Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

nung, ich machte zu wenig. Meine Mut-
ter hat mich dann immer in Schutz ge-
nommen, was nur fair war, weil ich ge-
nauso viel gemacht habe wie meine
Stiefschwester, bloß nicht so sichtbar.
Trotzdem hatte ich immer Angst, dass
meine Mutter wegen mir ihre Beziehung
gefährdet.
Madlen: Aber was soll man machen? Man
will den Stiefvater nicht gegen die Mutter
aufbringen, fühlt sich aber so schlecht be-
handelt, dass man die Sache auch nicht
auf sich beruhen lassen kann.
ZEIT: Um jetzt mal kurz die Perspektive
zu wechseln: Stiefeltern fühlen sich auch
oft schlecht behandelt von den Kindern
ihrer Partner. In The Single Girl’s Guide to
Marrying a Man, His Kids, and His Ex-
Wife schreibt die amerikanische Autorin
Sally Bjornsen, dass man »Hornhaut ums
Herz« braucht, weil die Gemeinheiten, zu
denen Stiefkinder fähig sind, nicht anders
auszuhalten sind.
Paulina: Aber Kinder sind nun mal der
schwächere Part, und ich finde, dass sie
das Recht haben, nicht immer klug
nachzugeben. Hornhaut auf dem Herzen
wächst denen auch.
Johannes: Und instinktiv weiß man doch,
wie weit man gehen kann. Ich war immer
unverschämter gegenüber meinen leibli-
chen Eltern als gegenüber meinem Stief-
vater. Da habe ich die Grenzen nie voll
ausgetestet, weil ich mir nicht ganz sicher
war, ob er mir wirklich so verzeihen kann
wie meine Eltern.
Madlen: Es ist natürlich auch eine Frage
des Tons. Meine Halbschwester hatte so
eine niedliche Art, sich aufzuregen, dass ihr
keiner böse sein konnte. Ich war mehr der
impulsive Typ und deshalb in den Augen
meines Stiefvaters ständig im Unrecht.
Paulina: Weil du impulsiv oder weil du
das Stiefkind warst?
Madlen: Das weiß ich nicht. Meine El-
tern haben immer großen Wert darauf
gelegt, beide Kinder gleich zu behandeln,
finanziell habe ich sogar mehr Zuwen-
dung bekommen, weil ich viel länger
studiert habe. Und trotzdem nagt das
Gefühl an mir, zu kurz gekommen zu
sein, vor allem emotional.
Allissa: Ich kenne das Gefühl: Man
wünscht sich so sehr, die echte, leibliche
Tochter zu sein. Aber das ist man halt
nicht.


