Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

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ZEILEN


...


VERTWITTERT


Das ging aber daneben!


Unsere Kolumnistin Anja


Reschke über den Twitter-


Tiefpunkt der Woche


Anja Reschke
moderiert die
ARD-Sendung
»Panorama«. An
dieser Stelle
schreibt sie im
Wechsel mit Ulf
Poschardt, dem
Chefredakteur
der Welt-Gruppe

In dem wunderbaren Film Butch Cassidy and
the Sundance Kid (Zwei Banditen) gibt es eine
Szene, die den Betrachter rätseln lässt. Butch
(Paul Newman) setzt sich zuerst einen Hut
auf, dann die Freundin seines Kumpels Sun-
dance (Robert Redford) auf den Fahrrad-
lenker, radelt bei strahlendem Sonnenschein
mit ihr los – und plötzlich ertönt Raindrops
Keep Fallin’ on My Head von B. J. Thomas.
Doch es regnet gar nicht, keinen Tropfen.
Darf man Regen nur dann schön finden, wenn

man mit Robert Redfords Freundin im Heu
landet? Oder wenn der goldene Lorenz da
oben so gnadenlos vom Himmel brezelt, dass
man nach Wasser in jeder Form jauchzt, sei es
im deutschen Sommer, in der namibischen
Dürre oder am Boden des Anairin-Kraters auf
dem Planeten Merkur?
Es gibt genügend Gründe, den Regen auch
dann toll zu finden, wenn er fällt. Zum einen,
weil dann der größere Teil der deutschen
Menschheit sich umgehend in die ebenso heiß-

geliebte wie potthässliche Funktionskleidung,
den SUV des kleinen Mannes, zwängt. Und
man selbst nicht viel mehr braucht als einen
Trenchcoat, um bestens gekleidet zu sein.
Natürlich freuen wir uns auch über den
Regen wegen all des Grünen-Zeugs: den deut-
schen Wald retten, weltweit die Regenwürmer
beglücken, den SUV, die Funktionskleidung
des selbstherrlichen Mannes, von den Mücken
säubern. Und außerdem erleichtert der Regen
das eigene Gewissen. Im Sommer, als es so

heiß war, mussten wir das Wetter ja noch als
Vorzeichen der Klima-Apokalypse begreifen
und ganz ganz ungesund gebräunt wie drei
Tage Sonnenschein aus der Badewäsche schau-
en. Jetzt, da es regnet, können wir ganz unge-
niert sagen: War doch ein geiler Sommer!
Der Hauptgrund, den Regen zu lieben, ist
aber ein musikalischer: Was ist schon Here Comes
the Sun von den Beatles gegen Here Comes the
Rain Again von Eurythmics? Was würden Men-
schen mit Sinn für schwarzen Humor auf ihrer

eigenen Hochzeit lieber hören: Midnight Sun von
The Sounds oder November Rain von Guns n’
Roses (in dem Video dazu kommt die Braut ums
Leben)? Und wie bewältigt man am ehesten die
Widrigkeiten des Lebens: Walking on Sunshine
wie Katrina and the Waves oder Singin’ in the
Rain wie Gene Kelly? Außerdem: Hat schon mal
jemand gehört, wie Sonnenstrahlen aufs Dach
tröpfeln? Eben.
Also: Raus in den Regen – und den Schirm
geschlossen lassen!

LIEBE

Eben noch heiß ersehnt, nun bejammert: Ja, es regnet!


