Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1
fen, auch wenn die Ostprodukte gar nicht
schlechter waren. Und natürlich hatte in den Be-
trieben keiner eine Ahnung davon, wie man
Kunden akquiriert, wie man mit denen umgehen
muss. Das hatte davor ja nie eine Rolle gespielt.
Da hatte man halt produziert und gemacht.
Johannes Ludewig: Wir hatten keine Illusionen
über den Zustand der DDR-Wirtschaft. Schon
in den Verhandlungen zur Währungsunion, als
wir mit den ostdeutschen Kollegen zusammen-
saßen, hatten die gesagt: Ein Drittel ist wettbe-
werbsfähig, ein Drittel kann man vergessen, die
Betriebe muss man abschreiben, also schließen,
und ein Drittel, na ja, wenn man da massiv in-
vestiert, dann geht das. Aber das war vor dem
Ende der Sowjetunion. Das, was die DDR-Wirt-
schaft damals aufrechterhielt, war die Verbin-
dung in den Ostblock, die Sowjetunion war der
größte Abnehmer von DDR-Produkten. Dann
löste sich Ende 1991 auf einmal die Sowjetunion
auf – und damit auch das ganze Geflecht der
gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Plötzlich
ging für die DDR-Betriebe nahezu nichts mehr.
Ende 1991 war der absolute Tiefpunkt.
Eckhard Netzmann: In unseren Montagsrun-
den habe ich meinen Leuten immer gesagt, wie
ernst es ist und was auf uns zukommen wird. Ein
großes Thema war die mangelnde Produktivität.
Aber: Wir glaubten wirklich, dass wir mit unse-
rem Wissen und mit ungefähr der Hälfte der
Leute eine Chance gehabt hätten. In Tschechien,
in Bulgarien, überall standen ja Kraftwerke, mit
denen wir uns sehr gut auskannten. Und natür-
lich hatte ich gehofft, dass wir zum Zuge kom-
men, wenn im Osten Deutschlands Kraftwerke
gebaut werden. Aber da wusste ich eben noch
nicht, dass wir plattgemacht werden sollten.

Unter Brigit Breuel erhöht die Treuhand
noch einmal das Tempo. Je schneller, desto
besser, desto effizienter wird nun zum
regelrechten Mantra der Manager.
Gleichzeitig schließen immer mehr Betriebe.
Bis 1993 verlieren im Osten rund drei
Millionen Menschen ihre bisherigen Jobs.

Maria Breitfeld-Markowski: Anfangs hieß es
in der Treuhand noch, dass keinesfalls Gelder für
den Personalabbau zur Verfügung gestellt werden
sollten. Aber dann merkte man langsam, wie
viele Leute tatsächlich in den einzelnen Kombi-
naten, Werken, wo auch immer, beschäftigt wa-
ren – und wie wenige man möglicherweise brau-
chen würde. Und dann hat man festgestellt, okay,
wenn wir jetzt also nur noch höchstens 40 Pro-
zent der Beschäftigten brauchen, was machen wir
denn dann mit den restlichen 60 Prozent?
Schmeißen wir die raus? Und wenn wir sie raus-
schmeißen, dann passiert das ja nicht nur in
einem Betrieb, dann passiert das vielhundertfach,
überall im Land. Und dann haben wir plötzlich
eine sehr große Menschenmenge, die mit Sicher-
heit sehr, sehr unzufrieden ist. Und das war dann
politisch nicht gewollt. Und so hat sich die Situa-
tion gedreht, und man kam zu der Überzeugung,
den Personalabbau finanziell zu begleiten, wie es
so schön hieß. Meine Aufgabe war es, dafür zu
sorgen, dass das Geld in den Betrieben ankam.
Ich habe insgesamt 8,5 Milliarden Mark an die
Treuhandunternehmen ausgereicht, damit die
ihre Sozialpläne finanzieren konnten.
Johannes Ludewig: Allein in den ersten drei
Jahren ging ungefähr die Hälfte aller Industrie-
arbeitsplätze verloren, eine unglaublich große
Zahl. Selbst dort, wo die Treuhand erfolgreich
restrukturiert hat, mussten Leute entlassen wer-
den, einfach weil bei gleicher Produktionsleis-
tung die Produktivität so viel höher war. Sehr
viele Leute verloren ihren Arbeitsplatz. Das darf
man nicht vergessen.
Maria Breitfeld-Markowski: Es hat in den So-
zial plänen eine vertragliche Begrenzung gegeben,

