Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Ein früher Abend in einem Restau-
rant am Landwehrkanal in Berlin.
Die Schülerin Allissa Beer, 19, die
Künstlerin Susanne Wagner, 59, und
der Hörgeräteakustiker Johannes
Meyer, 32, nehmen Platz. Sie kennen
sich nicht, aber ihre gemeinsame
Geschichte schafft gleich Vertrauen –
über die Generationen hinweg. Sie
alle sind Scheidungskinder, die mit
ihren Müttern und deren neuen
Partnern aufgewachsen sind. Allissa
Beer hat eine Halbschwester und eine
Stiefschwester, Johannes Meyer eine
Schwester und einen Halbbruder.
Susanne Wagner hat ihre Kindheit in
wechselnden Konstellationen mit
einem Bruder, 16 Halb- und sieben
Stiefgeschwistern verbracht. Patch-
work ist das Modewort für Familien,
in denen nicht alle Angehörigen
blutsverwandt sind. In vielen Publi-
kationen wird sie als zeitgemäßes
Gegenmodell zur traditionellen
Kleinfamilie gefeiert. Dabei betrach-
ten Bücher wie »Glückliche Stiefmut-
ter« von Katharina Grünewald das
Phänomen immer aus der Perspektive
der Eltern, nie aus der der Kinder.
ZEIT-Autorin Paulina Czienskowski
ärgert das. Sie hat ihre Patchwork-
Jugend vor allem als Belastung emp-
funden. Kann es sein, dass es anderen
genauso geht? Und was sind die Be-
dingungen, unter denen Patchwork
auch für die Kinder funktioniert?

DIE ZEIT: Die Statistik ist deutlich:
In Deutschland wird knapp jede
zweite Ehe geschieden, etwa jedes
sechste Kind wächst inzwischen in
einer Patchwork-Familie auf. Wie
fühlt sich das von innen an?
Susanne Wagner: Patchwork ist die
Realität, für mich ist das aber kein
neues Familienideal. Ich habe sogar
den Verdacht, dass das schöne Bild
der modernen, total entspannten
Patchwork-Familie, das uns die
Frauenzeitschriften seit ein paar Jah-
ren vorgaukeln, genauso falsch ist
wie das der klassischen Familie.
Johannes Meyer: Ich bin da auch
skeptisch. Jede Ehe wird doch in der
Hoffnung auf ewige Liebe geschlos-
sen. Und Patchwork zeigt: Es hat
mal wieder nicht geklappt.

Susanne: Nehmen Sie meine Mut-
ter. Ich bin mir ziemlich sicher, dass
sie sich damals in so viele Ehen ge-
stürzt hat, weil sie eine große, heile
Familie haben wollte. Es ist ihr nur
nicht gelungen.
ZEIT: Die Familienforschung sagt:
Wenn es zwischen den Eltern gar
nicht mehr geht, ist Trennung die
beste Lösung, auch wenn die Kinder
das erst mal nicht hören wollen.
Paulina Czienskowski: Die Tren-
nung meiner Eltern war nicht das
Problem. Die lief sehr freundschaft-
lich ab, mein Vater hatte in der Nähe
eine Wohnung, und ich konnte da
jederzeit hin. Mein Problem war
mein Stiefvater, der mich behandelt
hat, als gehöre ich nicht dazu. Des-
halb regt es mich so auf, wenn ich
lese, wie die tollen neuen Stiefeltern
sich für die Kinder ihrer Partner auf-
opfern. Mit meiner Erfahrung hat
das nichts zu tun. Und mit der mei-
ner Freunde auch nicht.
Johannes: Meine Mutter hatte nach
der Scheidung diverse Partner, die
mit mir und meiner Schwester nichts
anfangen konnten. Ich bin ihr total
dankbar, dass sie mit denen nie zu-
sammengezogen ist. Das wäre nicht
gut gegangen.
Allissa Beer: So hat meine Mutter
das auch lange gehandhabt. Mein
Vater ist in die Türkei gezogen, als
ich vier war. Die ersten Freunde mei-
ner Mutter habe ich nie richtig ins
Herz schließen müssen, weil das nur
Mamas Liebhaber waren. Dann zog
plötzlich Hannes, mein Stiefvater,
bei uns ein. Und vom einen auf den
anderen Tag gab es einen Mann in
der Familie, der mir Ansagen mach-
te. Mir gefiel das gar nicht. Inzwi-
schen nenne ich ihn Papa. Mit seiner
Tochter, die nur ein Jahr älter ist als
ich, gab es sofort eine große Nähe.
Sie hat genau verstanden, wie es mir
in dieser neuen Familie ging. Denn
ihr ging es ja genauso.
Paulina: Glück gehabt, würde ich
sagen. Denn man weiß vorher ja
nicht, wie es läuft. Mein Stiefvater
hat vor der Hochzeit sicher nicht
gesagt: Also, auf die Pauli hab ich
keine Lust. Er hat einfach irgend-
wann aufgehört, Frühstück für mich

