Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

E


s herrscht Grüßpflicht hier oben
auf der Terrasse des alten Brü-
ckenwärterhäuschens. Kommt
mir zumindest so vor. Ich grüße
regelmäßig hinab zu den Boo-
ten, die an diesem sonnigen Tag
durch die Nieuwe Heerengracht
in Amsterdam gleiten: lange rot-weiße Touris-
tenboote, Salonboote aus Holz mit Paaren, die
etwas schüchtern vor ihren Champagnerfla-
schen sitzen, das nur halb besetzte »Smoke-
boat«, dem ein süßlicher Geruch nach Mari-
huana folgt, ein Dingi mit drei Männern, die
oberkörperfrei Dosenbier trinken und laut
Techno hören. Sie alle bekommen ihre Begrü-
ßung, mal ein freundliches Kopfnicken, mal
eine gehobene Hand. Ob sie wissen, dass sie
eigentlich den Falschen grüßen? Ich bin schließ-
lich nicht der Brückenwächter, der im Zweifels-
fall die Klappbrücke über den Kanal öffnen
und schließen könnte. Ich übernachte nur in
seinem ehemaligen Häuschen.
Ich habe mittags eingecheckt, mithilfe eines
Codes, der mir vom Sweets Hotel zugesandt
wurde. Wobei es das Sweets Hotel gar nicht gibt.
Eine Web site gibt es. Über die kann man zurzeit
15 frühere Amsterdamer Brückenwächterhäus-
chen buchen, bald sollen es 28 sein.
Mehr als 60 Jahre lang hat in meinem Häus-
chen an der Hortusbrug, der Brücke, die zum
botanischen Garten führt, ein Brückenwächter
gesessen. Das Haus ist weiß und schwebt wie der
Balken eines T über dem Wasser. Es wurde in
den Fünfzigerjahren gebaut, von einem niederlän-
dischen Bauhaus-Architekten, der an schlichte
Linien glaubte und große Fenster.
Nachdem Amsterdam ein zentrales, compu-
tergesteuertes Kontrollsystem für alle Brücken
eingeführt hatte, standen die Brückenhäuser ei-
nige Zeit leer. Bis die Sweets -Hote liers die Stadt
überzeugten, sie ihnen zu verpachten. Solange die
Stadt Brückenwärter brauchte, waren die Häuser
spartanische Angelegenheiten: Es gab oft lediglich
einen kleinen Schreibtisch, eine Toilette, mehr
nicht. Meine Terrasse ist schon Luxus. Die Wär-
ter haben ja in den Häusern nicht gewohnt, nur
gearbeitet. Um sie als Unterkunft nutzen zu
können, haben die Hoteliers sie nun mit einer
minimalistischen Möbelgarnitur versehen. Bei
mir in der Hortusbrug steht ein Designklassiker,
der rot-blaue Stuhl von Gerrit Rietveld, und an-
sonsten nicht viel mehr: ein Doppelbett, eine
kleine Küchenzeile mit Nespressomaschine und
Minikühlschrank; Dusche und Toilette sind in
einem Raum untergebracht, der anderswo gerade
für einen Schrank reichen würde. Dafür habe ich
viel Platz zum Hinausschauen, was ich dann auch
ausgiebigst tue. Und nach dem engagierten Ge-
grüße fühle ich mich fast wie ein Teil der städti-
schen Infrastruktur, mit etwas Verantwortung für
das Wohlergehen der Passanten auf dem Kanal.
Meine Unterkunft liegt mitten im Zentrum.
Andere liegen am Stadtrand, im Grünen zwischen
Bäumen und Feldern. Ein besonders spektakulä-
res Brückenhaus aus dem 17. Jahrhundert steht


Der Ausguck


An den Grachten kann man in ausrangierten Brückenwärterhäuschen übernachten.


