Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

DER POLITISCHE FRAGEBOGEN


»Ich hoffe, ich bin ein


großes Problem«


Was fehlt unserer Gesellschaft? Und wann haben Sie wegen Politik geweint? Ein Porträt in


30 Fragen. Diese Woche: Die Bewerberin für den SPD-Parteivorsitz Klara Geywitz


1 Welches Tier ist das politischste?
Natürlich die Bienen. Sie sind ordentlich
in einem Staat organisiert, helfen sich
gegenseitig und haben an ihrer Spitze
eine Königin. Wenn es die Bienen nicht
mehr gäbe, wäre das für den Rest der
Welt ziemlich furchtbar.


2 Welcher politische Moment
hat Sie geprägt – außer
dem Kniefall von Willy Brandt?
Nine-Eleven. Ich war Mitte zwanzig, mir
war nicht ganz klar, was dieser Ter ror-
anschlag bedeuten würden, aber eins ver-
stand ich sofort: dass er eine Zäsur war.
Von nun an würde alles anders sein.
Wo waren Sie an diesem Tag?
Abends hatten wir eine Stadtverordne-
tenversammlung in Potsdam. Die Jünge-
ren dort standen wegen der Anschläge
unter Schock, die Älteren um mich he-
rum ließ das eher kalt. Da wurde mir
klar, dass ich eine Nähe zu den USA, eine
Solidarität mit den Opfern und deren
Hinterbliebenen verspürte, die bei mei-
ner Generation gewachsen war.


3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
In den Achtzigerjahren sind in kurzer
Zeit eine Reihe von KPdSU-General-
sekretären nach ein an der gestorben. Mein
Vater, der in der SED war, hat dann im-
mer die Trauerparade im DDR-Fernse-
hen geschaut. Da stand eine große Reihe
von Männern in Fellmützen auf der
Kreml-Mauer – und wir tippten, wer
wohl der nächste starke Mann der Sow-
jetunion sein würde. Und wie lange er
durchhält.


4 Wann und warum haben
Sie wegen Politik geweint?
Als junger Mensch habe ich geweint,
wenn ich bei den Jusos eine Wahl verlo-
ren habe. Das kam häufiger vor. Ich habe
dann gelernt, dass eine politische Nieder-
lage keine Ablehnung als Mensch bedeu-
tet – und dann wurde es besser. Zuletzt
geweint habe ich, als Paweł Adamowicz
im Januar an den Folgen einer Mes ser-
atta cke starb. Ich hatte ihn Wochen zu-
vor im Bürgermeisterwahlkampf in Dan-
zig getroffen. Ich mochte ihn nicht nur
sehr als Person, er stand auch für ein ganz
tolles, tolerantes Polen.
Wann darf man in der Politik nicht weinen?
Ich habe erlebt, wie Frauen aus takti-
schen Gründen zu weinen anfingen, weil
das in aller Regel große Hilflosigkeit bei
Männern auslöst. Dauerhaft bewährt
sich das aber nicht. Taktische Weiner
werden über kurz oder lang durchschaut.
Werden Sie weinen, falls Sie nicht SPD-
Vorsitzende werden?
Ich glaube nicht. Meine Juso-Tage liegen
schon ein Weilchen hinter mir.


5 Haben Sie eine Überzeugung, die sich
mit den gesellschaftlichen Konventionen
nicht verträgt?
Ja. Die meisten Menschen fühlen sich
dann sicher, wenn sie viel besitzen. Mich
macht Besitz unfrei. Am freiesten fühle
ich mich, wenn ich wenig besitze.
Was ist das Wertvollste, was Sie besitzen?
Meine Acht-Kilo-Waschmaschine. Besitz
nicht wichtig zu nehmen gibt mir ein gro-
ßes Gefühl innerer Unabhängigkeit.


6 Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
Als junge Abgeordnete habe ich eine klei-
ne Schule in einer sehr dünn besiedelten
Gegend von Brandenburg besucht. Sie
sollte geschlossen werden, weil es zu wenig
Kinder gab. Ich fand diese Schule toll,
unter anderem weil sie behinderte Kinder
ganz selbstverständlich integriert hatte.
Ich konnte dann verhindern, dass diese
Schule geschlossen wurde.


7 Und wann haben Sie sich besonders
ohnmächtig gefühlt?
Als mein Vater ins Koma gefallen war. Er
lag auf der In ten siv st ation. Ich war oft
und lange bei ihm, hoffte, er würde wie-
der aufwachen, und wusste zugleich, dass
es nicht passieren würde.


