjahre lebt Michi, wie er
damals ganz deutsch genannt wird, in Ost-Berlin
und ist ein ganz normales Kind der deutschen, sich
demokratisch schimpfenden Re pu blik, das lustlos
das in der Schule verlangte Ideologiegedöns absol-
viert, um sich ansonsten den Themen der Pubertät
zu widmen: Sex (in der Fantasie), Kleidung, die
richtige Musik und Subkultur. Doch seine Mutter
ist eine Frau mit unbändigem Freiheitsdrang. Sie
stellt einen Ausreiseantrag. Mit 15 kommt er somit
plötzlich in den Westen der Stadt, wo er dank seines-
wohlhabenden Stiefvaters in einer Sechs-Zimmer-
Altbauwohnung zwei Zimmer und sein eigenes Bad
okkupieren darf. Sein Abschiedsschmerz hält sich
in Grenzen, viel zu aufregend ist der neue Überfluss.
Außerdem nimmt ihn wegen seiner dunklen Haut-
farbe niemand wirklich als Ossi wahr.
Thomae erzählt das leicht und souverän, ein
sanftes Allwissen könnte man ihre Technik nennen,
denn alles Auktoriale geht in der Empathie auf, mit
der sie, oft in erlebter Rede, die Handlung aus der
Perspektive ihrer Figuren schildert. In die männliche
Rolle zu schlüpfen bereitet ihr keinerlei Mühe, aber
ein beträchtlicher Teil des Geschehens wird auch aus
Sicht von eigensinnigen, klugen Frauen berichtet,
etwa der aus großbürgerlichen Verhältnissen kom-
menden Delia, die Micks langjährige Freundin wird
und mit einer Art stolzen Duldsamkeit das einzige
stabile Element in seinem Leben bildet.
Gelegentlich kippt die Leichtigkeit ins Triviale,
was einer Neigung zum Auserklären und zu Flapsig-
keiten oder angestrengt originellen Formulierungen
geschuldet ist. Statt mit den Tränen zu kämpfen,
nachdem er seine Großtante zum letzten Mal ge-
sehen hat, kämpft Mick »die gesamte S-Bahn-Fahrt
mit etwas, das zu einer Tränenflut geworden wäre,
hätte er es zugelassen«. Ein etwas strengeres Lektorat

und mehr Mut zur Leerstelle hätten da gutgetan.
Aber diese kleineren, punktuellen Schwächen
stören im Verlauf der Lektüre immer weniger.
Denn es gelingt Thomae, einen tragfähigen epi-
schen Bogen aufzuspannen. Schlüssig und doch im
Bewusstsein des unergründlichen Zufalls wird ge-
schildert, wie sich Persönlichkeiten über drei Jahr-
zehnte hinweg entfalten.
Die Hautfarbe ist ein Thema, aber meist eher im
Hintergrund und über längere Strecken auch gar
nicht. Brüder ist ein Buch, das eher einen Kontra-
punkt zu den oft überhitzt geführten Debatten über
Identität und Rassismus setzt. Die Probleme werden
nicht bestritten, aber Thomaes Roman handelt auch
davon, wie weit die Praxis kultureller Vieldeutigkeit
und fluider Identitäten aller politischen Ab strak tion
und Sprachkritik voraus sein kann. Als das Jahr 2000
ansteht und Mick seinen 30. Geburtstag vor Augen
hat, gelingt es ihm immer weniger, seinen
Problemen aus dem Weg zu gehen und
seine Existenzangst zu verdrängen: »Wenn
er sich dann fragte, was so nicht weiterge-
hen konnte, öffnete sich in seinem Kopf
ein Labyrinth, in das er sich lieber nicht
hineinwagte.« In der Mitte des Romans
bricht seine Geschichte ab.
In der zweiten Hälfte wird das Buch
unmittelbarer und springt in die Mitte
der Zehnerjahre. Wir begegnen Micks
Halbbruder Gabriel. Die beiden wissen
nichts von ein an der, und Gabriel ist in
vieler Hinsicht Micks glattes Gegenteil:
Strebsam und kontrolliert, macht er
Karriere als Stararchitekt. Doch er steckt
in einer buchstäblichen Scheißsituation: Wegen
eines Hunde hau fens rastet er gegenüber einer
jungen schwarzen Frau aus, ohne sie als eine sei-
ner Studentinnen in London zu erkennen, wo er
gerade Professor geworden ist. Was folgt, ist ein
veritabler Shit storm gegen ihn. Man wirft ihm
Sexismus und Rassismus vor, das volle Programm.
Dass er selbst mixed race ist, scheint dabei nie-
manden zu interessieren.
Thomae erzählt zeitversetzt: Gabriels Leben wird
in Rückblenden geschildert, aber nur bis zur Jahr-
tausendwende, da hat er sein Studium in Berlin
bereits be endet – als würde die Lebenszeit von 1970
bis heute aus zwei Biografien zusammenmontiert.
Jeder Bruder steht auch für eine bestimmte Lebens-
weise – die Zeit der großen, egalitären Party in Micks
billigem Berlin ging im Laufe der Nullerjahre lang-
sam zu Ende. Gabriel ist als ehrgeiziger, interna-
tional erfolgreicher Mensch eher eine Figur der
letzten beiden Jahrzehnte.
Vor dem Hintergrund der angelsächsischen aka-
demischen Diskurse und der gesellschaftlichen
Realität Londons schärfen sich auch die Konturen
der Identitätsfrage. Eine Freundin will den skep-
tischen Gabriel zum Aktivisten formen, und als er
einmal mit einer verschleppten Mandelentzündung
beim National Health Service sitzt, grübelt er über
die Absurditäten des Formulars, in dem er seine race
angeben soll. Er bleibt reserviert gegenüber Selbst-
und Fremdzuschreibungen jeder Art.
Wie also werden wir die, die wir sind? Brüder
macht klar, dass sowohl wir entscheiden als auch das
Netzwerk – aber nicht das der Neuronen. Wir ent-
scheiden, indem wir uns selbst immer wieder neu
erzählen. Und mit etwas Glück genau dann, wenn
sich eine Ge legen heit bietet, die passende Geschich-
te präsent haben, die dem Leben eine neue Richtung
geben kann. Genauso aber entscheidet das Netzwerk
der historischen Gegebenheiten und sozialen Um-
stände, das Netzwerk aus Wörtern auch, aus deren
Re kom bi na tion wir uns erschaffen.

Jackie Thomae:
Brüder. Roman;
Hanser Berlin,
Berlin 2019;
432 S., 23,– €

Günter Kunert
* 6. 03.1929
† 21.09.2019

Nachruf



  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 FEUILLETON 63

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