ZEIT: Der Familientherapeut Jesper Juul
hat einmal gesagt, in der Patchwork-
Familie sei nur eine Liebesbeziehung ga-
rantiert: die zwischen den Erwachsenen.
Das zu akzeptieren sei die Voraussetzung
für ein gelingendes Familienleben.
Johannes: Aber so was will man als Kind
doch nicht hören! Als ich 14 war, habe
ich noch einen Halbbruder bekommen
und festgestellt, wie geduldig und liebe-
voll mein Stiefvater sein kann. Mit mir
und meiner Schwester hat er immer sehr
schnell die Nerven verloren. Das war
schon hart.
Paulina: Weil jetzt offensichtlich war,
dass er den Kleinen mehr liebt als dich?
Johannes: Ja. Und weil ich mir eingeste-
hen musste, dass ich meine Mutter, meine
Schwester und meinen Halbbruder auch
ein klitzekleines bisschen mehr liebe als
diesen Mann. Heute würde ich sagen:
Das ist völlig in Ordnung so.
Madlen: Das ist vielleicht in Ordnung,
wenn man noch einen leiblichen Vater
hat, zu dem man gehen kann. Ich habe
meinen Vater nach der Trennung meiner
Eltern nur einmal gesehen, da war ich
schon mit dem Studium fertig, und wir
hatten mehr als 20 Jahre keinen Kontakt
gehabt.
Allissa: Ist bei mir genauso. Mein leibli-
cher Vater hat mich einmal besucht, da
war ich acht, und er wollte mit mir Kaffee
trinken, mit einem Grundschulkind! Ich
hatte Angst vor ihm. Mein Stiefvater ist
für mich mein Vater.
ZEIT: Ihre Väter entsprechen dem Kli-
schee vom verantwortungslosen Schei-
dungsvater, das die Jugendämter im Kopf
haben, wenn sie die Kinder nach Schei-
dungen reflexhaft den Müttern zuspre-
chen. Wie war das bei Ihnen, Paulina und
Johannes?
Paulina: Ich hatte immer ein Zimmer bei
meinem Vater und wusste, der ist jeder-
zeit für mich da. Hauptsächlich habe ich
aber bei meiner Mutter gewohnt. Dort
hat der Alltag einfach besser funktioniert.
Johannes: In der Pubertät hätte ich schon
gerne bei meinem Vater gewohnt. Der war
mein großes Vorbild, einer, der alles kann:
Informatikprofessor, belesen, hat zwi-
schendurch mit dem Gedanken gespielt,
Kunst zu studieren. Aber meine Eltern
hatten anders entschieden, im Nachhinein
muss auch ich sagen: völlig zu Recht.

ZEIT: Warum?
Johannes: Weil meine sehr boden-
ständige, feministische Mutter mich
einfach viel besser aufs Leben vorbe-
reitet hat. Ich habe bei ihr sehr früh
gelernt, niemanden auf sein Ge-
schlecht zu reduzieren und Rollen-
bilder zu hinterfragen. In diesem
Geist hat sie mich auch aufgeklärt.
Und ich weiß noch, wie sehr ich mir
in dem Moment gewünscht habe,
mein Vater würde jetzt mit mir spre-
chen. Mit 16 hat er mit mir das Ge-
spräch über die Liebe gesucht: »Weißt
du, Johannes, es gibt nicht die eine
große Liebe, es gibt vielleicht zwei
oder drei ...« Oh Mann, das hilft ei-
nem wirklich nicht weiter.
ZEIT: Aufklärung ist sicher ein heikles
Thema in Patchwork-Familien. Wie
lief es bei den anderen?
Allissa: Meine Mutter und mein Stief-
vater haben mich und meine Stief-
schwester gemeinsam aufgeklärt. Ich
fand, dass die das sehr gut gemacht
haben.
Susanne: Ich stelle mir einen Stiefvater
beim Aufklärungsgespräch schwierig
vor. Aber wenn seine eigene Tochter
dabei ist, geht das wohl.
Paulina: Ich hätte mich nicht gerne
von meinem Stiefvater aufklären las-
sen. Wir hatten ja noch nicht mal eine
alltägliche Nähe. Wenn er zu Hause
war, habe ich immer die Badezim-
mertür abgeschlossen.
Susanne: Wenn es keine Nähe gibt, ist
die Scham und die Unsicherheit mit
der eigenen Körperlichkeit natürlich
noch viel größer.
Johannes: Ist Nacktheit eurer Mei-
nung nach denn ein Gradmesser für
Nähe? Ich frage das, weil ich aus so
einer ostdeutschen FKK-Familie kom-
me und für uns Nacktsein nicht viel
bedeutet. Ich habe erst durch meine
erste Freundin mitbekommen, dass
das nicht normal ist.
Susanne: Ach, gibt es nicht viele Mög-
lichkeiten, Nähe zu definieren? Wenn
ich an meine Kindheit zurückdenke,
fällt mir auf, dass ich sehr schnell gro-
ße Distanz zu den Erwachsenen auf-
gebaut habe, weil die das Elternsein