einen Maximalbetrag von 5000 Mark, egal wie
lange man gearbeitet hatte, selbst wenn es teil-
weise 30 oder 40 Jahre waren. Im Vergleich zum
Westen war dieser Betrag ein Witz. Aber wenn
man die Sozialpläne nach westdeutschen Maß-
stäben gemacht hätte, dann wären sie nicht mehr
bezahlbar gewesen. Daher die Deckelung. Das
war natürlich eine schreiende Ungerechtigkeit.
Und die Ostdeutschen haben auch nicht gewusst,
welche Möglichkeiten überhaupt bestanden.
Helmuth Coqui: Ab Frühsommer 1991 zeigte
sich ganz deutlich, wie falsch die Idee war, die
Betriebe erst in GmbHs oder AGs umzuwandeln
und dann als Ganzes an Investoren zu verkaufen.
Denn die meisten waren gar nicht am Erhalt der
Arbeitsplätze interessiert. Ihnen ging es vor allem
um die Grundstücke, die diese Betriebe besaßen.
In der DDR hatte es keinen Preis für Grund und
Boden gegeben, und so hatten die meisten Be-
triebe einen riesigen Immobilienbesitz. Da gab es
Grundstücke in Innenstadtlagen, die nach der
Wende auf einmal sehr begehrt waren. Und al-
lein um diese Grundstücke ging es den Investo-
ren. Da kam also jemand und versprach, einen
Betrieb zu übernehmen, samt Grundstück und
200 Arbeitsplätzen, und er sichert zu, die Arbeits-
plätze ein Jahr zu erhalten. Aber nach dem Jahr
standen die Leute dann auf der Straße. Und der
Käufer hatte das Grundstück. Das Problem für
uns war also nicht so sehr, Investoren anzulo-
cken, sondern den einen herauszufinden, der
nicht nur die Immobilie wollte.
Eckhard Netzmann: Die Masse der Entschei-
dungen lief nicht darauf hinaus, die Betriebe zu
sanieren, sondern zu filetieren. Und es gab in
der Treuhand eine Vielzahl von Vertretern re-
nommierter und gestandener Unternehmen aus
den alten Bundesländern, die ihren alten Fir-
men kontinuierlich zuarbeiteten. Die haben
sich ganz genau angeschaut, welche Teile eines
Ost-Betriebs in das Gefüge ihres alten Unter-
nehmens passten und welche Teile man ver-
nichten musste, damit sie nicht in die Hände
eines Konkurrenten fielen. Über ihre Leute in
der Treuhand sind die Westfirmen ganz schnell
an die Kundenkartei und andere sensible Daten
gekommen. Die wussten alles.
Ken-Peter Paulin: Das war doch der große
Vorteil der DDR, dass sie nebenan den großen
Bruder hatte, den viermal so großen Bruder:
Die Substanz des Westens hat den Aufbau Ost
erst ermöglicht. Und es passte ja auch wunder-
bar zwischen beiden Seiten: Die Kultur stimmte
einigermaßen, die Sprache stimmte sowieso, es
konnten alle miteinander reden. Plus: Parieren
hatten die Ossis gelernt. Und die Westler, be-
haupte ich einfach, wussten etwas mehr, wie
man in der Industrie mit Arbeitskräften um-
geht. Klare Ansagen waren im Osten davor ja
nicht so üblich gewesen.
Eckhard Netzmann: Meine Kraftwerksanla-
genbau AG ist ganz langsam ausgeblutet. Am
Ende musste ich mangels Aufträgen und man-
gels Arbeit immer mehr Leute entlassen. Und
irgendwann war es vorbei. Niemand hatte ein
Interesse daran, uns zu helfen.
Maria Breitfeld-Markowski: Ein ums andere
Mal haben Betriebsräte bei mir angerufen und
gesagt, das geht nicht, wir bekommen für unsere
Leute nur soundso wenig, die brauchen aber
mehr, denn wir haben hier diese und jene speziel-
le Situation. Die waren am Jammern – das ist
nicht abfällig gemeint – und haben versucht, für
ihre Kollegen noch irgendwas herauszukitzeln.
Und ich konnte immer nur sagen, tut mir leid,
ich kann nicht mehr geben, ich reiche Sie noch
mal weiter ins andere Direktorat, ob da irgend-
eine Härtefallregelung möglicherweise greift. Die
haben dort vielleicht auch was möglich gemacht,
das weiß ich nicht. Mir waren tatsächlich die
Hände gebunden. Und da knabbert man dann
schon dran, das war eine enorme Belastung.
Brigitta Kauers: Die Stimmung war nicht gut,
und wenn man bei der Treuhand arbeitete, dann
gehörte man plötzlich zu dem Haufen, der an
allem schuld sein sollte. Ich habe damals in Berlin
in Prenzlauer Berg in einer Erdgeschosswohnung

