Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

DER POLITISCHE FRAGEBOGEN


Ulrich Matthes, 60, ist ein vielfach ausgezeichneter Film- und Theaterschauspieler.
Seit diesem Jahr ist er auch Präsident der Deutschen Filmakademie

»Angst ist ein Gefühl,


das ich nicht kenne«


Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen? Welches Problem kann Politik nie lösen?


Ein Porträt in 30 Fragen. Diese Woche: Der Schauspieler Ulrich Matthes


1 Welches Tier ist das politischste?


Hmm, die Ameise? Weil sie – wenn ich
mich an meinen Biologieunterricht kor-
rekt erinnere – ihren Staat relativ demo-
kratisch aufbaut. Oder der Delfin? Weil
er so außerordentlich sozial ist. Oder der
Eichelhäher? Am Ende ist das politischste
Tier aber wohl doch die Bestie Mensch.

2 Welcher politische Moment hat


Sie geprägt – außer dem
Kniefall von Willy Brandt?
Im September 1980 besuchte ich eine
Wahlkampfveranstaltung von Franz Jo-
sef Strauß auf dem Marienplatz in Mün-
chen. Damals durfte ich zum ersten Mal
bei einer Bundestagswahl meine Stim-
men abgeben. Bis heute spüre ich die un-
glaubliche Aufgeladenheit, die von dieser
Veranstaltung ausging, die Aggression so-
wohl des wahlkämpfenden Strauß als
auch die seiner Anhänger. Als ich einmal
nur aufstöhnte, fuhr mich einer von ih-
nen an: »Verpiss dich doch, du langhaa-
riger Idiot!« Da beschloss ich: Ich muss
all das, was mir an Liberalität von mei-
nen Eltern, von der Schule, aus Büchern
vermittelt wurde, gegen diese reaktionäre
Aggressivität verteidigen.

3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?


Da gibt es zwei: zum einen die Gespräche
meiner Eltern am Mittagstisch. Dabei
ging es oft auch um Politik, und weder
mein älterer Bruder noch ich wurden
gemaßregelt, wenn wir, vor allem ich,
ahnungslos dazwischenkrähten. Und zum
anderen war es das Misstrauens votum
gegen Willy Brandt. In meiner Erinne-
rung saßen wir alle vor dem Fernseher,
obwohl ich ja in der Schule war. In dem
Moment, in dem das Ergebnis verkündet
wurde, breitete sich ein großes Ausatmen
in der Familie aus. Ich wusste zwar noch
nicht viel über Politik, aber Willy Brandt
war für mich 13-Jährigen so was wie ’ne
dolle Type.

4 Wann und warum haben Sie


wegen Politik geweint?
Bei der ersten Amtseinführung von Ba-
rack Obama als US-Präsident. Dass nach
Jahrhunderten von furchtbarstem Rassis-
mus die Amerikaner in der Lage waren,
über all die rassistisch schwelenden
Schatten zu springen und einen Schwar-
zen, noch dazu einen so coolen, zu wäh-
len, hat mich tief berührt.

5 Haben Sie eine Überzeugung,


die sich mit den gesellschaftlichen
Konventionen nicht verträgt?
Die Mehrheit der Deutschen ist für die
Aufhebung der Sanktionen gegen Russ-
land. Ich bin vehement dafür, dass sie
bleiben. Natürlich bin ich mir des Blut-
zolls, den die Russen im Kampf gegen
die Nazis geleistet haben, sehr bewusst.
Natürlich braucht es Diplomatie – die
findet ja auch statt. Aber wir reden nicht
über die Russen, wir reden über Putin
und seine Regierung. Putin ist ein hoch-
aggressiver Politiker, der mit der Beset-
zung der Ostukraine wie der Krim einen
ungeheuren Tabubruch begangen hat.

6 Wann hatten Sie zum ersten Mal


das Gefühl, mächtig zu sein?
Die Vokabel »mächtig« und ich – das
geht nicht zusammen. Das liegt auch da-
ran, dass der Beruf des Schauspielers ein
denkbar abhängiger ist. Regisseure, In-
tendanten, Produzenten, Caster besetzen
einen. In der Arbeit selbst ist man dann
auf Augenhöhe. Aber mächtig ist man da
nicht. Privat spürte ich nur als Kind so
etwas wie Macht. Wir spielten oft mit
den Nachbarskindern aus allen sozialen
Schichten in einem riesigen brachliegen-
den Garten hinter unserem Wohnblock.
Da machte ich oft die Ansagen, was wir
denn spielten. Das habe ich, um ehrlich
zu sein, durchaus genossen.
Sie sind Präsident der deutschen Filmaka-
demie. Daraus kann doch Macht erwachsen.
Macht: nein. Verantwortung: ja.

