Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1
war. Und meine Deutschlehrerin sagte: »Das Objekt ist
im Westen.« Das hat mich sehr beeindruckt, das habe ich

nicht verstanden.
Sie haben sehr früh Ihren Geschäftssinn entdeckt. Geld zu

machen war in der DDR eher negativ besetzt. Wie war das
für Sie?

Ich hatte keine Westverwandten, aber in der Schule
irgendwie das Monopol für Bravo-Poster. Mitschüler, die

von ihren Großeltern aus West-Berlin mit Bravos versorgt
wurden, konnte ich überzeugen, mir ihre Zeitschriften

zu verkaufen. Die habe ich dann auseinandergepflückt
und begonnen, mit ihnen zu handeln. Mein Vater war

nebenbei Fotograf, also hatte ich die Möglichkeit, die
Poster noch zu vervielfältigen. Das heißt, ein Bravo-Poster

konnte ich für 20 Mark verkaufen. Für eine Kopie davon
habe ich dann noch mal zehn Mark bekommen. Am Ende

brachte so eine Bravo 300 bis 400 Mark. Damit kam ich
im Monat auf 1000 bis 1500 Mark. Heute bezeichnet

man das als Eigenkapital. Damit war ich flüssig und konn-


te neu investieren.
Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie Ihre Seele an den

Kapitalismus verloren haben?
Gar nicht. Ich war zu jung und zu unbedarft. Angefangen

habe ich als Zwölfjähriger mit Dattelpalmen, die habe ich
im Keller gezüchtet und dann für 20 Mark verkauft. Im

Ferienlager in Polen habe ich hundert Dichtungsringe für
Trabis gekauft und weiterverkauft. Danach bin ich allein

nach Berlin gefahren und habe in einem Münzladen das
Geld für ausländische Münzen ausgegeben, die habe ich

gesammelt. Zehn Jahre später hätte ich in der DDR Pro-
bleme bekommen. Ich habe ja mehr Geld verdient als mein

Vater, der war Ingenieur und bekam 1300 Mark.
Was haben Ihre Eltern genau gemacht?

Mein Vater hatte eine Leitungsfunktion im Kaltwalzwerk
Oranienburg. Das wurde nach dem Mauerfall von der

Treuhand an die Krupp-Gruppe verkauft. Die haben kurz
darauf entschieden, dass der Betrieb plattgemacht wird.

Der klassische Treuhandfall. Meine Mutter hat in Hen-
nigsdorf im Stahlwerk gearbeitet, da blieben von 6000

Mitarbeitern 600. Meine Mutter hat mit Mitte 40 eine
Umschulung zur Hotelfachfrau gemacht. Dass sie wieder

ganz von vorn anfangen musste, war für mich schwer zu
ertragen. Das Know-how meines Vaters wollte Krupp na-

türlich haben, und sie haben ihn gebeten, Teil des Teams
zu werden, das das alte Werk demontiert und drüben im

Westen wieder aufbaut.
Wie wurde das bei Ihnen zu Hause besprochen?

Das wurde nicht hinterfragt, es wurde gemacht. Meine
Familie hat versucht zu funktionieren. Es galt, die Existenz

zu sichern. Mein Vater wurde gefragt und entschied, ich gehe
jetzt mit rüber. Für uns als Familie bedeutete das wirtschaftli-

che Sicherheit. Aber für mich fühlte sich das so an, als sei ich
nun ein Scheidungskind. Ich hatte einen Pendel-Vater.

Ihr Vater wurde als einer von ganz wenigen der 2000 Ost-
Mitarbeiter von Krupp ausgesucht. Mehr als 90 Prozent

wurden entlassen. Was hat das mit Ihnen als Sohn gemacht?
Ich habe das nie als Privileg empfunden, sondern als Preis,

den er bezahlen musste. Wir als Familie gingen ja nicht
in den Westen, Gott sei Dank! Es war klar, die Familie

bleibt zu Hause, weil zu Hause Heimat ist. Mein Vater war
Mitte 40, passionierter Stahlingenieur und konnte seinen

Beruf, wenn auch woanders, weiterführen. Gleichzeitig war
er aber auch der Totengräber der eigenen Kollegen bezie-

hungsweise des eigenen Betriebs. Ich glaube, diesen Kon-
flikt hat er vergraben.

Ist dieses Vergraben eine Ursache für die Wut bei vielen
Ostdeutschen, die anscheinend erst jetzt hervorbricht?

Ich spüre diese Wut überall. Diese Konflikte, die in vielen
ostdeutschen Familien bestehen, kommen erst jetzt zum

Vorschein. Die Wut ist vergraben worden zugunsten des
Reflexes: Wir müssen für die Familie Sicherheit und Sta-

bilität schaffen. Sie wurde zugunsten des Funktionierens
unterdrückt. Man konnte dabei zusehen, wie die Gemein-

Lars Dittrich, 45, wuchs in Hennigsdorf bei Berlin


auf. Er hatte schon nach dem Abitur eine


eigene Firma, die er 2 0 07 verkaufte, danach saß er


im Vorstand von Debitel. Er gründete außerdem


die Produktionsfirma Mythos Film. Heute investiert


er in Start-ups und ist Miteigentümer einer Galerie


Foto Sabine Gudath


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imago


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