Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Kiên Hoàng Lê porträtiert
hier im Wechsel mit anderen
Fotografen Menschen, die ihm
im Alltag begegnen.
Protokoll: Cosima Schmitt


Ich bin ein Frankfurter Mädsche,
fest verwurzelt im Nordend.
Nach dem Abi sind fast alle
meine Freunde weggezogen,
Berlin, Köln, Hamburg. Ich
wollte nie in eine andere Stadt,
nicht einmal in ein anderes
Viertel. Ich wohne jetzt drei
Querstraßen von dort, wo ich
aufgewachsen bin. Schon wenn
ich die Bürgersteige sehe, das
Muster der Steine, fühle ich
Heimat. Ich hab gerne Routine,
der Alltag ist schon anstrengend
genug. Ich kenne hier jede
Straße, ich könnte blind von zu
Hause zur Arbeit und zum
Einkaufen gehen. Das Nordend
ist grün, fast in jeder Straße gibt
es Cafés und kleine Läden, hier
läuft man gern zu Fuß. Zwar hat
sich manches verändert, früher
gab es viele junge Öko-Familien,
heute mehr alte Eltern, die
sich mit dem SUV vor den
Gemüseladen stellen. Aber ich
finde es schön, mit meinem Kind
auf den Spielplatz zu gehen, auf
dem ich selbst früher gerne war.


Julia Emmanuele, 28,
ist Schneiderin aus Frankfurt


WER


S I N D


SIE


?


Der echte Horror


Gruselfilme sind heute kaum noch gruselig. Liegt das an den Filmen?
Oder vielleicht an der Wirklichkeit?

Hier entdecken im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz, Nina Pauer und Britta Stuff

N


eulich sah ich mir im
Kino ES – Kapitel 2 an,
eine Verfilmung von Ste-
phen Kings Horrorklassi-
ker, in dem Pennywise,
der »böse Clown«, das Städtchen Derry
heimsucht und dessen Kinder frisst.
Der Film war großer Käse, man er-
schrak ein paarmal ordentlich, aber das
legte sich nach einer Weile. Horror ist
sowieso nicht das Gleiche wie Erschre-
cken, und Horror im Sinne von Schau-
der, Grausen, Entsetzen kam bei mir an
keiner einzigen Stelle auf.
Warum fand ich das so schade,
fragte ich mich. Die Antwort ist ein-
fach: Grusel, Horror, Angst sind im
Kino sehr genießbar, weil man genau
weiß, dass irgendwann der Abspann
laufen und das Licht angehen wird.
Alles ist bloß ein vorüberziehender
Spuk. Das unterscheidet den Film
sehr vorteilhaft vom echten Leben, wo
das Schreckliche nicht unbedingt auf-
hört und ganz am Ende nicht das
Licht angeht, sondern der Vorhang
fällt für immer. Man geht also eigent-
lich in Horrorfilme, um sich trösten
zu lassen.

ES ließ mich nicht nur ungetröstet,
sondern erst nachdenklich und dann
ziemlich niedergeschlagen zurück. Ich
vermute nämlich, dass dieser Film auch
den meisten anderen Besuchern nicht
den Schlaf raubt. Ich fürchte vielmehr,
dass diese ganze Horrorfilmgeschichte
insgesamt überholt ist, jedenfalls die mit
dem Monster, das die Kleinstadt heim-
sucht. Diese rührende Story ist mit Haut
und Haaren gefressen worden von unse-
rer monströsen Gegenwart, in der die
geschminkten, toupierten Clowns der
Wirklichkeit die Macht übernommen
und wir die Kontrolle verloren haben.
Von unserer monströsen Gegenwart, in
der wir regelmäßig echte Bilder sehen
von echten Enthauptungen und echten
Kinderleichen, in der wir Menschen irr-
sinnig lachend wissentlich und brutalst-
möglich unsere eigenen Existenzgrund-
lagen verfeuern. Pennywise ist Enten-
scheiße im Vergleich.
Wenn ich heute selbst einen Horror-
film schreiben sollte, würde ich eine
Adaption von Ludwig Bechsteins Mär-
chen Schab den Rüssel in die Kinos brin-
gen, das kennt im Gegensatz zu ES
kaum einer. In dem Märchen geht es um