8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe?
Sie dürfen allerdings keinen Apfelbaum
pflanzen.
Ich würde meine Kinder und meinen
Partner nehmen, mit ihnen in ein kleines
Haus im Wald in der Prignitz fahren –
und in zwei Jahren nachschauen, ob die
Welt tatsächlich untergegangen ist.


9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Dafür.


10 Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Die Überzeugung, dass der Staat immer
effizient organisiert sein muss. So habe ich
das mal im Po li tik wis sen schaft-Stu dium


gelernt und übernommen. Heute sage ich:
Wenn sich etwa die Leute unsicher fühlen,
ist es sinnvoll, mehr Polizisten zu beschäf-
tigen, als laut offizieller Kriminalstatistik
nötig wären. Und: Menschen einen Job zu
geben, die in der freien Wirtschaft über
Jahre keinen finden, ist keine Steuerver-
schwendung, sondern ein Beitrag zum
Zusammenhalt der Gesellschaft.

11 Könnten Sie jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Ja, hab ich schon. Mein Männerge-
schmack richtet sich nicht zwingend nach
dem Parteibuch.

12 Haben Sie mal einen Freund oder eine
Freundin wegen Politik verloren?
Und wenn ja – vermissen Sie ihn oder sie?
Mehrere – und einige davon vermisse ich
auch. Als Generalsekretärin musste ich
Vorschläge für Wahllisten ausarbeiten:
Wer bekommt einen aussichtsreichen
Platz, wer einen weniger aussichtsreichen.
Und da können Sie machen, was Sie wol-
len – die Zahl Ihrer Freunde ist danach
immer geringer.

13 Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
In meiner Jugend waren weite Teile Pots-
dams in einem Zustand, der junge Men-
schen dazu animierte, Häuser zu besetzen,
um sie vor dem Verfall zu retten. Ich fühl-
te mich auch animiert. Parallel dazu habe
ich damals sicherlich das eine oder andere
Bier in einem Lokal ohne Ausschankge-
nehmigung getrunken. Wie genau diese
Tatbestände alle heißen, weiß ich nicht.
Aber erlaubt war das nicht.

14 Waren Sie in Ihrer Schulzeit beliebt
oder unbeliebt, und was
haben Sie daraus politisch gelernt?
Erst war ich unbeliebt, weil ich ein furcht-
barer Streber war. Und dann war ich un-
beliebt, weil ich mit Einsetzen der Puber-

tät plötzlich sehr schräg drauf war. Ich
war in der Hausbesetzer-Szene unter-
wegs und nicht immer in der Schule,
wenn ich in der Schule hätte sein müs-
sen. Ich war aber kein Punk. Gelernt
habe ich daraus: Wenn man Individua-
list ist, gibt’s manchmal Probleme mit
der Gruppenakzeptanz. Aber dann ist
das halt so.

15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich?
Wenn ich früher Westbesuch mit nach
Hause brachte, hat mein Vater immer
erzählt, wie er beim Bau der Berliner
Mauer geholfen hat. Und dann hat er
sich diebisch gefreut, weil der Besuch
nicht wusste, wie er da gucken soll.
Stimmte die Anekdote Ihres Vaters denn?
Als ganz junger Mann war er bei der da-
mals kasernierten Volkspolizei. Die
musste beim Bau der Mauer mit anpa-
cken. Mein Vater lag aber die meiste Zeit
bei Kleinmachnow irgendwo in den Bü-
schen und hat die anderen nicht weiter
gestört. Er hatte keine tragende Rolle.

16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
Ich versuche, politische Gegner nicht zu
beleidigen.
Ein SPD-Parteifreund, der Schatzmeister
Ihres Landesverbands Brandenburg, hat
dem »Spiegel« gesagt, Ihnen fehle die Fähig-
keit zur Nähe. Wörtlich: Sie könnten »von
der zwischenmenschlichen Wärme her auch
eine 10.000er-Geflügelfarm leiten«.
Das ist unverständlich. Ich kenne mehrere
herzensgute Geflügelzüchter.

17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Frau Kramp-Karrenbauer hat es gerade
nicht so einfach. Sehen Sie: Seitdem ich
mit Olaf Scholz durchs Land reise, ver-
gleichen mich unglaublich viele Leute

mit ihm. Das ist mir vorher 43 Jahre lang
nie passiert. Vielleicht möchte Frau
Kramp-Karrenbauer mit ihrer Distanzie-
rung von Angela Merkel ja nur darauf
hinweisen, dass sie Annegret Kramp-Kar-
renbauer ist und nicht Angela Merkel
zwei. Ich kann das sehr gut verstehen.

18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Niemand.