gewohnt. Niemand im Haus wusste, wo ich ar-
beite. Ich hatte einfach Angst, dass man mir die
Fensterscheiben einschmeißt. Wenn ich gefragt
worden wäre, wo ich morgens hingehe, hätte ich
gesagt, ich habe an der Uni zu tun, was nicht ein-
mal gelogen gewesen wäre. Denn ich habe zur
gleichen Zeit ein Abendstudium in Jura gemacht
und kam abends zumindest zweimal in der Wo-
che von der Uni nach Hause.
Helmuth Coqui: Wir haben mit einer unge-
heuren Machtfülle direkt ins Leben von Tausen-
den Menschen eingegriffen. Wir haben auch
Hoffnungen begraben. Das war etwas, das ich
in all meinen vorangegangenen Jobs in dieser
Intensität so nie erlebt hatte. Ich war Ende 50
und war zur Treuhand gegangen, weil ich auch
Lust auf diese ungewöhnliche Aufgabe hatte.
Aber dass die Emotionen bis in die eigene Fami-
lie reinschwappen, dass einen die eigenen Kin-
der fragen, Mensch, was macht ihr denn da
eigentlich?, dass das alles so läuft, war vorher
nicht klar. Und vielleicht hat es wirklich ein
paar Jahrzehnte der Stille gebraucht, bis man
sich damit noch einmal aufs Neue auseinander-
setzen, das Ganze irgendwie verarbeiten kann.
Johannes Ludewig: Wenn ich aus Ostdeutsch-
land zurück nach Bonn kam, habe ich meinen
Leuten im Kanzleramt und später im Bundes-
wirtschaftsministerium immer gesagt, seid froh,
wieder ein Tag ohne Betriebsbesetzung. Mich hat
das gewundert, angesichts dessen, was wir den
Leuten zugemutet haben und zumuten mussten.
Im Westen hätten die Arbeiter längst ihren Be-
trieb besetzt und gesagt, wir machen nicht mehr
mit, ihr müsstet jetzt eine Lösung für uns finden.
Das gab es in Ostdeutschland, von ganz wenigen
Ausnahmen abgesehen, nicht.

Ende 1992 sind fast vier Fünftel aller
Betriebe privatisiert oder stillgelegt. Bis
dahin hatte es nur wenige bundesweite
Proteste gegeben. 1993 aber brechen die
ersten großen Skandale auf. In Halle wird
ein Bestechungsfall enthüllt: Eine Gruppe
von Managern, Investoren und Gewährs-
männern hat einander DDR-Betriebe weit
unter Wert zugeschoben.

