Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

Harald Martenstein


Über Bücher, die man nicht gelesen haben muss –


und das angeblich langweiligste Buch der Welt


Illustration Martin Fengel
Zu hören unter http://www.zeit.de/audio

Harald Martenstein


ist Redakteur des »Tagesspiegels«


Bald ist wieder Buchmesse. Aus diesem Anlass empfehle ich zwei


Bücher, zuerst Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen
hat von Pierre Bayard. Der Autor, ein Literaturprofessor, vertritt die


Ansicht, dass man über ungelesene Bücher viel unbefangener und
lebendiger reden kann als über gelesene. Der Dichter Paul Valéry


hat sogar seinen schönen Nachruf auf Marcel Proust mit dem Ge­
ständnis gewürzt, dass er nie ein Buch von Proust ganz lesen konnte.


Aber das sei ein fantastischer Schriftsteller. Um dies zu erkennen
und um dessen geniale Methode zu durchschauen, genügten wenige


Seiten. So habe ich es mit Proust ebenfalls gehalten. Und ich könnte
jederzeit ein Essay über Proust schreiben.


Bayard erzählt die Geschichte eines Autors, der sogar keine Zeile
seines eigenen Buches gelesen hat. Das Manuskript wurde vor der


Veröffentlichung so gründlich umgeschrieben, dass ihm die Lektüre
des Endprodukts zuwider war. Es wurde zum Bestseller. In einem


Fernsehinterview machte dieser Autor mit seinen sarkastischen, viel­
deutigen Antworten einen hochinteressanten Eindruck.


Ich war auf einer Schiffsreise und stand an der Reling. Alle Bücher,
die ich dabeihatte, waren leider gelesen. Es gab kein Internet. Es gab


nichts zu tun. Die Kabine war aufgeräumt, das Kind befand sich in
der Betreuung. Ich langweilte mich und stellte mir die Frage, wann


ich mich zuletzt gelangweilt hatte. Das muss in den Siebzigerjahren
gewesen sein, im Zivildienst, während der Pausen. Ich merkte, wie


toll es ist, sich zu langweilen. Die Gedanken schwappten im Rhyth­
mus der Wellen im Kopf hin und her. Langeweile ist wie high sein.


Einige Wochen später kaufte ich Das langweiligste Buch der Welt. Es
wird als Schlafmittel angepriesen. Ich kann schlecht einschlafen und


legte das Buch auf mein Hochbett.


Die Kapitel heißen zum Beispiel »Wissenswertes über Kreis­
verkehre«, »Vergleich der Fortpflanzungsraten von Schadinsekten«,
»Wie Sie eine Wand fliesen« oder »Die Geschichte der litauischen
Monarchie«. Beim ersten Durchblättern, gegen 23 Uhr, blieb ich
bei einem Kapitel hängen, das mich sofort interessierte, es heißt
»Eine detaillierte Textanalyse des ersten Satzes von Don Quijote«.
Auf den ersten drei Seiten kam der Autor allerdings nur bis zum
neunten Wort des großen Miguel de Cervantes, es heißt »ich«. Der
gesamte Satzbeginn lautet »In einem Dorf der Mancha, an dessen
Namen ich«. Sogar das Komma wurde kommentiert, im Stile eines
Bergwanderführers: »Nach dem fünften Wort des Satzes erreichen
wir unser erstes Komma, das es uns in seiner Funktion als Satzzei­
chen erlaubt, einen kurzen Moment innezuhalten und die Informa­
tionen, die wir bislang erhalten haben, nochmals zu durchdenken.«
Das tat ich dann auch.
Anschließend las ich »Wissenswertes über die englische Sprache«
und erfuhr, dass dermatoglyphics, »Fingerabdruckuntersuchun­
gen«, eines der beiden längsten englischen Wörter ist, in denen je­
der Buchstabe nur einmal vorkommt. Sodann vertiefte ich mich in
»Eine Geschichte der Artischocken«. Während der Dreißigerjahre
kontrollierte die Mafia auf brutale Weise den Artischockenmarkt
in New York. Es kam im Gangstermilieu zu den längst vergesse­
nen »Artischockenkriegen«, bis der New Yorker Bürgermeister den
Verkauf, die Auslage und den Besitz von Artischocken mutig unter
Strafe stellte.
Als ich das angeblich langweilige Buch zuklappte, war es zwei Uhr
morgens. Ich mag es, mich zu langweilen. Da bin ich sicher nicht
der Einzige. Aber ich krieg’s, verdammt noch mal, fast nie hin.

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