einfach nicht auf die Reihe bekamen
und wir Kinder uns so oft alleingelas-
sen fühlten. Meine Familie, das waren
für mich immer meine Halb- und
Stiefgeschwister. Da gab es nie eine
Konkurrenz. Wir hatten immer das
Gefühl, wir sitzen in einem Boot und
müssen gemeinsam an Land.
Madlen: Ich bin auch sehr eng mit
meiner Halbschwester. Wir wohnen
sogar zusammen.
Paulina: Für die Beziehungsforschung
sind Halbgeschwister das Bindungs-
glied, das die neue Familie zusam-
menhält. Hat bei uns aber nur so halb
geklappt. Meine Mutter, mein Halb-
bruder und ich, wir waren die totale
Einheit, wir könnten bis heute nackt
voreinander rumlaufen. Aber mein
Stiefvater gehörte für mich nie dazu.
Allissa: Als ich 16 war, hat meine
Mutter noch eine Tochter bekom-
men, da war ich schon sehr verunsi-
chert. So ein Baby bekommt ja rund
um die Uhr volle Aufmerksamkeit.
ZEIT: Stiefkinder lernen früh, sich in
neue Konstellationen einzufügen.
Was können sie sonst noch besser als
andere?
Johannes: Ich habe schon als Kind
gelernt, meine Bedürfnisse so zu for-
mulieren, dass sie auch wahrgenom-
men werden. Das hat mich stark ge-
macht, aber auch ziemlich konfronta-
tiv, was auch ein Problem ist, weil ich
auf der anderen Seite total harmonie-
süchtig bin.
Susanne: Ich würde sagen, dass ich
ziemlich gut darin bin, Konflikte aus-
zutragen, ohne dass es zum Bruch
kommt. Nachdem ich meine Kind-
heit damit verbracht habe, ständig
neue Mitglieder in meine Familie zu
integrieren, ist meine Klaviatur im
Umgang mit anderen Menschen sehr
groß.
Madlen: Ist bei mir genau umgekehrt.
Ich bin sehr schnell enttäuscht von
den Menschen und denke beim
kleinsten Streit: Das war’s.
ZEIT: Viele Studien belegen, dass
Scheidungskinder nicht sehr ausdau-
ernd in Beziehungen sind.
Paulina: Wie denn auch? Wenn man

schon als Kind lernt, dass nichts für
immer ist, wird man fatalistisch.
Allissa: Ich hatte bisher nur einen
Freund, und da dachte ich auch vom
ersten Tag an: Der haut bestimmt
bald wieder ab.
Susanne: Das war bei meinen ersten
beiden Freuden genauso. Ich hatte
einfach nicht das Vertrauen, dass so
was halten kann. Mit meinem dritten
Freund bin ich jetzt seit 32 Jahren
verheiratet. Und was interessant ist:
Alle meine vielen Geschwister führen
sehr lange Ehen.
ZEIT: Aus Protest gegen das Eltern-
haus?
Susanne: Aus Erfahrung, würde ich
sagen. Natürlich kann man sich im-
mer einen Mann vorstellen, der besser
ist. Aber man weiß halt auch: Mit
jedem neuen Mann kommen neue
Probleme. Und wenn man dann zu-
sammen so viele Hochs und Tiefs
durchgestanden hat, gewinnt man ir-
gendwann Vertrauen in das, was im
Elternhaus nie funktioniert hat.
Johannes: Das ist auch mein Plan. Als
ich meine Freundin drei Monate
kannte, sind wir zusammengezogen.
Damals haben alle gesagt, das sei viel
zu früh, das halte nie. Doch ich habe
beschlossen, eine Beziehung zu füh-
ren, wie sie im Bilderbuch steht. Da-
für muss man sich immer wieder be-
wusst entscheiden.

Das Gespräch führten Paulina
Czienskowski und Stefanie Flamm

Ich hatte Angst, dass meine Mutter


meinetwegen ihre Beziehung gefährdet


Allissa Beer

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