Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

STREIT


»Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.« HELMUT SCHMIDT


JA. Wenn Laien als Lehrer arbeiten,


geht das zulasten der schwächsten Schüler


NEIN. Sie sind keine Lehrer


zweiter Klasse – sondern eine Chance


Haben Sie schon einmal allein vor 30 Kindern


gestanden? Noch mehr: Haben Sie schon einmal


vor 30 Kindern gestanden, die sich noch nicht an


Regeln halten können oder die noch nicht wis-


sen, wie man Konflikte ohne Gewalt löst? Nein?


Ich schon. Und glauben Sie mir: Es ist gut, da-


rauf gründlich vorbereitet zu sein.


Ich bin ausgebildete Grundschullehrerin, meine


Fächer sind Mathematik, Deutsch, Musik. Manch-


mal frage ich mich, was Menschen wohl glauben,


was ich mit den Kindern den ganzen Vormittag lang


anstelle: im Kreis sitzen und gemeinsam singen? Bis


zehn zählen, das Alphabet aufsagen? Mit anderen


Worten: Dinge, die im Grunde jeder könnte?


Manche Eltern treten mir gegenüber jedenfalls


dementsprechend auf. Nichts gegen aktive Eltern!


Aber ich stelle fest, dass Mütter und Väter zuneh-


mend mit mir sprechen, als verstünden sie von


meinem Job mehr als ich. Ich habe im Jahr 2000 an


einer Grundschule in Oberhausen angefangen,


seitdem ist der Rechtfertigungsdruck enorm ge-


stiegen – und, parallel dazu, der Respekt gesunken.


Das gilt für Eltern, das gilt mindestens so sehr für


die Schülerschaft. Ich weiß gar nicht, wie oft ich


schon dafür kämpfen musste, dass Kinder einfachs-


ten Bitten Folge leisten. Darunter leiden letztlich


alle an der Schule. Man merkt schon, dass öffentlich


nicht immer wertschätzend über Lehrkräfte ge-


sprochen wird.


Das Ansehen speziell von Grundschullehrkräften


mag schon länger nicht besonders hoch gewesen


sein. Aktuell kommt erschwerend hinzu: Aufgrund


des Lehrkräftemangels üben inzwischen so viele


nicht ausreichend qualifizierte Seiteneinsteigende


den Beruf aus, dass der Eindruck entsteht, man


könne ihn auch ohne besondere Vorkenntnisse aus-


üben. An Berlins Grundschulen, um mal die Di-


mension klarzumachen, hatten im laufenden Schul-


jahr von zehn neu eingestellten Lehrerinnen und


Lehrern sieben keine reguläre Ausbildung. Oft höre


ich in diesem Zusammenhang von einem »frischen


Wind« für die Schulen. Dahinter würde ich ein


großes Fragezeichen setzen.


