Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

E


rnst Reuter, der große sozialdemokratische
Politiker und nach Ende des Zweiten
Weltkriegs Regierender Bürgermeister West-
Berlins, gründete 1943 mit weiteren deutschen
Exilanten in Ankara, wohin er vor den Nazis ge-
flohen war, den »Deutschen Freiheitsbund«. Zweck
des Bundes war es, Pläne für eine demokratische
Struktur nach dem Ende der NS-Herrschaft in
Deutschland zu entwickeln.
Seither verging ein Dreivierteljahrhundert. Der
Strom fließt nun in entgegengesetzter Richtung.
Letztes Wochenende trafen freiheitssuchende Exi-
lierte aus der Türkei zu einer Konferenz in Berlin
zusammen und diskutierten, wie die Türkei nach
Erdoğan zur Demokratie zurückkehren könne.
Vor 17 Jahren war Erdoğan an die Macht ge-
kommen, weil die Opposition gespalten war, und
all die Jahre hat er unangefochten regieren kön-
nen, weil er diese Spaltung ausnutzte. Bei den
Kommunalwahlen in diesem Sommer gelang es
der Opposition erstmalig, unter einem demokra-
tischen Dach zusammenzufinden und Istanbul
von Erdoğan zurückzuerobern. Dieser »Geist von
Istanbul« schwebte nun auch über dem Berliner
Treffen. Zum ersten Mal in der jüngeren politi-
schen Geschichte der Türkei kamen Sozialdemo-
kraten, kurdische Verbände, muslimische Demo-
kraten, Liberale, radikale Linke und gemäßigte
Nationalisten in einem Saal zusammen. Auch
Abgeordnete der drei Parteien, die bei der Wahl
kooperiert hatten, waren dabei. Sie alle vereint,
dass sie von der Repression des Regimes betroffen
sind. Trotz aller Unterschiede verständigten sie
sich bei der Konferenz auf ei-
nige Begriffe: Demokratie,
Gerechtigkeit, Freiheit, Gleich-
heit, Laizismus, Rechtsstaat,
Menschenrechte, Frieden.
Zwei Tage lang bemühten
sich die Oppositionellen um den
Unterbau eines auf diese Werte
gestützten neuen »Gesellschafts-
vertrags«. In den Arbeitsgruppen
ging es darum, wie eine Post-
Erdoğan-Türkei aussehen könne. In allen Bereichen,
von Bildung bis Justiz, Armee bis Medien, Wirtschaft
bis Gesundheitswesen, wird man eine Ruine über-
nehmen müssen. Um deren Trümmer zu räumen,
wird es eine Mobilisierung brauchen wie beim Wie-
deraufbau in Deutschland nach dem Kriegsende.
Dafür nahmen die aus ganz Europa nach Berlin ge-
reisten Exilierten, vor allem aus ihren Lehrämtern
vertriebene Akademiker und Akademikerinnen, auf
ihren jeweiligen Gebieten Vorbereitungen auf.
Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein gro-
ßer für die Türkei. Jetzt gibt es eine starke Alterna-
tive zu Erdoğan, einen bemerkenswerten neuen
Ansprechpartner für Europa in der Türkei.
Attacken der regierungsnahen Presse zeigen,
welche Panik dieser erste Funken bei der Regierung
ausgelöst hat. Auf der Konferenz wies ein Redner auf
den eingangs erwähnten »Deutschen Freiheitsbund«
hin. Von einem Denunzianten informiert, der das
offenbar nicht recht verstanden hatte, schrieb eine
Zeitung, der »Deutsche Freiheitsbund« habe das
Treffen finanziert. Im Saal wurde über die Fehlinfor-
mation gelacht, sie knüpfte ein Band vom damaligen
Engagement zum Heute, von Ankara nach Berlin.
Jetzt steht an, die Türkei zu retten.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Die türkische Opposition plant die Zeit
nach Erdoğan VON CAN DÜNDAR

Von Berlin nach


Ankara


MEINE
TÜRKEI (159)

Can Dündar ist Chefredakteur
der Internetplattform »Özgürüz«.
Er schreibt für uns wöchentlich über
die Krise in der Türkei