Die Stadt kommt einem dabei besonders nah VON JOHANNES BÖHME


ÜBER NACHT IN AMSTERDAM auf einer Mini-Insel in der Amstel, einem der zwei
Flüsse, die durch die Stadt fließen. Einst waren
die Häuser integraler Bestandteil Amsterdams.
Die Brückenwärter sorgten dafür, dass man selbst
mit großen Flussschiffen und Segelschiffen mitten
ins Herz der Stadt fahren konnte: Sie sperrten den
Verkehr, klappten die Brücken hoch und ließen
die Boote hindurch. Oft radelten sie dann noch
zur nächsten Brücke und öffneten auch diese.
Von diesen kurzen Sprints einmal abgesehen,
war es eine gemütliche Existenz: Die Männer und
Frauen, die hier arbeiteten, guckten manchmal
stundenlang einfach auf den Kanal. Angeblich
haben sich viele als Schriftsteller, Maler und Mu-
siker versucht; oder es war andersherum, und der
Job zog besonders viele Halbtagskünstler an.
Während ich den Nachmittag auf der Ter-
rasse vertrödele, schaue ich den Wasserhühnern
zu, die auf dem Kanal epische Kämpfe veran-
stalten, indem sie sich mit den Füßen gegen-
seitig sehr brutal unter Wasser zu drücken ver-
suchen. Und ich bewundere die Schönheit der
Stockrosen, die am Ufer durchs Straßenpflaster
gebrochen sind und jetzt jeden Tag von Hun-
derten Touristen fotografiert werden.
Irgendwann öffnet sich, ganz ohne mein Zu-
tun, die Brücke. Das tonnenschwere Pflaster wird
mit einem surreal leisen Surren in die Luft ge-
hoben. Ein riesiges mit Schutt beladenes Fluss-
schiff schiebt sich den schmalen Kanal hoch.
Links und rechts ist kaum mehr als ein Meter
Platz. Das Boot schwenkt vor dem Brückenhäus-
chen in die Kurve ein, für einige Momente denke
ich, es schrammt ins Ufer. Ein älterer Mann sitzt
am Steuer und hebt lässig einen Finger zum Gruß.
Wer in Hotels am liebsten in der Anonymi-
tät verschwindet, ist in den Wärterhäuschen
falsch. Hier kommt man wie kaum sonst ir-
gendwo in Kontakt mit der Stadt. Die Blicke,
die mir zugeworfen werden, sind freundlich,
neugierig, ab und zu stoppt auch jemand und
fragt, wie es sich hier am Fluss so lebt.
Als ich nachts nach einem Stadtausflug in
mein Zimmer zurückkomme, ziehe ich aber
die Vorhänge zu, auch wenn mancher Nieder-
länder das anders handhaben würde.
Am Morgen, beim Kaffee, schaue ich den
Fahrrädern zu, die in die Stadt ziehen; ein riesiges
Peloton aus Männern in engen Anzügen, Frauen
in Kostümen und Vätern, die drei Kinder gleich-
zeitig in ihrem Lastenfahrrad transportieren.
Dann gehe ich noch einmal aus und verschwinde
gleich nebenan im Grün des botanischen Gartens
(der Eintritt ist für die Gäste des Hortusbrug-
Hauses umsonst). Von der Terrasse meines Häus-
chens konnte ich schon direkt in das subtropische
Gewächshaus auf die Sammlung australischer
Bäume blicken. Im botanischen Garten finde ich
nicht nur ein sehr nettes Frühstückscafé, sondern
auch ein Schmetterlingshaus, in dem mich
orange far be ne Fackelschmetterlinge aus Latein-
amerika umschwirren. Wegen ihrer Farbe werden
sie hierzulande »Fliegende Holländer« genannt.
So schillernd und transparent bekommt
man Amsterdam nirgendwo sonst geboten.