7 Und wann haben Sie sich besonders


ohnmächtig gefühlt?
In bestimmten privaten Momenten. Die
sind zu privat, als dass ich darüber spre-
chen möchte.

8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –


was wäre bis dahin Ihre Aufgabe?
Sie dürfen allerdings keinen Apfelbaum
pflanzen.
Einen Apfelbaum zu pflanzen wäre un-
gefähr das Letzte, was ich machen würde.
Aber im Ernst: Da diese Vorstellung ja in
ihrer furchtbaren Di men sion alle Men-
schen treffen würde, hat sie neben dem
unausdenklich Schrecklichen auch etwas
Tröstliches. Ich würde versuchen, meine
relative Gelassenheit auf andere zu über-
tragen. Durch Zuwendung, durch Hu-
mor. Darin bestünde meine Aufgabe.

9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Dafür! Immer! Meine Mutter hat vor gut
50 Jahren schon immer gesagt: Lob doch!
Wenn deine kleene Freundin Elke neue
Zöppe hat, dann lob sie dafür. Meine
Mutter berlinert übrigens nicht, ich berli-
nere aber gerne. Meckern kann man im-
mer – ich schwärme, lobe, preise, jauchze
bei jeder Gelegenheit.

10 Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Nach der Wende war meine Abneigung
gegen die PDS so groß, dass ich sie auf
keinen Fall in einer Regierung sehen woll-
te, auch kommunal nicht. Das sehe ich
nun anders – auch deshalb, weil ich einige
PolitikerInnen der Linken wie etwa Petra
Pau schätzen gelernt habe. Ich kann die
Linke zwar nach wie vor nicht wählen,
aber gegen eine Regierungsbeteiligung
selbst im Bund habe ich heute nichts
mehr.

11 Könnten Sie jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Da muss ich nachfragen: Soll küssen hier
küssen heißen, oder ist es der ZEIT-haft
verschämte Ausdruck für Sex? Oder mei-
nen Sie gar Liebe?
Nehmen wir den Sex.
Okay, dann lautet die Antwort: Nazis
würde ich ausschließen.

12 Haben Sie mal einen Freund oder eine
Freundin wegen Politik verloren?
Und wenn ja – vermissen Sie ihn oder sie?
Freunde nein, Bekannte ja – und ich ver-
misse sie nicht.

13 Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
Das Beleidige-andere-Verkehrsteilnehmer-
nicht-Gesetz.
Und wie genau?
Ich greife beim Autofahren spontan und
sehr oft zu den immer gleichen Kraftaus-

drücken, egal ob für Auto-, Rad- oder
E-Roller-Fahrer. Gibt es eigentlich für
»Arschloch« Punkte in Flensburg?

14 Waren Sie in Ihrer Schulzeit beliebt
oder unbeliebt, und was
haben Sie daraus politisch gelernt?
Beliebt, aber nicht bei allen. Und das,
obwohl ich immer offen meine Mei-
nung gesagt habe. Gelernt habe ich da-
raus, dass es sich nicht lohnt, den Leuten
nach dem Mund zu reden.

15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich?
Mir war als Jugendlichem peinlich,
wenn mein Vater zu singen anfing, wenn
er mich und meine Kumpels zum Tisch-
tennis gefahren hat. Aber politisch? Ich
fand die politische Haltung meiner El-
tern völlig okay. Sie waren liberal, was
sich auch positiv auf meine Erziehung
ausgewirkt hat. Ich bin zwar bis heute
nicht im Traum auf die Idee gekommen,
FDP zu wählen, aber meine Eltern ha-
ben das öfter getan – peinlich war mir
das nicht.

16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
Damit kann ich nichts anfangen. Wenn
Herbert Wehners Zwischenruf an Jür-
gen Wohlrabe »Sie Übelkrähe« heute
immer noch gefeiert wird, dann kommt
mir das so vor, als würde man sich in
einer Mischung aus Gelangweilt- und
Gerührtsein noch einmal Der große Preis
mit Wim Thoelke angucken. Das politi-
sche Klima ist heute eh so aufgeladen,
dass politische Beleidigungen, selbst
wenn sie originell sein sollten, geradezu
falsch sind.

17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Obwohl es schon ein bisschen her ist:

Angela Merkel. Wegen des öffentlichen
Umgangs mit ihrem Zittern. Diese ge-
ballte Ladung an verlogener Sorge und
diese Angriffe, sie möge sich endlich er-
klären, wo sie sich längst erklärt hatte.
Nach all den langen Jahren im Amt zit-
tert die Kanzlerin mal – und da müsste
doch die erste Reaktion ausschließlich
Empathie sein. Und nicht: Knarre an die
Brust – und nun leg aber mal dein Bulle-
tin vor!