Wie kann man das nicht wunderbar finden? VON PETER DAUSEND


Peter Dausend
ist politischer
Korrespondent
im Hauptstadt-
büro der ZEIT

Wenn die FDP so deutlich herausstellen muss,
dass Wolfgang Kubicki KEIN Faschist ist, dann
lässt das nichts Gutes ahnen. Man würde ja
hoffen, dass das selbstverständlich wäre.
Am vergangenen Donnerstag hatte die AfD
einen Antrag eingebracht, dass sich das Parla-
ment zu einem anti-extremistischen Grund-
konsens bekennen solle. Was gerade aus der
Feder der Partei, die arge Schwierigkeiten hat,
sich von Rechtsextremen in ihren Reihen zu
distanzieren, verdächtig klingt.
In der Tat zielte der Antrag der AfD auch
weniger auf Rechtsextremismus ab, sondern auf
Linksextremismus. Ein beliebtes Spiel dieser
Partei, um vom eigenen Problem abzulenken.
Insbesondere sollten sich demnach Abgeordnete
von der Antifa und deren Symbolen distanzieren.
Bislang war mir nicht aufgefallen, dass Bundes-
tagsabgeordnete ständig mit Antifa-Emblem im
Parlament erschienen. Was also sollte dieser An-
trag? Nun, provozieren!
Das sollte auch Kubicki in seiner Rolle als
Bundestagsvizepräsident durchschauen. Aber er
konzentrierte sich auf den Auftritt der Links-
partei-Abgeordneten Martina Renner, die eine
flammende Rede für den Antifaschismus hielt –
und zwar mit einem Antifa-Anstecker am Re-
vers. Auch das, ganz klar, eine Provokation. Jetzt
liegt es im Ermessen des Sitzungsleiters, wie
souverän man mit Provokationen umgeht. Ku-
bicki hat entschieden, dass der Anstecker Ord-
nung und Würde des Bundestages verletzt.
Wie ein Schulmädchen zitierte er also Frau
Renner zu sich und maßregelte sie vor der gan-
zen Klasse. Aber auch das reichte noch nicht. Er
drohte auch gleich noch ein Ordnungsgeld an.
Das wird laut Geschäftsordnung festgesetzt,
wenn die Verletzung »nicht nur geringfügig«
war. Ein klares Statement also von Kubicki. Und
jetzt versteht man, warum die FDP so dermaßen
in Verteidigungsposition gegangen ist. Und
fragt besorgt: Wer ruft eigentlich Wolfgang Ku-
bicki zur Ordnung?

Auf den Straßen von Helgoland liegen seit April
2010 fünf Stolpersteine, die an eine Gruppe Wider-
standskämpfer erinnern. Die Niederlage Nazi-
Deutschlands vor Augen, wollten diese Männer im
Frühjahr 1945 ein Bombardement der Insel und
damit sinnlose Tote verhindern. Sie planten, über
Helgoland die weiße Flagge zu hissen und die Nord-
seeinsel friedlich an die Engländer zu übergeben.
Auch die Marineschule Mürwik bei Flensburg
bewahrt einigen Männern ein ehrendes Geden-
ken. Dazu gehört Admiral Rolf Johannesson, der
die fünf Widerstandskämpfer von Helgoland am


