Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

A


m 1. November soll die neue
EU-Kommission unter deut-
scher Präsidentschaft antre-
ten. Die Erwartungen an Ur-
sula von der Leyen sind groß.
Und ebenso an diejenigen, die
mit der designierten Präsiden-
tin Europas nächste Regierung bilden sollen. Al-
len voran zwei Frauen: die Dänin Margrethe Ves-
tager als Vizepräsidentin und Kommissarin für
Digitalisierung und Wettbewerb und die Fran-
zösin Sylvie Goulard als Kommissarin für den
Binnenmarkt, Industrie- und Verteidigungspoli-
tik. Von der Leyen hat die beiden bestimmt. Zu
dritt wollen sie nun Europas Wirtschaftspolitik
umstellen.
Eines haben die drei schon jetzt gemeinsam:
ihre Unterstützung durch den französischen Prä-
sidenten. Emmanuel Macron schlug von der
Leyen als Kommissionschefin vor, unterstützte
Vestager als Spitzenkandidatin der Liberalen im
Europawahlkampf und wählte Goulard als seine
neue Vertreterin in Brüssel aus. Die Allianz mit
Macron war so offensichtlich, dass der Élysée-
Palast dieser Tage dementieren musste, es handle
sich um eine »französische Kommission«.
Unabhängig von Macron betonen aber auch
die drei ihre vielen Gemeinsamkeiten. Von
»Traumbedingungen, um die Dinge neu auf
den Weg zu bringen«, ist in Vestagers Büro die
Rede. Goulard unterstreicht, wie gut sie sich mit
den beiden anderen versteht. Und von der
Leyen spricht von der »Chemie«, die zwischen
ihnen stimme.
Kann so der Neuanfang in Brüssel gelingen?
Und was bedeutet das mächtige Dreieck für das
deutsch-französische Verhältnis?
Der Pariser Ökonom Élie Cohen, der den
französischen Präsidenten berät, ordnet das
»Von-der-Leyen-Projekt«, wie er es nennt, so ein:
»Deutscher Ordoliberalismus und französischer
Staatsinterventionismus stehen sich seit Jahr-
zehnten in Brüssel im Weg.« Cohen glaubt, dass
sich die französische Politik in Brüssel seit Lan-
gem eine regelrechte Wirtschaftsregierung wün-
sche, während die deutsche genau das vermeiden
wolle, weil sie mehr auf die Selbstregulierungs-
kräfte des Marktes setze. Doch nun sei die Chan-
ce da, den Widerspruch aufzulösen. »Die neue
Kommission steht für den ökonomischen Reset«,
sagt Cohen. Entsprechende Pläne gebe es genug,
von der CO₂-Steuer bis zur aktiven Industrie-
politik gegen China.
Erst einmal stehen den Neuen allerdings an-
strengende Anhörungen im Europäischen Parla-
ment bevor. Es überprüft in den nächsten Wo-
chen traditionsgemäß alle angehenden Kommis-
sare. Und besonders an jene Kandidaten, die
unter dem Verdacht stehen, Interessenkonflikte
zu haben oder Misswirtschaft betrieben zu ha-
ben, gibt es viele Fragen. Dazu zählt auch Gou-
lard. Sie soll als EU-Parlamentarierin zwischen
Juli 2014 und Januar 2015 einen As-
sistenten für europafremde Zwecke
eingesetzt haben und musste deshalb
45.000 Euro an das Europaparlament
zurückzahlen. Außerdem ermittelte
die EU-Behörde für Betrugsbekämp-
fung gegen sie. Offenbar sind diese
Untersuchungen noch nicht abge-
schlossen. Goulard muss also vor-
sichtig sein. Jedes Wort zu viel von ihr
könnte unerwünschte Fragen auf-
kommen lassen.
Auch von der Leyen schweigt aktuell
meist gegenüber Journalisten. Während
eines Zwischenstopps am Brüsseler
Flughafen nimmt sich die designierte
Präsidentin dann doch ausnahmsweise
Zeit für ein ausführliches Telefonat und
gibt Einblick in die Vorbereitungen auf
ihre neue Funktion. Sie hütet sich dabei
vor polarisierenden Begriffen. Ihr gehe
es um den Erhalt der sozialen Markt-
wirtschaft in Europa, für den es aus
ihrer Sicht eines sozialen Gleichge-
wichts auf dem Kontinent bedürfe.
Das klingt banal, könnte aber genau
das meinen, was die Vordenker rund
um Macron anstreben: eine Ausweitung
der europäischen Kampfzone, also der Kompeten-
zen der Europäischen Union. Paris fordert auch im
sozialen Bereich mehr Europa, bei der Arbeitslosen-
versicherung, bei einem Erasmus-Programm für
Lehrlinge. Schließlich ist die soziale Frage in der
EU bisher weitgehend eine nationale Frage. Wer
sich dafür in Brüssel verantwortlich fühlt, will Neu-
land besetzen. Auch beim Klima will von der Leyen
vorangehen, mit einem »Green Deal« und Klima-
schutz-Investitionen in Höhe von einer Billion Euro
für die nächsten zehn Jahre.
Auch in Sachen Gleichberechtigung soll die
künftige Kommission einen Aufbruch symboli-
sieren. Die 27 Posten sollen von 13 Frauen und
14 Männern bekleidet werden. Erstmals werden
Frauen die traditionell von Männern dominierte
Wirtschaftspolitik Europas steuern.
Während der deutsche Haushaltskommissar
Günther Oettinger und sein französischer Kollege
Pierre Moscovici als Wirtschafts- und Währungs-
kommissar in der alten Kommission wenig mit-
einander anfangen konnten, soll sich nun auch das
Verhältnis der Verantwortlichen untereinander
verbessern. Von der Leyen will die große Linie vor-
geben, Vestager als EU-Vizekommissionspräsiden-