Innen verspielt: Das Amstelschutsluis, außen schlicht: Das Hortusbrug-Häuschen

N


eulich schaute ein Freund von mir,
der ein kleines Hotel besitzt, irritiert
auf den Koffer eines Gastes, aus dem
eine Metallstange ragte. Reist jemand
ab, kommt mein Freund immer zur Rezeption,
um »Auf Wiedersehen« zu sagen. Die Metall-
stange kam ihm seltsam bekannt vor. »Kann es
sein, dass Sie versehentlich den Kosmetikspiegel
aus dem Bad eingepackt haben?«, fragte er die
Frau höflich und bestimmt in jenem »So was
kann ja jedem Mal passieren«-Tonfall, der dem
Gegenüber alle Möglichkeiten der Rehabilitie-
rung offenlässt. »Das hier?«, meinte sie erstaunt
und zeigte auf die Metallstange, die aus ihrem
Koffer schaute wie die Antenne eines entführten
Roboters. »Das ist meiner. Den habe ich immer
dabei.« Dann lächelte sie und verschwand durch
die Tür des Hotels, in dem nun ein Kosmetik-
spiegel fehlte. Abgeschraubt in Zimmer 14.
Kosmetikspiegel, Sofakissen, gerahmte Bilder
und Radiowecker: Jeder Hotelier der Welt kann
haarsträubende Anekdoten davon erzählen, was
schon alles aus seinen Zimmern mitgenommen
wurde. Vasen samt Blumensträußen verschwin-
den, lederne Schreibmappen, Schirme, Kerzen-
leuchter und Kaffeemaschinen inklusive der 20
Espressokapseln. Manche Hotels in Südostasien
können ihre kleinen Buddha-Statuen nicht so
schnell nachordern, wie sie geklaut werden.
Aber kommen wir zur heutigen Frage: Was
eigentlich darf ich überhaupt aus meinem Hotel-
zimmer mitnehmen? Juristisch gesehen ist die
Sache eindeutig: nichts. Überhaupt nichts. Ein
Hotelzimmer wird dem Gast bei Buchung »zum
vertraglich vorausgesetzten Gebrauch« zur Ver-
fügung gestellt. Das heißt, dass man das Hotel-
zimmer bewohnen kann und alle Dinge, die sich


darin befinden, entsprechend benutzen darf.
Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass man
nichts mitnehmen darf. Noch nicht einmal ein
Stück Seife aus dem Bad.
Nun wird kaum ein Hotelier auf der Welt
Ärger machen, wenn der Gast Shampoos oder
Seifen in die Kulturtasche packt. Das Gleiche gilt
für Werbemittel wie Kugelschreiber und Brief-
papier mit Hotellogo. Handtücher sollte man
natürlich keinesfalls mitnehmen; die werden aller-
dings derart oft geklaut, dass ihr Diebstahl in der
Regel bloß seufzend registriert wird. Bei einem
hochwertigen Frottee-Bademantel allerdings hört
für die meisten Hoteliers der Spaß auf. 150 Euro
buchen große Ketten dafür im Nachhinein von
der Kreditkarte des Gastes ab. Klar, auf diese Wei-
se könnten sie sich auch schon den Gegenwert
des verschwundenen Handtuchs zurückholen.
Doch die fraglichen Gäste rufen dann gern mal
bei ihrer Kreditkartenfirma an und sagen: Da liegt
ein Fehler vor, bitte zurückbuchen! Und den
folgenden Streit mögen Hoteliers für zu geringe
Beträge nur selten ausfechten.
Mittlerweile wehren sich Hotels übrigens sub-
til gegen den Diebstahl. Fast überall sind die
Logos von Handtüchern und Bademänteln ver-
schwunden, um sie für Souvenirjäger uninteres-
sant zu machen. Einige Hotels haben Kopfkissen
und Bettdecken mit Sicherheits-Chips versehen,
die an der Rezeption Alarm auslösen. Und man-
che bieten ihren Gästen an, doch bitte schön
gleich möglichst viel mitzunehmen: Bei ihnen
kann man die komplette Zimmereinrichtung
kaufen, bis hin zum Bett. Möglicherweise gleicht
der Gewinn bei solchen Deals ja den Verlust aus,
der sich in den Jahren zuvor durch all die geklau-
ten Handtücher und Bademäntel ergeben hat.

Was darf ich aus dem


Hotelzimmer mitnehmen?


REISEWISSEN

Stefan Nink hat mehr als 30 Reisebücher geschrieben. Hier gibt er in loser
Folge im Wechsel mit Thilo Mischke seine Tipps und Erfahrungen weiter

Sweets Hotel Amsterdam


Beim teuersten der Häuschen, dem Amstelschutsluis mitten in der Amstel,
steht jemand mit einem kleinen Schlauchboot bereit, um beim
Übersetzen auf die kleine Insel zu helfen. Das Haus kostet ab 950 Euro
pro Nacht. Die günstigsten Häuschen gibt es schon ab 120 Euro pro Nacht,
dasjenige an der Hortusbrug kostet mindestens 210 Euro.
sweetshotel.amsterdam Fotos: Julia Sellmann/Lufthansa Magazin; Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT

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