Z


u den Exportprodukten, mit
denen Deutschland die Türkei
bereichert hat, gehören nicht
nur Panzer, Luxusautos und
Pauschaltouristen, sondern tat-
sächlich auch: Rap. Denn Tür-
kischer Hip-Hop entstand nicht
etwa am Bosporus, sondern mehr als zweitau-
send Kilometer entfernt am Landwehrkanal, am
Main, am Rhein, in der Jugendsubkultur, die
sich im Zuge des deutsch-türkischen Anwerbe-
abkommens in den späten Achtzigern und frü-
hen Neunzigern entwickelte. Als Remix eines
Max-Frisch-Zitats klänge die Geschichte so:
»Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen
Rapper.« Türkischer Rap kommt aus der Dias-
pora in Deutschland, wo amerikanische Hip-
Hop-Elemente und anatolische Samples mit-
einander verschmolzen. Erst Mitte der Neunzi-
ger brachten Rap-Pioniere diese Hybride dann
aus Deutschland in die Türkei.
Zu den ersten türkischsprachigen Rap-Crews
zählten $lamic Force aus Kreuzberg. In ihrem
Song Gurbetçi Çocukları von 1997 beschreiben
sie das ewige Driften zwischen zwei Kulturen,
von denen sie jeweils ausgegrenzt wurden: In der
Türkei seien sie Deutschländer, die »Almancı«,
in Deutschland Fremde, die »Yabancı«, sie sind
Kind von »Gurbetçi«, den Türken, die im Aus-
land leben. Während $lamic Force Geheimtipp
blieben, gelang dem deutsch-türkischen Kollek-
tiv Cartel der Durchbruch, als ihr allererstes Al-
bum ausgerechnet in der Türkei auf Platz eins
der Charts landete: »Du bist Türke. In Deutsch-
land. Verstehe das, und vergiss es nicht«, heißt es
in ihrem Song Sen Türksün. 1995 klangen Mölln
und Solingen hier noch nach.

Ausgerechnet solch ein Almancı-Produkt, eine
deutsch-türkische Rap-Unternehmung, ist es
nun, die die Türkei auf- und durchrüttelt, weil
sie anspricht, was im Argen liegt: Susamam
(»Ich kann nicht schweigen«) heißt der Song,
den 17 der erfolgreichsten Rapper des Landes
auf Initiative des Hip-Hop-Künstlers Şanışer
hin aufgenommen haben. Ihre Themen: Frauen-
rechte, die türkische Justiz, inhaftierte Journa-
listen, Zensur, Umweltfragen. Und das zu einer
Zeit, in der bereits ein falscher Tweet jahrelan-
ge Haft bedeuten kann und viele andere türki-
sche Künstler der Mut verlassen hat, Missstän-
de in ihrem Land anzuprangern oder auch nur
anzudeuten.
Mehr als 28 Millionen Menschen haben das
aufwendig produzierte, fünfzehn Minuten lange
Video seit seiner Veröffentlichung vor drei Wo-
chen auf YouTube gesehen. Die Schriftsteller
Elif Şafak und Zülfü Livaneli haben es auf
Twitter geteilt, der Filmregisseur Fatih Akin ließ
sich das Hashtag #Susamam sogar auf den Arm
tätowieren.
Gleich die erste Szene des Videos widerspricht
den gängigen ästhetischen Formeln des Rap-
Geschäfts: keine urbanen Szenen, keine dicken
Autos, keine spätpubertären Posen. Stattdessen
die türkische Steppe unter strahlend blauem
Himmel. Mittendrin steht ein Panzer, aus der
Untersicht sehen wir Fuat Ergin, er beklagt Um-
weltzerstörungen, Bilder von brennenden Wäl-
dern und rauchenden Fabrikschornsteinen fla-
ckern auf. Dazu rappt Ergin: »Wir sind migriert
und verdorben / Haben Abfall gekotzt / Sind so
tief gesunken, dass wir unsere drei Meere vollge-
schissen haben / Der unberechenbare Halbstarke
atmet Abgase und ging zum Barbecue.«