tin das zentrale Zukunftsprojekt der Digitalisierung
steuern. Und Goulard soll dafür verantwortlich
sein, dass der Binnenmarkt auch nach dem drohen-
den Brexit weiter funktioniert. Dabei gilt Goulard
als gnadenlose Anhängerin des Wettbewerbsprin-
zips. Strukturreformen sind ihr lieber, als Gelder zu
verteilen. Das dürfte Berlin gefallen.
Goulard will derzeit nicht reden, aber von der
Leyen erzählt von ihrer ersten Begegnung mit der
Französin. Sie berichtet, dass sie Goulard im Früh-
jahr 2017 kennengelernt habe, als beide Verteidi-
gungsministerinnen ihres Landes waren, und seither
im regelmäßigen Austausch mit ihr stehe. Immer
wieder hätten sie dabei festgestellt, wie sehr sie in
europäischen Fragen übereinstimmten. In Paris
glauben nicht wenige, die beiden seien für eine Zu-
sammenarbeit prädestiniert. Von der Leyen gilt als
frankophil, Goulard als germanophil.
Ökonom Cohen hält Goulard deshalb für die
ideale Besetzung, um den Deutschen, wenn es etwa
um den Wettbewerb mit China geht, die Not-
wendigkeit einer europäischen Industriepolitik
klarzumachen, die sie in Brüssel bisher in aller
Regel ablehnten. Tatsächlich hat von der Leyen in
Goulards Amtsbeschreibung ausdrücklich die In-
dustrie- und Verteidigungspolitik aufgenommen
und damit bereits ein Signal gesetzt.
Auch für Margrethe Vestager bieten sich neue
Aufgaben. Als erste EU-Kommissarin überhaupt
wird Vestager auch in der neuen Kommission ihr
altes Amt behalten, die Wettbewerbsaufsicht. Darin
glänzte sie, als sie die großen US-amerikanischen
Digitalkonzerne in die Schranken wies und diese
aufgrund der Verletzung von Wettbewerbsregeln
zu Milliardenzahlungen verpflichtete. Bald aber soll
Vestager selbst viele Milliarden in die Hand neh-
men, um die digitale Infrastruktur und die For-
schung über künstliche Intelligenz in Europa voran-
zutreiben. Sie soll dann nicht mehr nur den großen
Konzernen aus dem Silicon Valley die Stirn bieten,
sondern Europas Alternativprojekt verkörpern. Ihre
neue Chefin von der Leyen macht sich da große
Hoffnungen, wie sie gegenüber der ZEIT sagt.
Vestager sei aus ihrer Sicht schon heute das Ge-
sicht Europas.
Zurzeit konferieren von der Leyen und Vestager
mehrmals in der Woche, telefonieren täglich, pla-
nen Hand in Hand. Von der Leyen kann noch viel
von Vestager lernen. Sie selbst räumt das ein, was
für ihren großen Respekt für die Dänin spricht. Von
der Leyen ist zwar in Brüssel geboren und muss
nicht mehr zur Europäerin erzogen werden, wie sie
gern anmerkt. Aber das Alltagsgeschäft der Kom-
mission ist etwas anderes. An das harte Ringen mit
den nationalen Regierungen muss sich von der
Leyen erst noch gewöhnen.
Dabei geht es um viel Geld: 1,12 Prozent des
jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) fordert die
alte Kommission für die nächsten Jahre von den
Mitgliedsländern. Von der Leyen muss eigentlich
noch mehr verlangen, wenn sie ihren »Green Deal«
verwirklichen will. Doch die Bundesregierung be-
steht darauf, nicht mehr als ein Prozent
des deutschen BIP an Brüssel abzuge-
ben. Das deutet auf den ersten großen
Kampf hin, den das Frauentrio führen
muss. Die drei müssen es schaffen, den
Haushalt auf mindestens jene 1,12
Prozent des europäischen BIP auszuwei-
ten. Sonst dürfte ihnen den Neustart
keiner abnehmen.
Von der Leyen, Vestager und Gou-
lard betonen zwar ihre gemeinsamen
Grundüberzeugungen: für ein starkes,
souveränes Europa, das sich wirtschafts-
politisch gegenüber China und den
USA behauptet. Es klingt, als würde
kein Blatt zwischen sie passen.
Die Krux für von der Leyen ist je-
doch, dass die eigentlichen Entschei-
dungen, die sie jetzt in Brüssel herbei-
führen will, immer noch zuerst in
Berlin getroffen werden. Macron konn-
te in den letzten Jahren vieles vorschla-
gen. Ohne Mittel und Unterstützung
aus Berlin waren seine Pläne nichts
wert. Jetzt hat er viel dafür getan, dass
diese Vorschläge nicht mehr von ihm,
sondern aus Brüssel kommen werden.
Aber ändert das etwas an der Antwort
aus Deutschland?
Von der Leyen, Vestager und Goulard wollen
daran glauben. Sie trinken bereits viel Kaffee und
Wasser zusammen, nie Alkohol. Schon das ist ein
Stilwechsel im Vergleich zu von der Le yens Vor-
gänger Jean-Claude Juncker, der gern Wein trank.
Juncker liebte das politische Spiel, seine Nachfol-
gerin setzt dagegen auf Verbindlichkeit. Vielleicht
weiß Berlin das zu goutieren. »Goulard ist für den
französischen Geschmack viel zu deutsch. Aber
Macron baut auf Berlin«, sagt Sébastien Maillard,
Leiter des industrienahen Jacques Delors Instituts
in Paris.
Noch erscheinen von der Leyens Pläne von ei-
nem »Green Deal« und einer »geopolitischen Kom-
mission«, die der chinesischen Regierung etwas
entgegensetzt, ein wenig vage. Fast wie eine Rede
Emmanuel Macrons. Auch von der Leyen selbst
hat, wenn man ihr genau zuhört, noch keine ganz
klaren Vorstellungen davon. Aber sie hat zwei neue
Gefährtinnen: Vestager und Goulard. Nicht aus-
geschlossen, dass die neue, spürbare Loyalität dieser
drei Frauen die Glaubwürdigkeit Brüssels in Berlin
erhöht und manchen deutschen Einspruch auf-
weichen kann.