Maria Breitfeld-Markowski: Dann kam Bi-
schofferode. Der Aufstand der Bergleute aus dem
Kalibergbau. Es gab Hungerstreiks. Eines Tages
besetzten sie die Straßenkreuzung vor dem Ge-
bäude der Treuhand in Berlin. Sie waren viel-
leicht 50 oder 60. Gleich in der Nähe war ein
Supermarkt, dort haben sie sich Tomaten und
Eier besorgt und dann aufs Gebäude geworfen.
Draußen war es heiß, wir hatten die Fenster
offen. Dann sind die Eier durch die offenen
Fenster geflogen, eins nach dem anderen, und


  • patsch! – innen gegen die Bürowände ge-
    klatscht. Das Zeug floss die Wände nur so runter.
    Brigitta Kauers: Wir waren drin im Haus und
    kamen nicht mehr raus. Ich fühlte mich nicht
    bedroht. Die Leute draußen haben mir leid ge-
    tan. Wir hatten bei uns in der Zentrale ja auch
    viel mit ausländischen Delegationen zu tun, mit
    Leuten aus Russland, Rumänien oder sonst wo-
    her, und wenn die mitbekamen, dass ich DDR-
    Bürgerin war, fragten sie mich oft: Was emp-
    finden Sie jetzt? Und meine Antwort war dann:
    Mein Herz weint, und mein Kopf sagt, es geht
    nicht anders. Ich habe wirklich mitgefühlt mit
    den streikenden Bergleuten, ich war ja auch der
    Meinung, dass sie sich wehren müssen. An der
    Qualität des Kalisalzes auf der östlichen Seite
    kann es nicht gelegen haben. Aber so eine Stra-
    ßenblockade hat ja nichts gebracht.


Ende 1993 setzt der Bundestag einen
Untersuchungsausschuss zur Treuhand ein,
auf Antrag der SPD. Fast zehn Monate lang
befragt man dort Hunderte Zeugen.
Während die Regierungsparteien CDU und
FDP die Arbeit der Treuhand verteidigen,
beklagt die linke Opposition unternehmerische

Fehlschläge, überhöhte Beraterhonorare sowie
die fehlende Beteiligung Ostdeutscher.