einen Bettler, der so lange erfolglos um
Dukaten bittet, bis er dem Leibhaftigen
selbst begegnet. Der Teufel gibt dem
Bettler kein Geld, sondern eine Reibe.
Wenn der Bettler sich damit über den
Mund raspelt, fällt zwischen dem Blut
und dem Gewebe auch Gold zur Erde.
Der Bettler raspelt sich über die Jahre,
wie man sich denken kann, so ziemlich
die ganze Visage herunter.
Bei den Raspelszenen würde ich die
Kamera nicht voll draufhalten und nur
ein bisschen leise, grausige Musik darü-
berlegen, wenn der Bettler weint und
ächzt, und den Rest der Fantasie des
Zuschauers überlassen. Dann würde
ich dazwischen immer Szenen zeigen,
in denen sich der entstellte Bettler von
dem Gold Balenciaga-Masken kauft
oder Ferraris mit getönten Scheiben
oder einen Privatjet. Und dann geht er
wieder hinter den Vorhang und raspelt
noch mehr ab, das Zahnfleisch und so
weiter. Ich glaube, das könnte uns
heute noch gruseln, da könnten wir ein
bisschen was von unserer echten Wirk-
lichkeit drin wiedererkennen. Ich bin
mir nicht sicher, ob man das Kino ge-
tröstet verlassen würde.

ALARD VON KITTLITZ ENTDECKT

Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT

ENTDECKEN



  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40


Fotos: Ina Mortsiefer (großes Bild), Weltkino (Fritzi), Krafft Angerer (Thalia)

»Hinter der Geschichte« live mit


Südamerika-Korrespondent Thomas Fischermann


Ein Unter-Freunden-Abend rund um die großen Recherchen der ZEIT: Redakteure aus unterschiedlichen Ressorts berichten in
Kurzvorträgen von Begegnungen, die sie nicht mehr loslassen – sie erzählen die Geschichten hinter den Geschichten. Mit dabei unter
anderem Südamerika-Korrespondent Thomas Fischermann. Über vier Jahre hinweg besuchte er das Volk der Tenharim am Amazonas.
Wie geht es den Tenharim heute, nach den Großbränden im Amazonasregenwald? Jetzt kostenlos anmelden:

http://www.freunde.zeit.de


Aktuelle


Veranstaltungen



  1. Oktober | München ausgebucht
    Das ZEIT-Leserparlament mit
    Giovanni di Lorenzo

  2. und 23. Oktober | Jena und Erfurt
    »Fritzi – eine Wendewundergeschichte«
    Die Friedliche Revolution im Herbst 1989 mit den
    Augen eines Kindes: »Fritzi« ist ein Film über den Mut,
    die Geschichte zu verändern – Sondervorstellung
    und Filmgespräch.

  3. Oktober | München
    Vererben, spenden und anlegen mit
    gutem Gewissen – geht das?
    Ökologische Geldanlagen stehen stärker denn je im
    Fokus. Doch welche Unternehmen handeln ethisch ver-
    antwortlich? Wie erkennt man sinnstiftende Projekte?
    Über Fragen wie diese möchte ZEIT-Redakteur Jens
    Tönnesmann mit Ihnen diskutieren.

  4. November | Köln ausgebucht
    Das ZEIT-Leserparlament mit
    Giovanni di Lorenzo

  5. November | bundesweit
    Der Vorlesetag – jetzt mitmachen!

  6. November | Berlin
    Redaktionsbesuch im
    Hauptstadtbüro der ZEIT


Für alle
ZEIT-Abonnenten
Werden Sie Freund der ZEIT, und profitieren
Sie von exklusiven Vorteilen – egal ob als
Probe-, Print- oder Digitalabonnent.
Treffen Sie unsere Redakteure, und
erleben Sie den Journalismus
Ihrer Zeitung ganz neu.


  1. Oktober | Münster


Hamburg
Thalia Theater
Das Thalia Theater im Herzen Hamburgs gehört zu
den erfolgreichsten Sprechtheatern Deutschlands. Das
künstlerische Profil wird bestimmt durch entschiedene
Regiehandschriften sowie durch ein starkes Ensemble.
Der Spielplan vereint Uraufführungen, Klassiker und auf-
regende Projekte internationaler Künstler.
20 % Ermäßigung auf alle Vorstellungen

ZEIT Kulturkarte:


Empfehlung der Woche


107440_ANZ_10744000019385_24254000_X4_ONP26 1 20.09.19 14:49
Free download pdf