18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Ich halte mich nicht für so bedeutend,
dass Politiker mich um Verzeihung bitten
müssten. Aber es wäre sicher keine
schlechte Idee, wenn Alexander Gauland
bei den Millionen Opfern des National-
sozialismus und deren Angehörigen um
Verzeihung bitten würde für seinen
Vogel schiss-Satz.

19 Welche Politikerin, welcher Politiker
sollte mehr zu sagen haben?
Ich bedauere es außerordentlich, dass
Franziska Giffey nicht für den SPD-Vor-
sitz kandidiert. Sie ist kompetent, tough,
sympathisch. Sie hätte mit diesem ver-
dammten Doktortitel in die Offensive
gehen sollen, um Verzeihung bitten und
antreten.

20 Welche politische Phrase
möchten Sie verbieten?
Stellvertretend für die unzähligen an-
deren Wichtigtuerphrasen: das harmlose
Wörtchen »zeitnah«. Da möchte ich mit
Goethe allen Politikerinnen und Politi-
kern zurufen: Warte nur, zeitnah ruhest
du auch!

21 Finden Sie es richtig, politische Entschei-
dungen zu treffen, auch wenn Sie wissen,
dass die Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Unbedingt.

22 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Gegenseitige Rücksichtnahme.

23 Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Die Dämlichkeit eines nicht unbeträcht-
lichen Teils der Menschheit.

24 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Nee. Wobei: mein ökologischer Fuß-
abdruck! Ich esse zwar weniger Fleisch
und fliege auch weniger als früher. Ich
carshame mich aber, es zuzugeben: Ich
fahre sehr gern Auto.

25 Nennen Sie ein politisches Buch,
das man gelesen haben muss.
Das Tagebuch der Anne Frank.

26 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Von einem Schauspieler erwartet man
auf der Verrücktheitsskala mindestens
die Sieben. Aus Protest gegen dieses Kli-
schee sage ich: eins. Und die Welt? Die
Welt könnte noch viel verrückter sein,
wenn sie denn vernünftiger wäre.
Wie meinen Sie das?
Na ja, die Welt ist wahnsinnig unver-
nünftig – ich muss die Herren ja nicht im
Einzelnen alle aufzählen! Wäre die Welt
deutlich vernünftiger, könnte sie es sich
leisten, auch deutlich verrückter zu sein.

27 Der beste politische Witz?
Ich kann mir keine Witze merken. Nur
einen, den ich vor ein paar Wochen ge-
hört habe – und der ist eher unpolitisch:
Kommt ein Mann zum Fleischer und
sagt: »Ich hätte gern was von der fetten
Groben.« Sagt der Fleischer: »Die ist
heute bei der Fortbildung.«

28 Was sagt Ihnen dieses Bild (siehe links
das Foto von Gerhard Schröder,
Joschka Fischer und Oskar Lafontaine)?
So kann man sich irren.

29 Wovor haben Sie Angst – außer
dem Tod?
Angst ist ein Gefühl, das ich nicht so
kenne. Eher Sorge. Sorge bereitet mir,
dass zu viele Menschen – auch ich – zu
bequem, zu faul, zu gelassen sein könn-
ten, um die Errungenschaften, die andere
für uns erkämpft haben, zu verteidigen.

30 Was macht Ihnen Hoffnung?
Die Tatsache, dass so viele Dinge, die
man für unverrückbar gehalten hat, doch
verrückbar sind.
Als da wären?
Mir fällt natürlich als Erstes der Fall der
Mauer ein, aber der fällt ja allen ein. Aber
ich bin nun mal Berliner. Und da kann
ich nicht anders.

Die Fragen stellte Peter Dausend


»So kann man sich irren«: Start von
Rot-Grün 1998 (siehe Frage 28)

Der Delfin, ein soziales
Tier (siehe Frage 1)

Illustration: Alex Solman für DIE ZEIT; kl. Fotos (v. o.): Roberto Pfeil/AP/dpa; Frits Meyst/MeystPhoto.com/VISUM

Jede Woche stellen wir Politikern


und Prominenten die stets selben


30 Fragen, um zu erfahren, was sie


als politische Menschen


ausmacht – und wie sie dazu


wurden. Und wo sich neue Fragen


ergeben, haken wir nach.


Die Nachfragen setzen wir kursiv.



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
    o
    10 POLITIK 41

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