Helmuth Coqui: Ich glaube, eines der Haupt-
versäumnisse war, dass wir viel zu wenig erklärt
haben. Wir hatten dafür einfach nicht die Zeit.
Und wir konnten es auch nicht richtig. Wir sind
in die Betriebe rein und haben den Leuten ver-
kündet, dass wir die Bude leider zumachen
müssen. Und wir haben das sehr ungeschickt
gemacht. Es ging ja in der Öffentlichkeit dau-
ernd darum, wie erfolgreich Marktwirtschaft
gegenüber dümmlicher Planwirtschaft ist, aber
diese Rechthaberei hat die Leute in den Betrie-
ben doch überhaupt nicht interessiert. Die hat-
ten einfach nur Angst um ihren Arbeitsplatz.
Und in der Planwirtschaft hatten sie einen Ar-
beitsplatz gehabt.
Ken-Peter Paulin: Ich habe in den Unterneh-
men, mit denen ich zu tun hatte, immer gesagt:
Jammert nicht rum, pennt nicht rum, entlasst
eure Leute, strickt euren Laden um. Die ganze
Privatisierung scheitert, wenn ihr eure Bude
nicht so sauber gekarrt habt, dass der Investor
sagt, okay, damit starte ich zumindest. Und da
hat es natürlich Ärger gegeben. Das mag aus
heutiger Sicht vielleicht hart klingen. Aber ich
glaube, es ging damals nicht anders. Ich wollte,
dass die sich selbst Gedanken machen – darü-
ber, was sie brauchen und welche Zukunft sie
für sich sehen. Und auf der Basis habe ich dann
vor Ort diskutiert.
Johannes Ludewig: Die Deutschen haben viele
Talente, aber ein Übermaß an Einfühlungsver-
mögen ist nicht darunter. Und genau das hätten
wir gebraucht. Ich bin in mehr als 100 Betrie-
ben gewesen und habe auch einige davon ein
Stück des Weges begleitet, und wenn Sie da so
Landsleute aus dem Westen erlebt haben, so
Auftritte von Managern aus dem Westen, dann
war man oft fassungslos. Helmut Kohl hat mal
gesagt: Der Stärkere hat immer die größere Ver-
antwortung. Aber das war vielen Leuten gar
nicht klar. Und ich glaube, diese psychologi-
schen Faktoren, wie man mit Menschen um-
geht, wie man für sie auch da sein muss, wie
man ihnen das Gefühl gibt, auf Augenhöhe zu
reden, ich glaube, das haben wir nicht so richtig
gut hinbekommen.
Eckhard Netzmann: Wir hatten den ökonomi-
schen Wettbewerb eindeutig verloren. Wenn du
in der Arbeitsproduktivität 30 Prozent zurück-
liegst, dann kannst du nicht mehr gewinnen.
Aber ich war als Generaldirektor eben auch für
weit mehr verantwortlich als nur für den Kraft-
werksanlagenbau und für betriebswirtschaftliche
Kennziffern. Ich habe dafür gekämpft, dass es ein
ordentliches Kulturangebot gab, dass Kinder ins
Kinderferienlager konnten und dass Schüler eine
Ausbildung oder einen Studienplatz bekamen.
Maria Breitfeld-Markowski: Alles, was in der
DDR existiert hatte, wollte man jetzt nicht
mehr, es musste abgeschafft werden. Ganz
schnell. Heute, 30 Jahre später, heißt es auf ein-
mal, Betriebskindergärten sind vielleicht gar
nicht so doof und Ärztehäuser, früher hießen sie
Poliklinik, auch nicht. Aber damals hat man al-
les beiseitegestoßen und umgerissen. Voreilig
und dumm.
Johannes Ludewig: Wir haben den Leuten mehr
zugemutet, als man eigentlich zumuten darf. Das
muss man klar sagen. In Westdeutschland hatten
wir nie eine vergleichbare Situation gehabt, eine
so dramatische Restrukturierung in so kurzer
Zeit. Und Arbeit ist für den Menschen eben
mehr, als nur Geld zu bekommen. Im Osten war
der Betrieb der Kern des gesellschaftlichen Le-
bens, der persönliche Bezugspunkt, ein wichtiger
Teil des Miteinanders. Und als der Betrieb
schloss, war auf einmal alles weg.
Brigitta Kauers: Ein Problem war der enorme
Zeitdruck. Man hat versucht, das alles inner-
halb von drei, vier Jahren hinzukriegen, das war

völlig irre. Ungünstig war zum Beispiel, dass der
Maschinenbau weltweit in einer Absatzflaute
war, gerade zu dem Zeitpunkt, als die Treuhand
versuchte, die DDR-Maschinenbaubetriebe zu
privatisieren. Da hätte man auch sagen können,
nun warten wir doch mal, bis wir insgesamt aus
der Flaute rauskommen, bis die Konjunktur
wieder anspringt, und dann gelingt es besser, die
Betriebe zu privatisieren. Man hätte sich viel
mehr Zeit nehmen müssen.
Ken-Peter Paulin: Ich habe meinen Laden un-
ter hohem Dampf gefahren, mit hoher Belas-
tung und auch extremem Arbeitsanfall, weil ich
einfach auch gesagt habe, besser, man wird nicht
gleich zu sehr beamtet, sondern man wühlt sich
durch diesen Haufen durch. Das war der einzig
vernünftige Weg. Da ging vielleicht auch man-
ches nicht in Ordnung. Aber die Firmen so
schnell wie möglich in private, interessierte
Hände zu entlassen war einfach das Beste. Da
führte nichts dran vorbei.

Am 31. Dezember 1994 schraubt Birgit
Breuel das Firmenschild an der Berliner
Treuhandzentrale ab – ein Termin für die
Presse. Aber die Geschichte der Treuhand
endet nicht an jenem Tag. Ein Großteil des
Personals wechselt nahtlos in die neu
geschaffene Bundesanstalt für vereinigungs-
bedingte Sonderaufgaben, eine gewöhnliche
Behörde, die noch bis 2003 Restfälle
abarbeitet und über die Einhaltung der
Privatisierungsverträge wacht. Und auch
wenn der Name der Treuhand aus der
Öffentlichkeit verschwindet – im Osten
Deutschlands gären die Erinnerungen weiter.

