Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Mimikry statt Trost: Dani (Florence Pugh, 2. v. r.) und der abgründige Choral der Dorfmädchen

Foto (Ausschnitt): Courtesy of A24; Illustration: Jindrich Novotny/2 Agenten für DIE ZEIT

Verheißung und Schrecken


Grüne Wiesen, Menschen in heller Tracht und eine mysteriöse Sekte: Ari Asters meisterhafter Horrorfilm »Midsommar« VON SEBASTIAN MARKT


D


er Horror – oder die aus Unge-
wissheit geborene Angst vor einer
schrecklichen Wahrheit, – be-
ginnt in diesem Film mit einer
kryptischen Nachricht, die die
Studentin Dani (Florence Pugh) von ihrer
psychisch labilen Schwester aufs Handy ge-
schickt bekommt. Im nächtlichen Zustand an-
steigender Unruhe versucht sie sie zu erreichen,
oder ihre Eltern, vergeblich. Trost sucht sie bei
ihrem Freund Christian (Jack Reynor), der gera-
de mit drei wie er an Dissertationsprojekten la-
borierenden Kumpels in einem bekifften Fress-
anfall steckt. Christian bleibt in dem Telefonat
rein technisch vermittelte Stimme, kein Gegen-
schnitt löst die Szene auf. Sie springt erst später
zu der Jungsrunde, die wiederum Dani irgend-
wo im Off belässt, während Christians Freunde
ihm das dringende Ende seiner Beziehung nahe-
legen: Dani sei doch nur noch ein hysterischer
Klotz am Bein.
In Midsommar, seinem zweiten Spielfilm, erweist
sich der Regisseur Ari Aster – wie auch schon in
seinem Debüt Hereditary, das aus der Trauer um eine
verstorbene Matriarchin ein Geisterhaus entste-
hen ließ – als Meister der Exposition. Die Vor-
geschichte zieht in ihren erzählerischen und
motivischen Öffnungen einen doppelten Boden
ein. Schiefe Geschlechterverhältnisse und Manipu-

lationen, Trauer und Co-Abhängigkeit bereiten den
Paukenschlägen, die noch folgen werden, einen
untergründigen Ressonanzraum.
Aus dem klaustrophobischen, winterlich düste-
ren College bewegt sich der Film unter sommer-
lichen freien Himmel ins schwedische Hälsingland.
Pelle (Vilhelm Blomgren), ein Austauschstudent,
hat seine Freunde eingeladen in die Landschaft, in
der er aufgewachsen ist. Mit dabei ist Dani, als
fünftes Rad am Bro-Wagen, mit jüngst erlittenem
familiären Trauma. In der abgelegenen Wildnis
macht Pelle die vier mit seinem Dorf vertraut: halb
Hippie-Aussteigercommunity, halb archaische
Natursekte, mit freizügigem Umgang mit psycho-
tropen Substanzen.
Weil Sommer ist, geht die Sonne nicht recht
unter und verleiht der Szenerie ein beständiges, un-
erbittliches Gleißen. Sattgrüne Wiesen, altertüm-
lich-mystische Dorfbauten, Menschen in heller
Tracht, die ausgelassen über die Wiesen tanzen. Sie
kommen gerade recht zum großen Mittsommerfest
der Hårga, wie sie sich selbst nennen, das, einem
90-Jahre-Rhythmus folgend, ein ganz besonderes
werden soll.
Während der enervierende Dude-haftige Mark
den sexuellen Verheißungen des Kommunenlebens
hinterherhechelt, versucht der Anthropologe Josh
dem Sinn der Gemeinschaft teilnehmend auf die
Spur zu kommen. (Als einzige schwarze Figur des

Films, die vermittelnd zwischen den Fremden und
den anderen steht, ist er einer der vielschichtigsten
Charaktere des Films.) Dani versucht sich in ihrer
Trauer wieder zu finden, während Christian der auf-
geschobenen Trennung hinterherblickt. Sie beide,
wie auch die anderen Fremden, werden mit Fort-
gang der Feierlichkeiten langsam in die Kommune
verstrickt, ein Weg, der sich über Verheißung und
Schrecken vollzieht.
Dass das Kino im Horrorfilm keine Träume
fabriziert, sondern in Albträumen fiebert und auf
der Leinwand Dingen Gestalt zu geben vermag, die
eher im Off der gesellschaftlichen Selbstverständi-
gung liegen, gilt nicht erst für die gegenwärtige
Renaissance eines von Autorinnen und Autoren
geprägten Genrekinos. Friedrich Wilhelm Murnaus
Nosferatu hatte 1922 unendlich viel vom Seelen-
leben der Weimarer Republik zu erzählen, George
Romeros Nacht der lebenden Toten 1968 von der
amerikanischen Gesellschaft im Vietnamkrieg,
Jennifer Kents The Babadook (2014) von moderner
Mutterschaft oder Jordan Peeles Get Out (2017) und
Us (2019) vom amerikanischen Rassismus.
Midsommar arbeitet sich an der Grenze von Natur
und Kultur ab, am Versprechen unvermittelter
Gemeinschaft, an einem Jenseits unerfüllter Bezie-
hungen und dem Preis moderner Individualität.
Aster versteht sich in den sehr spannungsvollen
zweieinhalb Stunden Laufzeit seines Films hervor-

