Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

Die Luft ist zu kalt, das Licht zu grell, das Leben zu an-


strengend – so ist die Welt, so wird sie immer sein. Und


dann auch noch: duschen gehen müssen. Jeden Morgen.


In einem gefliesten Raum stehen, nackt und verletzlich,


an einem Regler drehen. Die kleinen Spritzer des kalten


Wassers spüren, die wie Nadelstiche auf die Haut treffen.


Warten, bis das Wasser warm wird. Das sind die unwür-


digsten Minuten im Leben jedes erwachsenen Menschen:


in den Spiegel schauen, die Kissenabdrücke im Gesicht


sehen, sich hässlich finden, dann einen Arm hinter den


Duschvorhang schieben, wie ein tapferer Soldat, der sei-


nem Regiment vorausläuft, um zu fühlen, ob die Was-


serspritzer schon warm sind oder immer noch schmer-


zenskalt. Und alles nur, um


Hygienestandards zu ent-


sprechen, die einem sagen:


Wer nicht täglich morgens


duscht, der ist eklig.


Ich mache da nicht mehr


mit. Ich hasse es, zu duschen.


Über das angeblich herrliche


Duschen wird die meiste Zeit


gelogen, in der Werbung, in


der Popkultur, in der Fami-


lie. Wir müssen alle zurück


in die Wanne!


Als ich etwa elf Jahre alt war,


also in dem Alter, in dem man


vom Baden aufs Duschen umzusteigen hat, lief im Fern-


sehen jeden Tag mehrmals ein Spot der Shampoo-Marke


Herbal Essences. Darin steht eine Frau unter der Dusche


und shampooniert sich. Sie stöhnt, sie ist befreit, sie riecht


gut, das Wasser strömt herab, sie will es. Natürlich habe ich


mir das bescheuerte Shampoo gekauft, eine orange far be-


ne Flasche, deren Öffnung beim Herauspressen des Sham-


poos verklebte, sodass sich die Flasche mit glitschigen Sei-


fenhänden nach der dritten Benutzung kaum noch öffnen


ließ. Außer Frus tra tion ließ mich dieses Shampoo unter der


Dusche nichts fühlen. Es gab keinen Genuss, es gab keinen


Wasserfall und keine Schmetterlinge, die mich plötzlich um-


schwärmt hätten. Ich erlitt die erste bewusste Produktent-


täuschung meines Lebens: Duschen, verstand ich damals,


lässt sich nicht schönreden.


Duschen ist erst zu kalt, dann zu heiß, dann zu ungemüt-


lich. Der Wasserdruck ist entweder so hoch, dass er auf der


Haut wehtut, oder so niedrig, dass er das Shampoo nicht


aus den Haaren spült. Der Duschkopf ist entweder so ange-
winkelt, dass man sich halbschräg hinstellen muss, um sich

im Halbtrockenen einzuseifen, oder so angewinkelt, dass
man sich wie beim Tanzen winden und drehen muss, um

an jede Körperstelle Wasser zu bekommen. Duschvorhänge
sind eklig, weil man sie nicht richtig putzen kann, Dusch-

kabinenwände aus Glas sind nervig, weil sie schon nach ein
paar Tagen aussehen, als hätte man ewig nicht geputzt.

Es sollte niemanden wundern, dass das Prinzip Dusche
von einem französischen Gefängnisarzt erfunden wurde,

in den 1870er-Jahren. Ihm ging es um möglichst effiziente
Hygiene, weil sich in den Gefängnissen Krankheiten aus-

gebreitet hatten. Wenn Was-
ser von oben auf Menschen

herabplätschert, befand er,
bedeutet das geringeren Ver-

brauch in kurzer Zeit mit ei-
nem großen Sauberkeits-Ef-

fekt. Wenig später bekamen
die Soldaten des preußischen

Militärs ebenfalls Duschen.
Und diese Ur-Zielgruppe

beschreibt ziemlich genau,
wie ich mich fühle, wenn ich

morgens unter der Dusche
stehe: wie eine Gefangene

der Marktwirtschaft, eine
Soldatin der Effizienz. Duschen ist der Sieg des Kosten-

Nutzen-Denkens über den Genuss.
Freie Menschen gehen baden. Badewannen sind warm und

gemütlich, ich fühle mich darin immer wie auf einer flau-
schigen Couch in einem Wohnzimmer am zweiten Weih-

nachtsfeiertag. In Badewannen gibt es nichts zu tun außer
Daliegen und Abwarten. Wer badet, entzieht sich jeglicher

Zwänge des Draußens. Es fiele mir nicht ein, mich nach dem
Baden anzuziehen und arbeiten zu gehen. Baden ist nichts

für morgens, wenn man sich bereit machen und abhärten
muss für die Qualen des Tages, Baden ist eine Abendaktivi-

tät, bei der man die Qualen vergisst. Nach dem Baden bleibt
nichts zu tun, außer sich unter einer Bettdecke einzurollen

wie ein warmes Zimtbrötchen und die schrumpelige Haut
langsam entschrumpeln zu lassen. Baden ist ineffizient, Ba-

den ist verschwenderisch. Baden bringt das Menschliche im
Menschen zum Vorschein. Der Dreck und die Traurigkeit

Von ANNA MAYR


»Freie Menschen gehen


baden. Badewannen


sind warm und gemütlich,


ich fühle mich


darin immer wie auf einer


flauschigen Couch«


10 0

Free download pdf