Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Ganz schön bunter Vogel:
Albrecht Dürers Zeichnung
»Flügel einer Blauracke«, um 1500

Abb.: Albrecht Dürer »Flügel einer Blauracke«/© Albertina, Wien

Der sezierende Blick


Wie Albrecht Dürer die Welt


neu sehen lernte – eine


Ausstellung in Wien
VON FRIEDERIKE QUANDER

D


er Künstler erhebt sich nicht
über die Welt, er legt sich
mitten hinein, mitten in
eine Wiese mit Löwenzahn,
Schafgarbe, Ehrenpreis, mit
Grashalmen, die in der Nase
kitzeln. Lange vor Franz Kaf-
ka hat der Renaissancemaler Albrecht Dürer
(1471-1528) die Käferperspektive zu seiner eige-
nen gemacht. Er taucht ein in die Sphäre des Über-
sehenen, und fast könnte man meinen, er habe für
sein berühmtes Rasenstück den Halmen beim
Wachsen zuschauen wollen. Dürers Blick geht so
tief, dass er unter die Erde dringt und auch hier,
gewissermaßen im Schmutz der Existenz, nach
dem Ausschau hält, was bildwürdig sein könnte,
wie die zarten, weißen Wurzeln zum Beispiel.
Bis heute weiß niemand so genau, warum Dürer
sich für das Niedere und scheinbar Unwürdige in-
teressierte und mit unerschöpflicher Akribie aufs
Papier brachte. Es weiß auch niemand, ob er seine
Zeichnungen als autonome, vollwertige Kunstwerke
begriff oder eher als wissenschaftliche Studien oder
gar als Schaustücke eines privaten Erkenntnisdrangs.
In Wien, in einer großen Dürer-Ausstellung mit über


hundert Zeichnungen, einem Dutzend Gemälden
und rund 40 Druckgrafiken, wird das Rasenstück nun
fast wie ein Gemälde präsentiert, ebenso wie der
berühmte Feldhase und der Flügel einer Blauracke.
Christof Metzger, der die Ausstellung kuratiert
hat, denkt nicht, dass es sich hier nur um Studien
oder Vorzeichnungen für spätere Bildvorhaben ge-
handelt habe. Viel zu aufwendig sei die Ausführung,
viel zu üppig der Detailreichtum.
Und es stimmt, es sind ungeheuer eindrück liche
Blätter, allein der ausgebreitete Flügel wirkt so monu-
mental, als gehöre er einem Paradiesvogel und nicht
einem einheimischen, gerade mal spatzengroßen Tier.
Man muss diese Zeichnung im Original gesehen
haben: Das hypnotische Blau irisiert in einer Weise,
die von keiner Reproduktion eingefangen werden


kelgrau verdichten, heraufbeschwört, während er
darüber, in der Sphäre der Nemesis, einen radi-
kalen Bruch wagt und auf jegliche Schraffur
verzichtet. Die gestrichelte Anspannung verliert
sich in der weiten weißen Leere des Blattes.
Diese Bereitschaft zu Extremen ist es, die
Dürer in seiner Zeit modern, ja vielleicht sogar
einzigartig macht. Es ist eine Epoche, die sich
neue Horizonte erschließt. Nicht nur die
bekannte Welt weitet sich, die Europäer erobern
ferne Kontinente. Auch der Kanon an Themen,
die wissenschaftlich wie künstlerisch bearbeitet
werden, bricht auf. Nicht zu vergessen der Buch-
druck, der den Austausch revolutioniert und dem
Wissen eine neue Form gibt. Gerade diese Erfin-
dung ist es, die Dürers frühen Erfolg befördert,
da es erst die Druckgrafik ist, die es ihm erlaubt,
mit einem einzelnen, vielfach reproduzierten Bild
große Gewinne zu erzielen.
Die schnelle Vervielfältigung hatte auch er-
schwinglichere Preise zur Folge, sodass sich dem
Künstler neue Märkte erschlossen und er sich aus
der alleinigen Bindung an Adel und Klerus lösen
konnte. Somit wurde ein anderer, in gewisser
Weise demokratischer Zugriff auf die Wirklich-
keit möglich. Einerseits hielt sich Dürer zwar an
bestehende Konventionen, etwa wenn er sehr
darum bemüht war, Adam und Eva als perfekte
Menschen zu entwerfen. Zugleich jedoch ent-
wickelte er einen peniblen Naturalismus und
zeichnete viele seiner Zeitgenossen mit arger
Schonungslosigkeit. So blickt der Hauptmann
Felix Hungerspreng mit schmerzhaft schielendem
Auge in die Welt.
Nicht zuletzt solche Bilder sind es, die Dürer
bis heute unverändert aktuell halten. Es ist sein
unvoreingenommener Blick, das vorurteilsfreie
Sehen, das Interesse für alles und jeden hegt.
Dürer widmet sich mit derselben Bildliebe dem
Porträt eines Afrikaners wie dem seines Bruders
Endres. Die Perspektive eines Käfers ist genauso
willkommen wie die Aufsicht auf eine Stadt aus
der Luft. Alles ist gleichermaßen darstellungs-
würdig, es ist ein Sehen ohne Hierarchien.