ragend darauf, eine Gemengelage aus langsam an-
wachsendem Unbehagen, Schocks und kleinen
Blickverschiebungen zu inszenieren. Pawel Pogor-
zelskis Kamera gelingt es, der unablässigen Hellig-
keit permanenten Schrecken abzugewinnen, wäh-
rend das Sounddesign aus den Gesängen der Kom-
munardinnen und den Geräuschen des technik-
armen Dorfalltags fast unmerkliche, aber schauer-
liche Dissonanzen gewinnt.
Zu den unheimlichsten Gewohnheiten der
Gemeinschaft – es sind die verstörendsten Szenen
des Films – gehört der Brauch der Gruppe, die
spontanen Gefühlsäußerungen Einzelner durch
Mimikry zu erwidern und zu verstärken. Schmer-
zensschreie und Schluchzen und, in einer der bi-
zarrsten Szenen, ekstatisches Stöhnen werden so
zu einem abgründigen Choral. Es sind ausgestellt
empathische Gesten, die, auf die intimsten und
unwillkürlichen Äußerungen körperlicher wie see-
lischer Individualität angewendet, diese geradezu
auslöschen.
Midsommar ist ein Seh- und Hörbild über den
Knoten aus Versprechen und Unbehagen, den die
Gemeinschaft darstellt. Der Moment, an dem der
Horror einer unheimlich harmonischen Gemein-
schaft endgültig in den Terror des Geheimnisses
ihres Zusammenhalts umschlägt, hält schließlich
einen Moment abgrundtief ambivalenter Katharsis
bereit. Für Dani und für uns.

Die Missstände in der deutschen Medienland-
schaft erlauben es uns nicht länger, mit gewohn-
tem hanseatischen Gleichmut über sie hinweg-
zusehen. Journalisten, die dem grünen Meinungs-
monopol nahestehen, bevorzugen stets das Ab-
weichende und Auffällige gegenüber dem Nor-
malen und Gewöhnlichen. Sie versperren den
Meinungskorridor mit Halbwahrheiten, sodass
für die Vollwahrheit kein Durchkommen mehr
ist. Besonders bedrohlich ist die Lage in den Talk-
shows. Jeder Erstklässler, der nicht das Pech hat,
in Berlin, Bremen oder Bochum zur Schule gehen
zu müssen, weiß, dass CO₂ den Pflanzen guttut
und sie zum Blühen bringt. Darf der Bürger das
sagen? Er darf es nicht. Er darf nicht sagen, dass
es bereits im Hochmittelalter eine Warmperiode
gab, in deren Folge es ständig zu Wikingerüber-
fällen kam. Dass inzwischen die Wikinger ver-
schwunden sind und wir in Frieden leben können,
ist grünen Meinungspolizisten keine Zeile wert.
Oder dieser Fall: Unlängst geriet im niederrhei-
nischen Hamminkeln ein Saunaclub in Brand, in
dem gemischte Paare ergebnisoffen miteinander
ins Schwitzen kamen. Als die freiwillige Feuerwehr
eintraf, nahmen die erhitzten Clubgäste ihnen die
Schläuche weg, um sich gegenseitig nass zu sprit-
zen. Was taten Journalisten, denen ständig die
Moral aus der Feder tropft? Sie empörten sich über
mangelnden Brandschutz in den Hinterzimmern,
ohne zu erwähnen, dass täglich Tausende Sauna-
clubs ohne Störungen im Betriebsablauf und mit
voller Geld-zurück-Garantie ihren Dienst ver-
richten. Es sind dieselben Journalisten, die darüber
meckern, dass 25 Prozent der Züge unpünktlich
sind, während sie verschweigen, dass 75 Prozent
auch in umgekehrter Wagenreihung eben pünkt-
lich ankommen. Ähnlich ist die Zahlenlage in
Sachsen-Anhalt, wo 25 Prozent der Kinder von
Armut bedroht sind. Während mentalgrüne
Journalisten diesen Zustand geißeln, unterschla-
gen sie die Tatsache, dass 75 Prozent der Kinder
dort voll satt werden. Oder dies: Vor einiger Zeit
entdeckten Sterngucker den verblüffend erdähn-
lichen Exoplaneten K2-18b; es gibt dort Wasser,
das auch zum Löschen brennender Saunaclubs
geeignet sein soll. Journalisten feierten K2-18b als
glücklichen Planeten, während sie über die Gala-
xie der Namenlosen mal wieder kein Wort ver-
loren – über all die unglücklichen Planeten, die
in kosmischer Einsamkeit auf dem Trockenen
sitzen, die nie etwas über sich in einer Zeitung
lesen durften und die daraufhin so empört über
das rot-grüne Meinungsmonopol waren, dass sie
einen heißen kosmischen Flammenfluch zur Erde
schickten, weshalb diese nun immer wärmer wird,
immer wärmer – bis zum FINIS