mit zu decken. Oder Familienurlau-
be in die Schulzeit gelegt, sodass ich
leider, leider nicht mitfahren konnte.
Das war sicher nicht vorsätzlich bos-
haft, aber sehr unüberlegt.
ZEIT: Was darf man als Kind von
den neuen Partnern der Eltern er-
warten? Gibt es da so etwas wie einen
Mindeststandard?
Johannes: Ich finde, dass den neuen
Partnern klar sein muss, dass sie eine
Familie heiraten. Sie werden ihre
neue Partnerin nie für sich allein ha-
ben, sie sind nicht nur Liebhaber,
sondern auch Teilzeitvater. Das müs-
sen sie aushalten.
ZEIT: Kann es nicht auch übergriffig
sein, wenn der neue Partner der
Mutter gleich als Vaterersatz auftritt?
Paulina: Absolut. Das hätte ich als
Verrat an meinem leiblichen Vater
betrachtet.
Johannes: So habe ich das nicht ge-
meint. Für mich war auch immer
klar: Mein Stiefvater wird meinen
Vater nicht ersetzen können, und in
der Pubertät habe ich ihn das auch
spüren lassen. Ich habe mir wenig
sagen lassen und ihn nie um etwas
gebeten. Trotzdem hat er mich ge-
genüber Fremden immer als seinen
Sohn bezeichnet, was ich schön fand.

Das ist der Moment, in dem Foto-
grafin Madlen Krippendorf, 37, die
Kamera zur Seite legt. Sie ist, wie
sich nun herausstellt, auch in einer
Patchwork-Familie aufgewachsen,
mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater
und ihrer sechs Jahre jüngeren Halb-
schwester.

Madlen Krippendorf: Ich habe mir
seit der Trennung meiner Eltern
nichts sehnlicher gewünscht als einen
neuen Vater. Als meine Mutter wie-
der geheiratet hat, habe ich auf eige-
nen Wunsch den Namen meines
Stiefvaters angenommen, obwohl ich
noch lange nicht zur Adoption frei-
gegeben war.
Allissa: Echt? Wir haben das lange
diskutiert. Mein Stiefvater wollte
mich gerne adoptieren, und ich woll-
te mich auch gerne adoptieren lassen.
Aber ich wollte seinen Namen nicht
annehmen. Und meine Mutter woll-

Fühlt ihr


euch geliebt?


Viele wachsen heute nicht bei der eigenen Mutter oder dem


eigenen Vater auf. In der Patchwork-Familie soll trotzdem jeder


glücklich werden. Aber was macht sie mit den Kindern?