28 WIRTSCHAFT


Europas neue Chefinnen


Drei Frauen prägen bald die EU-Kommission. Was bedeutet das für die Wirtschaftspolitik – und das Verhältnis zwischen Berlin und Paris? VON GEORG BLUME


Sylvie Goulard war
französische Vertei-
digungsministerin
und wechselt nun
nach Brüssel

Die bisherige Wett-
bewerbskommissa-
rin Margrethe Ves-
tager wird künftig
noch mächtiger

Ursula von der Leyen
soll Präsidentin der EU-
Kommission werden. Zu
diesem Amt verhalf ihr
auch die Unterstützung
von Emmanuel Macron

Fotos (v. o.): Henri Szwarc/dpa; European Union; Lengemann/ullstein bild


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
    o
    41


ANZEIGE


Jetzt Vorteilsangebot bestellen unter:


(^) http://www.zeit.de/5euro
040 /42 23 70 70



  • *Bitte die jeweilige Bestellnummer angeben: 1833394 · 1833395 Stud. · 1833437 Digital · 1833438 Digital Stud.
    5x DIE ZEIT für
    nur 5,– € testen!
    Lesen Sie 5 Wochen lang DIE ZEIT für nur 5,– €, und erfahren Sie
    jede Woche das Wichtigste aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
    Dieses Angebot gilt nur für kurze Zeit!



  • Print oder
    digital
    107467_ANZ_10746700015365_24441208_X4_ONP26 1 25.09.19 11:07

Free download pdf