Das


Letzte


Wie im Journalismus ist auch in der Literatur eine
schlechte Nachricht eine gute Nachricht. Wer will
schon von Idyllen lesen, während das wirkliche
Leben von Enttäuschung zu Enttäuschung eilt.
Dieser Parole frönten auch die Autoren des Berli-
ner Writers’ Thursday, der diesmal am Samstag
und auf einem Gehöft im Mühlbecker Land nörd-
lich der Metropole stattfand. Gastgeber war Flake,
Autor und Rammstein-Keyboarder. Im entspre-
chend heruntergerockten Interieur sorgten abge-
tretene Teppiche, Flohmarktstühle und XXL-Nippes
für eine genuin ostdeutsche Punk-Atmosphäre.
Kerzen wiesen den Weg, und im Hof jagte ein
Feuer, um das sich dicht an dicht die Gäste schar-
ten, Funken in den Nachthimmel.
Flake eröffnete den Abend mit einer launigen
Rede voller Biedermeier- und Sponti-Attitüde. Er
sprach von Vögelchen und Flügelchen, teilte gegen
musizierende Schauspieler aus, erklärte standes-
gemäß, dass es für Musik nicht wichtig sei, ein In-
strument zu beherrschen, und garnierte das Ganze

mit Versatzstücken linker Orthodoxie: Da »das
kapitalistische System auf Profitmaximierung aus-
gerichtet ist« und die Menschen von Gefühlen ge-
leitet würden, votierte er im Interesse klarer Ent-
scheidungen dafür, dass Computer das Regieren
übernehmen. »Man muss dann aber auch machen,
was der Computer sagt.«
Das Publikum amüsierte sich köstlich, und so
ging es weiter. Lea Streisand kokettierte mit
Schreibblockwehen: »Ich weiß nicht, ob ihr schon
mal einen Roman geschrieben habt – es macht
keinen Spaß!« Das merkte man ihrer Lesung aus
Hufeland, Ecke Bötzow natürlich nicht an. Mit der
versierten Rasanz einer Radiokolumnistin navi-
gierte sie von grotesken zu poetischen Details einer
Prenzlauer-Berg-Kindheit: Die Oma residiert an
heißen Tagen in Unterwäsche mit dem Kreuz-
worträtsel als Hitzeschutz auf dem Kopf. Die Bett-
wäsche kommt steif geplättet wie Blätterteig aus
der Gefängniswäscherei zurück. »Ist das jetzt
Mangel wirtschaft?«, fragt die Tochter.

Literatur der


Mangelwirtschaft


VON INGEBORG HARMS

BERLINER CANAPÉ S Nicht weniger temperamentvoll und stellenweise
vom eigenen Witz so bezaubert, als hätte das Buch ein
anderer geschrieben, las der gebürtige Meißener Ale-
xander Kühne aus Düsterbusch City Lights vor. Darin
geht es um eine Brandenburger Disco zu DDR-
Zeiten, in der Skinheads das Kommando führen.
Anton, der Held, gerät auf dem Klo in ihren Fokus,
wo sie schon einen Alkoholiker malträtiert haben. Die
Kunst seiner Erzählung beruht auf dem Spielraum in
Antons Kopf, wo Entsetzen mit Neugier und Empö-
rung kämpft, auf liebenswürdigen Nebenfiguren wie
der die Skins stoisch über sich ergehen lassenden Klo-
frau und Antons Selbstironie als abservierter Lieb-
haber: »Ich hatte große Lust, sie als Opfer darzubrin-
gen« erzielte die meisten Lacher.
Überlebensinstinkt besitzt auch Jochen Schmidts
Protagonist in Ein Auftrag für Otto Kwant. Als Archi-
tekt landet er in einem autoritären Staat des sowje-
tischen Erbes und nach seiner Weigerung, dem Dik-
tator einen »Palast der Demokratie« zu bauen, in einer
Besserungsanstalt. Er rettet sich auf eine einsame