19 Welche Politikerin, welcher Politiker
sollte mehr zu sagen haben?
Cornelia Schulze-Ludwig. Sie ist eine
ganz tolle Bürgermeisterin in einem klei-
nen Ort in Brandenburg. Ich nenne sie
stellvertretend für eine Grundüberzeu-
gung von mir: Die Bürgermeisterinnen
und die Landräte in Deutschland sollten
mehr zu sagen haben, etwa indem sie stär-
ker in den Spitzengremien von Parteien
vertreten sind. Sie sind einfach näher dran
an der Lebenswirklichkeit.

20 Welche politische Phrase
möchten Sie verbieten?
»Diese Frage stellt sich nicht.« In Presse-
sprecher-Seminaren mag man das für eine
kluge Antwort auf eine gestellte Frage
halten. Ich halte das für einen Wider-
spruch auf zwei Beinen.

21 Finden Sie es richtig, politische Entschei-
dungen zu treffen, auch wenn Sie wissen,
dass die Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Ja, natürlich. Politik heißt ja auch, in
schwierigen Situationen Führung zu
übernehmen. Diese Entscheidungen muss
man aber öffentlich gut begründen. Und
genau da sehe ich ein großes Defizit bei
der derzeitigen Kanzlerin.

22 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Hoffnung und Zukunftszuversicht.

23 Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Dass das Leben immer macht, was es will,
selbst wenn man gerade andere Pläne ge-
macht hat. In Brandenburg lautete über
Jahre die Pro gno se: Die jungen Menschen
wandern ab, die Einwohnerzahl sinkt.
Jetzt bleiben die jungen Leute aber, be-
kommen Kinder, viele Polen ziehen nach
Brandenburg, weil das Leben dort billiger
ist als in Stettin, und Großstadt-Bewoh-
ner aus Berlin kommen auch noch zu uns.
Gerade gestaltet man noch das Schrump-
fen – und in der nächsten Sekunde müs-
sen wir neue Kitas bauen.

24 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Ich hoffe, ich bin ein sehr großes Problem
für alle politischen Gegner der SPD.

25 Nennen Sie ein politisches Buch,
das man gelesen haben muss.
Anne Applebaum: Roter Hunger. Das emp-
fehle ich allen, die sich mit der schwierigen
Geschichte zwischen Moskau und der
Ukraine vertraut machen wollen.

26 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Ohne Großbritannien bekommt die Welt
eine Vier, mit Großbritannien eine Fünf.
Und ich persönlich zwischen acht und
neun – aber das geht wieder vorbei.
Schließlich dauert diese SPD-Tour um
den Parteivorsitz ja nicht ewig. Auch
wenn es sich gerade so anfühlt.

27 Der beste politische Witz?
Sagt ein Politiker zu seinem Pressespre-
cher: »Geh mal raus zu dem Journalisten
und frag ihn, ob er in der SPD ist oder
uns nahesteht.« Kommt der Pressespre-
cher zurück und sagt: »Er ist in der SPD,
steht uns aber nicht nahe.«

28 Was sagt Ihnen dieses Bild?
(Siehe das Bild von Christina Kampmann
und Michael Roth.)
Christina und Michael: zwei Mitbewer-
ber, die mit ihrer Fröhlichkeit und ihrer
Dynamik dem Rennen um den SPD-Vor-
sitz guttun.

29 Wovor haben Sie Angst – außer
dem Tod?
Vor der Höhe – vor allem wenn es um
meine Kinder geht. Wenn die auf die
zweite Stufe des Klettergerüsts steigen,
fang ich an zu rufen: »Kommt da runter,
kommt da runter.« Das ist ihnen dann
total peinlich.

30 Was macht Ihnen Hoffnung?
Mein Glaube. Als Christin bin ich davon
überzeugt, dass Niederlagen und Rück-
schläge einen nie davon abhalten sollten,
die Menschen zu lieben.

Die Fragen stellten
Peter Dausend und Anna Mayr

Staatstreu: Die Biene
(siehe Frage 1)

Gut gelaunt: Die Mitbewerber
(siehe Frage 28)

Klara Geywitz, 43, tritt zusammen mit Vizekanzler Olaf Scholz an, um neue Parteivorsitzende der SPD zu
werden. Bis zur Wahl im September 2019 gehörte sie dem Landtag von Brandenburg an

Jede Woche stellen wir Politikern
und Prominenten die stets selben
30 Fragen, um zu erfahren, was sie
als politische Menschen
ausmacht – und wie sie dazu
wurden. Und wo sich neue Fragen
ergeben, haken wir nach.
Die Nachfragen setzen wir kursiv.

Illustration: Alex Solman für DIE ZEIT; kl. Fotos (v. o.): Getty Images; Thomas Imo/Photothek/Getty Images

8 POLITIK 26. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40

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