A http://www.zeit.deeaudio

Zu sehen in der Albertina, Wien, bis zum


  1. Januar (www.albertina.ateausstellungen).
    Der Katalog kostet im Museumsshop 34,90 €


könnte. Unwillkürlich fragt man sich, ob Dürer
seiner Farbe wohl Goldstaub beigemischt hat.
Gemeinsam wirken die drei Blätter fast wie
ein Triptychon, nur dass sie eben genau das
nicht sind: Ihnen fehlt jegliche christliche oder
mythologische Ikonografie, sie sind keine
Bedeutungsträger, und das unterscheidet sie
dann doch von klassischen Gemälden, die
mit viel Sinn aufgeladen werden. Vielmehr
stehen sie für sich allein und für Dürers
naturwissenschaftliche Freude am sezierenden
Sehen.
Nichts überlässt Dürer dem Zufall. So sind
auch seine Zeichnungen wohl komponiert, den
Hasen setzt er in einen leeren Raum, er stellt ihn
frei, sodass der Blick nicht abgelenkt wird und
man sich das Fell in all seinen Details anschauen
und in der Betrachtung ganz verlieren kann. Es
ist diese Konzentration auf das Wesentliche, die
aus der Studie ein eigenes Kunstwerk macht.
Hat man sich erst einmal auf Dürers Bild-
freude eingelassen, kommen einem auch jene
Papierarbeiten wie eigenständige Kunstwerke
vor, die als Vorzeichnungen für Gemälde ent-
standen. Die betenden Hände sind auf dem
Heller-Altar, für den Dürer sie entwarf, ein
Detail, das man kaum wahrnimmt. Als Einzel-
zeichnung entfalten sie hingegen eine eigene,
beinahe sakrale Wirkmacht. Oft hat man bei
Zeichnungen den Eindruck, dem Künstler
nahezukommen, viel näher als bei Druckgrafi-
ken oder Gemälden. Fast als blicke man dem
Künstler über die Schulter und folge seinem
Denken und Handeln. Sichtbar wird das Pro-
zessuale seiner Kunst: Das Sehen, Auswählen
und Entscheiden. Was ist wichtig und soll
betont werden, was kann ausgelassen werden?
Diese Fragen ziehen sich wie rote Fäden durch
Dürers gesamtes Schaffen. Immer sucht er eine
spannungsvolle Balance zwischen dem Verdichten
und dem Auslassen, so beispielhaft auf seinem
Kupferstich Nemesis. Zu sehen ist eine nackte,
geflügelte Frauengestalt, die auf einer Kugel in
luftiger Höhe über einer Stadtvedute schwebt. Die
Wolken zu Füßen der mythologischen Schicksals-
göttin ziehen sich wie ein Band durchs Bild und
trennen sie von der diesseitigen Welt. Verstärkt
wird diese Teilung noch durch die gewittergleiche
Stimmung, die Dürer unter dem Wolkenband
durch unzählige Linien, die sich zu einem Dun-

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