Ich habe Respekt vor jedem, der sich diesen


Beruf zutraut. Aber die Botschaft finde ich fahr-


lässig: Für das, was ein Lehrer in zehn Semestern
Studium und bis zu zwei Jahren Referendariat lernt,
reiche im Grunde auch ein Crashkurs – in besonders
krassen Fällen nur eine einzige Woche. Was sagt das
über den Wert meiner Ausbildung? In anderen
Berufen wäre das undenkbar. Der Bahn fehlen Lok-
führer, aber keiner käme auf die Idee, Laien ab dem
ersten Tag alleine einen Zug steuern zu lassen.
Ich hatte selbst schon Seiteneinsteigende im
Kollegium, ich habe immer gern geholfen. Aber da
kamen nebenher plötzlich enorm viele Fragen auf
mich zu: Wie kann ich Lerngruppen motivieren?
Wann greife ich bei Konflikten ein? Wie schaffe ich
es, Unterricht zu planen und zu organisieren? So
etwas lässt sich nicht mal eben in einer großen Pause
erklären, es verlangt dem Kollegium viel ab.
Problematisch ist auch, dass Seiteneinsteigende
vor allem an Schulen arbeiten, an welche diejenigen,
die es sich aussuchen können, freiwillig oft nicht
wollen: solche in sozial schwierigen Vierteln. So
werden ausgerechnet jene Schülerinnen und Schü-
ler, die am meisten pädagogische Hilfe bräuchten,
von den pädagogisch und didaktisch am schlech-
testen ausgebildeten Kollegen unterrichtet. Das ist
kein frischer Wind, sondern unfair.
Ich will nicht bestreiten, dass Unterricht ober-
flächlich funktionieren kann mit Seiteneinsteigen-
den vor der Klasse. Wer gut erklären kann und einen
intuitiven Draht zu Kindern hat, wird von Tag zu
Tag durchkommen. Es ist ja an sich nicht so schwer
zu erklären, was zum Beispiel ein Adjektiv ist. Es ist
aber schwer, die Vermittlung solchen Wissens lang-
fristig zu planen und didaktisch in Unterrichtsein-
heiten und Zusammenhänge einzubetten. Und es
ist schwer, fachwissenschaftliche Inhalte auf das
Level eines Kindes zu reduzieren.
Wenn wir also schon Seiteneinstiege ermögli-
chen, dann bitte nicht so wie jetzt. Es bedürfte
grundsätzlich einer mehrmonatigen Vorqualifizie-
rung, in der pädagogische und didaktische Grund-
kenntnisse vermittelt werden. Und: Fachfremde
sollten in dieser Zeit an der Seite eines erfahrenen
Kollegen hospitieren – anstatt wie heute vom ersten
Tag ihres Vertrags an alleine vor eine Klasse gestellt
zu werden.

Es ist ein Desaster: Ausgerechnet in einem Land,
das sich regelmäßig vornimmt, »Bildungsrepu-
blik«, »Bildungsnation« oder »Chancenland« zu
werden, fehlen die wichtigsten Persönlichkeiten
dafür – Lehrer.
Diesen Umstand, eine grobe Fehlplanung der
Kultusminister, kann man nicht einfach wegzau-
bern; bis genügend neue Lehrer ausgebildet sind,
dauert es Jahre. Also behilft man sich nun mit
Seiteneinsteigern; Tausende sind es deutschland-
weit, sie gelten als Notlösung. Sie haben zum Bei-
spiel Germanistik, Physik oder Politologie studiert,
werden oft vom ersten Tag an allein vor eine Klasse
gestellt – und müssen sich nebenbei aneignen, wie
man eine Stunde spannend gestaltet, Hausaufga-
ben konzipiert oder mit frühpubertierenden Kin-
dern klarkommt.
Das ist fordernd, für einige überfordernd.
Vor allem aber ist es mutig.
Doch anstatt die Seiteneinsteiger für ihren Einsatz
zu loben, werden sie beschimpft. Lehrer jammern,
Eltern meckern, Journalisten spotten. Man würde ja
auch keinen Klempner Zähne ziehen oder keinen
Metzger anderer Menschen Bein amputieren lassen,
heißt es dann. Solche Polemik ärgert mich.
Ich bewundere Lehrer, und das seit vielen Jahren.
Ich sehe, wie fordernd dieser Beruf ist, aber auch wie
sinnstiftend. Wie Lehrer es schaffen, ihre Schüler über
sich hinauswachsen zu lassen. Wie viel mehr sie tun,
als Wissen zu vermitteln – erziehen und begleiten,
Inklusion stemmen und Integration. Es ist kein Pa-
thos, sondern eine nüchterne Analyse: Der Lehrer-
beruf zählt zu den wichtigsten unserer Gesellschaft.
Wer jedoch Seiteneinsteiger nur als Notlösung
sieht, wird sie immer als Lehrer zweiter Klasse be-
trachten. Ich finde, wir sollten Seiteneinsteiger als
Chance sehen für die Schulen. Kann eine Lebens-
mittelchemikerin mit ihrer Sachkunde nicht be-
sonders anschaulichen Sachunterricht geben? Ge-
staltet eine gelernte Journalistin nicht einen Pro-
jekttag zum Thema Fake-News so erfahren, dass
Schüler sich noch Jahre später an ihn erinnern? Ist
der frühere Fußballtrainer nicht vielleicht derjeni-
ge, dem Schüler sich als Erstes anvertrauten, wenn
sie gemobbt würden?