te seinen Namen nur annehmen,
wenn ich das auch mache. Das war
ein ziemliches Hin und Her. Darü-
ber bin ich volljährig geworden. Ich
hänge sehr an dem Namen Beer, der
lange nur mir und Mama gehörte.
Johannes: Das mit den Namen ist
kompliziert. Meine Mutter hat nach
ihrer zweiten Hochzeit den Namen
meines Stiefvaters angenommen,
und obwohl ich immer ein gutes
Verhältnis zu meinem Vater hatte
und gerne seinen Namen trage, fand
ich’s jedes Mal komisch, wenn ich
auf unseren Briefkasten geschaut
habe.
ZEIT: Warum? Der einheitliche Fa-
milienname ist doch gar nicht mehr
so üblich. Viele Frauen behalten ihre
Nachnamen. Mal heißen die Kinder
nach den Müttern, mal nach den
Vätern.
Johannes: Ja, aber es ist etwas ande-
res, ob sich Eltern dafür entscheiden,
ihre Namen nicht aufzugeben, oder
ob dich die unterschiedlichen Na-
men am Klingelbrett jeden Tag da-
ran erinnern, dass da eine Familie
zerbrochen ist. Oder gleich mehrere.
Susanne: Es geht hier ja nicht um
Eitelkeit, wessen Name wird vererbt

und solche Dinge. Es geht um Zu-
gehörigkeit. Meine Mutter zum Bei-
spiel hat immer die Namen ihrer
Männer angenommen, und ich be-
hielt den Namen meines Vaters, was
in den Sechzigerjahren nicht immer
einfach war.
ZEIT: Hätten Sie lieber nach ihren
Stiefvätern geheißen?
Susanne: Auf keinen Fall. Ich habe
erst seit meiner Hochzeit das Gefühl,
einen Nachnamen zu tragen, der mir
gehört. Als Kind bin ich überhaupt
nie auf die Idee gekommen, meine
Stiefväter als Vaterersatz zu sehen.
Dazu haben die sich auch zu wenig
gekümmert, was mir nur recht war.
Die Väter meiner Freundinnen wa-
ren eher abschreckende Gestalten.
Eine hat eine krasse Missbrauchs-
geschichte erlebt, was ich nicht wuss-
te. Aber mir war schon als Kind klar:
So einen Vater brauche ich nicht.
Dann heiratete meine Mutter in
zweiter Ehe diesen einen Mann, der
gerne Familienoberhaupt spielte.
Weil er gerne Würstchen in Biersoße
aß, mussten wir Kinder das auch
essen – und bis zum letzten Bissen
sitzen bleiben. Einmal wurde ich auf
dem Schulweg von einem Auto an-

gefahren. Als die Polizei mich nach
Hause brachte, hat er mir eine run-
tergehauen, weil ich unachtsam war.
Johannes: Und deine Mutter hat es
geschehen lassen?
Susanne: Meine Mutter war zu dem
Zeitpunkt nicht da. Sie hätte es nicht
geschehen lassen. Bei allem, was ich
ihr vorzuwerfen habe: Ich wusste
immer, dass sie im Zweifelsfall zu
uns Kindern halten würde.
Paulina: Das ist der Unterschied zwi-
schen uns. Meine Mutter hat sich all
die Jahre rausgehalten. Aber komi-
scherweise habe ich ihr das nie übel
genommen.
Madlen: Du hast ihre subtile Ableh-
nung dir gegenüber einfach akzep-
tiert?
Paulina: Ich glaube, es war so: Ich
habe früh verstanden, dass es einen
Grund dafür gibt, dass sie mit die-
sem Mann zusammen ist. Ich wollte,
dass sie glücklich wird.
ZEIT: Sie haben sich für die Partner-
schaft der Mutter verantwortlich ge-
fühlt. Ging das den anderen auch so?
Allissa: Total. Vor allem am Anfang.
Da gab es oft Streit darum, wer wie
viel im Haushalt helfen muss. Und
mein Stiefvater war immer der Mei-

Am Abendbrottisch mit ... Stief kindern


Ich habe erst seit meiner Hochzeit das Gefühl,


einen Nachnamen zu tragen, der mir gehört


Susanne Wagner

Ich habe gelernt, meine Bedürfnisse so zu


formulieren, dass sie auch wahrgenommen werden


Johannes Meyer

ENTDECKEN


Fotos: Madlen Krippendorf für DIE ZEIT

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