Auch der 46-jährige Ergin hat mit Rap in
Berlin angefangen, wo er geboren wurde und
lange gelebt hat. Er war Teil der legendären Hip-
Hop-Crew M.O.R., zu deren Gründungsmit-
gliedern auch Kool Savas gehörte, einer der stil-
prägendsten deutschen Rapper. Ergin nennt sich
in seinen Songs wie auch in unserem Skype-
Gespräch nicht ohne Stolz »einen Westberliner
Türken«, er spricht hervorragend Deutsch und
Türkisch und widerspricht damit dem Klischee
des Almancı, einer Figur, die weder das eine
noch das andere perfekt beherrscht. Ergin rappt
meist auf Türkisch, und wer den Unterschied
zwischen der deutschsprachigen und türkisch-
sprachigen Rap-Szene kennt, weiß auch, wieso:
Während deutscher Straßen-Rap so oft unpoli-
tisch bleibt, hat sich Türkrap ernsteren Themen
verschrieben.
Letztlich blieb den Musikern auch gar nichts
anderes übrig – nach den Protesten im Gezi-
Park, dem Putschversuch und seinen Folgen, der
ökonomischen Krise. »Die Rap- und Hip-Hop-
Kultur ist bei uns nicht nur einfach irgendein
Gelaber über Party, über Champagner, über
Drogen, Kiffen oder was weiß ich. Hier sind
Leute, die was zu sagen haben, und die haben es
mit Rap gemacht.«
Türkischer Rap musste erwachsen werden.
Das hat Ergin, der bei den Gezi-Protesten 2013
mitten im Geschehen war, am eigenen Leibe er-
fahren. »Neben mir wurden Leute erschossen,
ich habe anderen geholfen, die vom Tränengas
verletzt wurden.« Diese Erfahrung unterscheidet
ihn von manchen seiner Mitstreiter im Susam-
am-Video, Şanışer zum Beispiel rappt: »Ich bin
apolitisch aufgewachsen, habe nie gewählt.« Er
sei immer politisch gewesen, sagt Ergin. Warum

hat es so etwas wie Susamam dann nicht schon
vorher gegeben? »Das war ein Gärungsprozess.
2013 haben wir uns wirklich alle krass gefürch-
tet«, sagt Ergin. »Man muss sich das vorstellen:
Freunde von uns sind gestorben, sind erblindet
von den Plastikkugeln der Polizisten. Wir hatten
wirklich ernsthafte Angst davor, irgendetwas zu
machen. Hätten wir diesen Song 2013 gemacht,
wir wären heute immer noch im Knast.«
Nicht nur das Schweigen ist jetzt gebrochen.
Auch Unterschiede, die sonst zur Spaltung des
Landes führten, scheinen hier egal zu sein: »Wir
haben Leute dabei, die Sympathisanten der Partei
HDP sind, mit kurdischen Wurzeln. Ich bin Türke.
Ein ganz anderer sympathisiert mit dem nationa-
listischen Flügel.« Sie alle wurden aus der schwieri-
gen Gemengelage heraus aktiv, kämpfen gemeinsam
für dieselben Rechte. »Dieses Projekt ist so wie ein
Gemälde von der Türkei, über die Türken«, sagt
Ergin. »Wir sind alle zusammengekommen und
haben gesagt: Ey, egal, was passiert ist, egal, wie viel
Blut geflossen ist, wir können einfach miteinander,
und darum geht es.«
Es war der türkische Dichter Nâzım Hikmet,
der einmal von der unbeugsamen Stoßkraft der
Musik schrieb. In seinem Gedicht Şarkılarımız
(»Unsere Lieder«) forderte er, dass Lieder auf die
Straße gehen, an den Fenstern und Türen rütteln
sollen, bis diese sich öffnen. Susamam ist genau das
in beeindruckender Weise gelungen, und man kann
mit Ergin zusammen nur hoffen, dass das Echo
noch lange nachhallen wird: »Leute zwischen sieben
und siebzig Jahren fanden den Song gut und haben
gesagt, dass wir ihnen aus der Seele sprechen. Die-
ser Track hat sich zu einem Sprachrohr entwickelt,
und ich hoffe, es geht weiter, ich hoffe, dass er nicht
ver gessen wird.«

Der


Aufstand der


Krassen


Seit dem Protestsong »Susamam« spricht


man auch in Deutschland über Hip-Hop aus der


Türkei. Worum geht es den Rappern dort?


VON SINEM KILIÇ

Hip-Hop ist nicht nur
»Gelaber über Partys«,
sagt der Rapper Fuat Ergin

Fotos: Burak Bulut Yıldırım; Andreas Pein/laif (u.); Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 FEUILLETON 65


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