Es ist doch paradox: Alle sind für Diversität im
Klassenzimmer – doch im Lehrerzimmer wollen
sie sie verhindern. Alle wissen, dass Lehrer so viel
mehr sein müssen als Pädagogen – doch jetzt ver-
engen sie das Lehrerbild auf das Didaktische, an-
statt auf das zu schauen, was die Neuen darüber
hinaus mitbringen. Alle wollen, dass sich Schulen
öffnen – doch wenn Persönlichkeiten von außen
kommen, ist es nicht mehr recht. Und: Alle sagen,
wir müssten chancenorientiert denken – doch
wenn es darauf ankommt, starren wir doch nur
auf die Risiken.
Natürlich, man muss noch einiges tun, um die
Chancen, die Seiteneinsteiger mitbringen, wirk-
lich zu nutzen: Die Neuen müssen sich andau-
ernd fortbilden; sie müssen methodisch und di-
daktisch mit den regulären Pädagogen mithalten
können, das kann Jahre dauern. Die Seitenein-
steiger müssen gleichmäßig auf die Schulen ver-
teilt werden, anstatt geballt an Brennpunkten zu
unterrichten. Bei der Auswahl der Seiteneinstei-
ger müsste die Leidenschaft fürs Lehrersein eine
wichtige Rolle spielen, und es müsste als Voraus-
setzung reichen, wenn die Bewerber nur ein
Schulfach studiert haben, nicht, wie derzeit oft,
zwei. Die Kollegien müssen die Neuen stützen
und begleiten. Und wenn es ein Seiteneinsteiger
nach einiger Zeit nicht packt, muss er schnell
zum Seitenaussteiger werden.
Ich bin überzeugt: Durch die Seiteneinsteiger
wird der Lehrerberuf attraktiver. Plötzlich reden
auf Partys Leute darüber, dass sie mit dem Gedan-
ken spielen, Lehrer zu werden. Plötzlich interessie-
ren sich Leute für den Beruf, die vorher nicht im
Traum daran gedacht haben, an eine Schule zu
gehen. Plötzlich sind Leute bereit, aus ihren Beru-
fen auszusteigen, weil sie sich nach Sinn sehnen
und nach Orientierung. Sie denken dann nicht
mehr nur daran, wie anstrengend es ist, mit Schü-
lern zu arbeiten, sondern wie erfüllend. Wirken
solche Gespräche nicht stärker als jede Werbe-
kampagne eines Kultusministeriums?
Je besser die Seiteneinsteiger sind, desto besser
für alle Kinder – und das »Chancenland«, das so
viele Lehrer ganz dringend braucht.

Schaden Seiteneinsteiger den Schulen?


Wibke Poth,
46, ist ausgebildete Grundschullehrerin und stellvertretende
Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Nordrhein-
Westfalen. Seit zwei Jahren ist sie für Personalratsarbeiten freigestellt

Manuel J. Hartung,
38, leitet das Ressort WISSEN der ZEIT. In seiner Familie
gibt es vier Lehrer: an einer Grundschule, einer Realschule,
einem Gymnasium und einer Gesamtschule

Unbestritten


2-mal


so viele Quereinsteiger arbeiten
in Berlin an Brennpunkt-
Grundschulen wie an besser-
gestellten Schulen, ergab eine
Studie der Bertelsmann-Stiftung

45 %


der deutschen Schulen
beschäftigen laut einer Forsa-
Umfrage Seiteneinsteiger

65 %


der Seiteneinsteiger haben keine
systematische pädagogische
Vorbereitung, so Schulleitungen
in der Forsa-Befragung





Lehrer fehlen bis zum Jahr
2025 bundesweit allein
an Grundschulen, schätzt
die Bertelsmann-Stiftung

12 2. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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Das geht an die Substanz: In Deutschland fehlen Tausende Lehrer – Folge einer groben Fehlplanung der Kultusminister


Foto: Daniel Stier für DIE ZEIT
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