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des Alltags diffundieren aus den Poren ins Wasser, wozu sie
unter der Dusche überhaupt keine Zeit hätten.
Aber je älter man wird, desto besonderer wird das Baden.
Mit Sauberwerden, so denken viele Leute, hat es gar nichts
mehr zu tun. Eine Freundin erzählte mir, sie würde sich nach
dem Baden »abduschen«, um wirklich sauber zu werden. Sie
legt sich also in heißes, wohltuendes Wasser, um sich danach
unter eine feindliche, kalte Dusche zu stellen. »Abduschen«
ist eine Praktik, die von Menschen erfunden wurde, die den-
ken, dass Baden unhygienisch sei. »Man sitzt dann ja in sei-
nem eigenen Dreck«, sagen diese Menschen schaudernd und
vergessen dabei, dass eine durchschnittliche Person in einer
durchschnittlichen mitteleuropäischen Lebenslage selten so
viel Dreck am Körper hat, dass
dieser nicht im Gegensatz zu
180 Litern Badewasser kom-
plett zu vernachlässigen wäre.
»Abduschen« ist, als würde
man nach einem Abend in ei-
nem teuren Restaurant, leicht
angeduselt vom Rotwein,
noch schnell bei McDonald’s
vorbeigehen und sich dort
zwei Cheese bur ger bestellen,
um »richtig satt zu werden«.
Menschen, die sich nach dem
Baden abduschen, haben zu
viele Herbal-Essences-Spots
geguckt, und wahrscheinlich sind sie es auch, die im Som-
mer nur unter der Dusche Sex haben wollen, weil sie es
nicht mögen, »dass man da so schwitzt«. Sex unter der
Dusche gäbe es sowieso nicht, wenn es keine mittelmäßi-
gen Filme gäbe, in denen gut aussehende Schauspieler Sex
unter der Dusche haben. Er mag unheimlich gut aussehen,
wenn man filmt: Wasserdampf, Hände an Glasscheiben,
nasse Gesichter. Das heißt aber noch nicht, dass Sex unter
der Dusche in der Realität etwas Schönes hätte. In Filmen
lassen Frauen auch beim Sex ihren BH an, damit die Ka-
mera sie danach von oben filmen kann: daliegend, frisiert,
geschminkt, unverschwitzt. Sollte jemand im echten Leben
so Sex haben wie im Film, tut es mir leid.
Ich habe lange geglaubt, dass jeder normale Mensch täg-
lich morgens duschen sollte und dass alle das so machen.
Bei einer kleinen Umfrage in meinem Freundeskreis
konnte ich allerdings herausfinden, dass sie sich gegensei-
tig be lügen. Vor allem die Frauen, die ich kenne, duschen
nicht täglich – weil sie es gar nicht müssen. Aber sie ver-
schweigen das, weil sie denken, sie wären die Einzigen.
Das liegt daran, dass unsere Welt von alten, dicken Män-
nern regiert wird – und von deren Hygienestandards. Mag
sein, dass der durchschnittliche Patriarchenkörper einmal
täglich morgens abgespült werden muss, um erträglich zu
riechen. Manchen Frauen reicht es aber vollkommen, nur
alle zwei Tage zu duschen – oder eben zu baden, weil das
nämlich schöner ist. Dermatologen sitzen seit Jahren in
Frühstücksfernsehsendungen und erzählen, dass es sogar
schädlich ist, sich jeden Tag komplett mit Seife zu wa-
schen: Es macht die Haut trocken und die Haare spröde.
Aber wenn wir weniger duschen
würden, dann könnten wir
weniger Produkte kaufen: Co-
co-Body-Scrub, Caramel-Foa-
ming-Silk-Mousse-Body-Wash,
Papaya-Wildflower-Spongelle,
diese Namen habe ich mir nicht
ausgedacht, es gibt sie wirk-
lich. Es gibt sie, weil wir darauf
trainiert sind, uns permanent
mit unserem Körper und seiner
Reinlichkeit zu beschäftigen:
fettige Haut hier, trockene Haut
da, Falten hier, Dehnungsstrei-
fen da, dort ein Peeling, hier
eine Creme. Wir sind süchtig danach, uns selbst »etwas Gu-
tes zu tun«, und der Ort, an dem wir das möglichst effizient
tun, ist eben die Dusche. Zu der Ungemütlichkeit und der
Kälte einer Duschkabine kommen also auch noch Aufgaben
hinzu, die erledigt werden wollen. Wasch-Arbeit, quasi. Und
das ist nicht einmal so umweltfreundlich, wie man immer
sagt: Wer zehn Minuten duscht, verbraucht dabei fast so vie-
le Liter Wasser wie bei einem Vollbad.
Vielleicht ist Duschen daran schuld, dass uns die Welt so
kompliziert vorkommt. Die alten Römer trafen sich in den
Thermen, um zu baden, zu tratschen und zu debattieren.
Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn wichtige po-
litische Entscheidungen in der Badewanne gefällt würden.
Es wären freundlichere Entscheidungen, wohlüberlegtere, da
bin ich sicher. Duschen hat die Hektik in die Welt gebracht,
das Schulterzucken und die Wut. Baden könnte das Gute
zurückbringen: das Warme im Menschen.
»Baden bringt das
Menschliche im Menschen
zum Vorschein.
Der Dreck und die Traurig-
keit diffundieren
aus den Poren ins Wasser«
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