  1. April 1945 erschießen ließ.
    Eine Büste Johannessons schmückt seit Januar
    2017 die Aula der Marineschule. Sie steht neben
    der von Marineoffizier Alfred Kranzfelder, der
    wegen seiner Mitgliedschaft im Widerstand gegen
    Hitler hingerichtet wurde, und neben der von Ad-
    miral Dieter Wellershoff, dem Generalinspekteur
    der Wiedervereinigung. Die Bundesmarine ehrt
    den 1989 verstorbenen Rolf Johannesson als einen
    ihrer »Gründungsväter«; in Mürwik wird der oder
    die jeweilige Jahrgangsbeste der Offizierslehrgänge
    zudem mit dem Johannesson-Preis ausgezeichnet.
    Darf dieser Mann der Bundeswehr als Vorbild
    dienen? Darf er gar demonstrativ in einer Reihe
    stehen mit einem Widerstandskämpfer, der sein
    Leben ließ, während Johannesson es anderen Wider-
    standskämpfern nehmen ließ? In der Bundesmarine
    gibt es darüber einen lauter werdenden Streit.
    Die Helgoland-Gruppe war am 19. April 1945
    aufgeflogen. Ein Schnellgericht sprach Todesurteile,
    die Johannesson innerhalb weniger Stunden be-
    stätigte. Hätte er die Vollstreckung nicht mindes-
    tens aufschieben müssen? Johannesson rechnete
    immerhin selbst damit, dass der Krieg jeden Tag
    vorbei sein müsse. Oder hatte er – von Marinechef
    Karl Dönitz als »politisch verdächtig« bezeichnet –
    Angst, selbst vorm Erschießungskommando zu
    landen, sollte er nicht den verlangten kurzen Pro-
    zess machen?
    Ob er sich in einer Zwangslage befand oder
    nicht – nach dem Krieg beschrieb sich Johannes-
    son als untadeliger, als er war. Als »Offizier in kri-
    tischer Zeit« (so der Titel seiner Erinnerungen)
    seien ihm die »völlig objektive Darstellung kriegs-
    geschichtlicher Ereignisse, die ganze Wahrheit und
    die Erziehung zur Zivilcourage« besonders wichtig.
    Allerdings finden in den Erinnerungen dieses kri-
    tischen Offiziers, der die Zivilcourage hochhielt,
    die Todesurteile keinerlei Erwähnung.
    Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags
    hält es mit dem Traditionserlass der Bundeswehr
    trotzdem für vereinbar, dass die Büste Johannes-
    sons in der Mürwiker Aula steht. Die Marine-
    schule trage dadurch der »vielfach gebrochenen
    deutschen Geschichte Rechnung«, heißt es in
    einem Gutachten: Eine Büste stehe für einen
    Marine offizier im Widerstand gegen Hitler, eine
    andere »für die eben auch kontaminierte Gründer-
    und Aufbaugeneration«.
    Das ist eine ziemlich leichtfertig behauptete
    Kategorienverwandschaft. Angebracht wäre eine
    klare Unterscheidung: Der Widerstandskämpfer
    brach Gesetze, um recht zu tun, Admiral Johan-
    nesson hingegen tat Unrecht, um dem Gesetz Ge-
    nüge zu leisten. Ob man ihn verurteilen sollte, ist
    die eine Frage. Aber wie kann ein Mann, der, statt
    sich mit dieser Bürde auseinanderzusetzen, Coura-
    ge und Ehrlichkeit bloß predigte, der also vor sei-
    nen selbst formulierten Ansprüchen scheiterte, als
    Vorbild taugen?
    Die Büste Johannessons steht nicht nur in der
    Aula der Marineschule falsch. Sie stünde auch
    überall falsch, wo nicht an die Namen der Helgo-
    länder Widerständler neben ihr erinnert würde:
    Georg Eduard Braun
    Martin Otto Wachtel
    Erich Paul Jansen Friedrichs
    Kurt Arthur Pester
    Karl Fnouka


Jochen Bittner ist Co-Leiter des Ressorts Streit


Falsche Idole


bei der Truppe?


Die Bundeswehr ehrt einen Admiral,


der Widerständler gegen die Nazis


erschießen ließ VON JOCHEN BITTNER


@fdpbt


Antifaschist ist auch Wolfgang #Kubicki. Aber die
#Antifa ist eine gewaltbereite Organisation. Symbole
und Abzeichen derartiger Organisationen, gleich
welcher Coleur, haben im #Bundestag nichts verlo-
ren. Insofern war Ordnungsruf für MdB #Renner
völlig richtig! #Geschäftsordnung

getwittert am 27. Sept. 2019 um 11:21 Uhr


Wahre Größe


So viele Menschen leben im Osten



  • und so viele ganz tief im Westen


Einwohner hat Ostdeutschland



  • inklusive Berlin


Einwohner hat das Bundesland


Nordrhein-Westfalen


16,2 Mio. 17,9 M i o.


IRGENDWANN IST AUCH MAL GUT!


STREITFRAGE NACKTE ZAHLEN


Zu einem Streit gehören immer zwei


(Folge 5) Mutter und Sohn in den Straßen der chinesischen Metropole Chengdu
in der Südwestprovinz Sichuan. Fotografiert von Feng Li

Online mitdiskutieren: Mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit


Kl. Fotos: Urban Zintel für DIE ZEIT (u.); Norman Hoppenheit für DIE ZEIT (r.)


Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand: 31. 12. 2018

14 STREIT 2. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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