Johannes Ludewig: Es war schon richtig, dass
man ein Enddatum setzt. Aber vier Jahre deck-
ten nicht die Wirklichkeit ab, nicht die wirklich
schwierigen Fälle wie Chemie und Stahl und
Werften und was die Treuhand da alles so im
Portefeuille hatte. Das ist einer der wenigen
Punkte, wo ich mich damals in der Regierung
nicht durchgesetzt habe. Frau Breuel hatte sich
sehr stark auf diese vier Jahre versteift. Das war
unrealistisch und damit irgendwie auch unehr-
lich. Und unehrlich ist immer schwierig. Sie
dürfen nämlich in einem solchen Umbruch-
prozess keinen Eindruck erwecken, der von der
Wirklichkeit gar nicht gedeckt ist. Dafür sind
die Leute vor Ort viel zu intelligent. Es gab
dann ja Ende 1994 diese schöne Szene, als Frau
Breuel am Gebäude der Treuhandanstalt in Ber-
lin das Schild abschraubt, und damit den Ein-
druck vermittelte, als sei die Arbeit getan. Doch
draußen im Land waren Zehntausende, viel-
leicht Hunderttausende von Menschen, die aus
ihrem Alltag genau wussten, dass die Arbeit
nicht getan war. Ein fundamentaler Fehler!
Brigitta Kauers: Am Ende der Treuhand 1994
hatten wir ungefähr 200 Milliarden D-Mark für
die Sanierung der Betriebe ausgegeben. Das
klingt enorm viel. Aber wenn man bedenkt, wie
viel staatliche Fördermittel die alte Bundesrepu-
blik zum Beispiel für die Steinkohle ausgegeben
hat, dann wirkt die Summe doch gleich ganz an-
ders. Das waren nämlich mehr als 200 Milliarden
Euro. Das galt halt als notwendig, um nach der
Zerstörung nach dem Krieg – Deutschland lag ja
am Boden – den Aufschwung zu schaffen; um
sich auf dem Weltmarkt zu behaupten und die
Industrie zu erhalten. Da hat es in der Bundesre-
publik überhaupt keine Diskussion gegeben, ob
das zu teuer ist. Aber als es darum ging, Ost-
deutschland auf den Weg zur Marktwirtschaft zu
bringen, da musste alles ganz schnell gehen, weil
es sonst zu teuer wird. Und das halte ich für ein
vorgeschobenes Argument.
Johannes Ludewig: Sie können eine ganze
Volkswirtschaft nicht zehn oder zwanzig Jahre
lang subventionieren und sagen, so, macht mal
alle weiter wie bisher, und die Differenz bezahlen
wir. Vor allem dann nicht, wenn die Bevölkerung
die eigenen Produkte nicht mehr kauft und sich

»Sie können eine ganze


Volkswirtschaft nicht zehn


oder zwanzig Jahre lang


subventionieren«


Johannes Ludewig,
Chef berater von Helmut Kohl

»Wir hatten den


ökonomischen


Wettbewerb eindeutig


verloren«


Eckhard Netzmann,
Kombinatsdirektor VEB Kraftwerksanlagenbau

»Man hat versucht, das


alles innerhalb von drei,


vier Jahren hinzukriegen,


Das war völlig irre«


Brigitta Kauers,
Treuhand-Mitarbeiterin

»Eines der Haupt-


versäumnisse war,


dass wir viel zu wenig


erklärt haben«


Helmuth Coqui,
Treuhand-Manager

»Damals hat man


alles beseitegestoßen


und umgerissen.


Voreilig und dumm«


Maria Breitfeld-Markowski,
Treuhand-Mitarbeiterin

Das abgeschriebene Land
Fortsetzung von S. 25

Illustration: Karlotta Freier für DIE ZEIT


26 WIRTSCHAFT 2. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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