Baustelle, wo ein deutschstämmiger Arbeiter
ihn in desolatem Ambiente mit selbst gebastel-
ten Porno-Kartendecks und der Hauruck-
Zubereitung von Baggerseefischen vertraut
macht. Auch Jochen Schmidt wuchs im Osten
auf. Und so zeichnete sich an diesem Abend
eine ganz eigene Schule deutscher Gegenwarts-
literatur im Geiste absurder Heiterkeit ab. Der
bundesdeutsche hohe Ton der Gruppe- 47- Tra-
di tion fehlte komplett. Die Stimmung im vor-
wiegend ostdeutschen Publikum legte nahe,
dass Literatur hier ein Grundnahrungsmittel
ist, selbst auf die Gefahr hin, darin als Opfer
dargebracht zu werden.

Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen »Berliner
Canapés« von Ingeborg Harms, »Jessens Tierleben«
von Jens Jessen, »Männer!« von Susanne Mayer sowie
»Auf ein Frühstücksei mit ...« von Moritz von Uslar

A http://www.zeit.deeaudio


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 FEUILLETON 67


ANZEIGE

MIT VIEL GESPÜR FÜRS DETAIL
An Bord genießen nur maximal 400 Gäste ein überschaubares,
privates sowie deutschsprachiges Ambiente. Sie schätzen vor allem
die herzlich-persönliche Note der 170-köpfigen Crew und ihr Gespür
für guten Service. Das Panorama-Restaurant mit einer Tischzeit,
die Buffet-Alternative im Palmgarten, ein Concierge-Service für
individuelle Wünsche, eine kostenlose Kaffee- und Teestation,
der Willkommenscocktail oder die fachkundige Reiseleitung, die
Lektorenvorträge sowie moderate Nebenkosten runden das
»detailverliebte« Angebot der MS HAMBURG ab.

Foto: Erika Tiren

Foto: Ørjan Bertelsen

Lieben Sie das Abenteuer und möchten immer
wieder Neues entdecken? Dann ist MS HAMBURG
die richtige Wahl. Das kleinste Kreuzfahrtschiff
Deutschlands bietet besonders vielfältige Routen –
abseits vom Massentourismus. Jede Reise ist wie
eine Expedition ins »Meer« der Möglichkeiten.
BERATUNG UND BUCHUNG:
In jedem Reisebüro oder bei PLANTOURS Kreuzfahrten,
eine Marke der plantours & Partner GmbH | Martinistraße 50–52
28195 Bremen | Tel. (0421) 173 69-0 | [email protected]
http://www.plantours-kreuzfahrten.de

MS HAMBURG Naturparadiese in Sicht^


DIE SCHÖNHEIT AM ENDE DER WELT
Die Spitze Südamerikas bietet große Abenteuer. Die Umrundung
des berühmten Kap Hoorn ist legendär. Die Gletscher, Gipfel
und glasklaren Seen der chilenischen Fjorde sorgen für weitere
Superlative. Die Passage der Magellanstraße wird Sie ebenso
begeistern wie die Falklandinseln. Hier brilliert die »kleine«
MS HAMBURG in engen Fjordpassagen oder schafft bei Schlauch-
boot-Anlandungen Gänsehautmomente in der stillen Schönheit
am gefühlten Ende der Welt.
19 Tage »Chilenische Fjordwelt« vom 30.01. bis 17.02.2020,
zum TOP-Preis ab 4.449 Euro inkl. Flug pro Person

EINE NORDISCHE TRAUMROUTE
Im Sommer 2020 setzt MS HAMBURG auf den Dreiklang der
schönsten Inseln des Nordens: Spitzbergen, Island und Grönland.
Die von arktischen Einflüssen geprägten Eisinseln sind wahre
Naturparadiese. Die Kreuzfahrt findet unter wissenschaftlicher
Begleitung statt. Gletscherwanderungen, ein Bad in den heißen
Quellen der Blauen Lagune auf Island, Ausflüge zu Wikinger-
siedlungen oder Zodiac-Fahrten vor Grönlands Eisbergen zählen
zu den Highlights.
20 Tage »Spitzbergen, Island & Grönland« vom 13.08. bis
01.09.2020, zum TOP-Preis ab 3.999 Euro inkl. Flug pro Person
Free download pdf