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iaolin Li trägt ihren Selfiestab griff
bereit am Rucksack. »Das sieht
aus wie ein Palast«, ruft die junge
Frau und zeigt auf das Hambur
ger Rathaus. Dass der mächtige
Bau eine gute Fotokulisse sei, fin
det auch ihr Freund Tao Wu und
befestigt sein Handy in der Halterung des Selfiestabs.
Das Angebot, sich fotografieren zu lassen, lehnen die
beiden ab. Selfies sähen mehr nach Abenteuer aus,
findet Wu. Und das komme daheim in der südchine
sischen Millionenmetropole Shenzhen gut an.
Auch in anderer Hinsicht ist die Europareise für das
junge Paar ein Abenteuer. Denn statt einer Reisegrup
pe hinterherzutraben, reisen sie
bloß zu zweit. Sie gehören damit
einer neuen Generation chinesi
scher Touristen an: den Indivi
dualreisenden. Ihr Trip, eine Be
lohnung für ihren Studienab
schluss, führt in neun Tagen von
München über Berlin und Ham
burg nach Paris. Der Abstecher in
die Hansestadt sei eine kurzfristige
Idee gewesen, erzählen sie. Wegen
dieser Spontanität und weil sie
fließend Englisch sprächen, seien
sie allein unterwegs.
2018 sind dem Marktfor
schungsinstitut Cotri zufolge 1,6
Millionen Touristen aus China
nach Deutschland gekommen,
viermal so viele wie vor zehn Jah
ren. Während chinesische Urlau
ber früher vor allem in Gruppen reisten, sind heute fast
die Hälfte von ihnen Individualreisende. Junge Chi
nesen mit guten Englischkenntnissen wie Li und Wu
und Angehörige der weltgewandten Oberschicht, die
bereits mehrfach im Ausland waren, prägten den chi
nesischen Tourismus nach Europa zunehmend, sagt
CotriGeschäftsführer Wolfgang Georg Arlt. Sie trau
ten sich, Deutschland auch ohne durchorganisierte
Tour und abseits der Standardrouten zu erkunden.
Derzeit besitzen nur rund zehn Prozent der Chine
sen einen Reisepass. Der Tourismusexperte Christian
Laesser von der Universität St. Gallen schätzt, dass
jedes Jahr 20 bis 30 Millionen Chinesen in die Mittel
schicht aufsteigen, einen Pass beantragen und damit
im Ausland urlauben können. »Gleichzeitig steigt auch
die Zahl der wohlhabenderen Chinesen, die schon ein
zweites oder drittes Mal nach Europa reisen«, sagt er.
Die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) rechnet
bis 2030 mit fünf Millionen Übernachtungen von
chinesischen Besuchern pro Jahr.
Laut DZT geben sie jeden Tag im Schnitt 457 Euro
aus – überdurchschnittlich viel. Die Reise nach Eu
ropa ist für chinesische Touristen auch eine Shopping
tour. Viele kommen mit langen Einkaufslisten nach
Deutschland, um Waren »made in Germany« für sich,
ihre Freunde und Familie mit nach Hause zu nehmen.
Rund zwei Milliarden Euro – oder
einen Prozent seines Umsatzes –
macht der deutsche NonFood
Einzelhandel Schätzungen zufolge
auf diese Weise.
Um von den konsumfreudigen
Gästen aus China zu profitieren,
stellen sich Städte und Unterneh
men ganz auf ihre Bedürfnisse ein.
Die Kaufhäuser Galeria Kauf
hof, Karstadt und Breuninger,
aber auch die Drogeriemarktkette
dm bieten inzwischen aus China
stammende, mobile Bezahlsyste
me wie Alipay oder WeChat Pay
an. Stuttgart hat sich kurzerhand
zur ersten »China Pay City«
Deutschlands ausgerufen.
Und nicht nur die heimischen
Zahlungsmethoden sollen chine
sische Touristen in die Geschäfte locken. Luxusmarken
und Juweliere stellen eigens chinesischsprachige Ver
käufer ein. Doch dieses Personal ist gefragt und kaum
zu finden, wie Thomas Mader vom Haushaltswaren
hersteller WMF berichtet. Erfolgreich sei die Suche
meist nur über persönliche Kontakte. Und es komme
durchaus vor, dass Unternehmen einander Mitarbeiter
abwürben, sagt er. In jeder Stadt kämpfen Einzelhänd
ler um eine kleine Zahl chinesischsprachiger Verkäufer.
Aber nicht nur Händler, auch Städte buhlen um
chinesische Gäste. So wie die Ruhrgebietsmetropole
Duisburg auf dem chinesischen sozialen Netzwerk
Zwei Chinesinnen
zu Besuch in Heidelberg
Foto (Ausschnitt): Paulina Hildesheim
Bereit machen für den Zweitbesuch
Schloss Neuschwanstein und Brandenburger Tor haben viele chinesische Touristen schon gesehen. Was bietet man ihnen, damit sie wiederkommen? VON JUSTIN WOLFF
WeChat. In einer Videoserie können Nutzer dort dem
Chef der Duisburger Tourismusagentur beim Roll
mopsessen zuschauen. Das soll chinesische Touristen in
den Ruhrpott locken – bislang haben die Videos eine
überschaubare Reichweite. »Die Chinesen werden um
worben und erwarten das mittlerweile auch«, sagt der
Marktforscher Arlt. »Sie wissen, dass sie ein starker Wirt
schaftsfaktor sind, und das gibt Selbstbewusstsein.«
Er sieht noch einen anderen Trend: »Der Individual
tourismus birgt Potenzial für Regionen, die kein Schloss
Neuschwanstein und kein Brandenburger Tor zu bieten
haben.« Für die neue Generation chinesischer Touristen
seien nicht nur Luxusgüter ein Statussymbol, mit denen
sie Freunde und Verwandtschaft daheim beeindrucken
könnten, sondern auch besondere Erfahrungen und
Erlebnisse, weiß Arlt. Nur wenn es Deutschland gelinge,
sie an abseitigere Ziele zu locken, bleibe das Land auch
für Zweit und Drittbesuche attraktiv.
Wie das funktionieren kann – und wie sich deutsche
Kulturgeschichte vermarkten lässt –, zeigt die Deutsche
Märchenstraße. Von Hanau bis Bremen verbindet sie
die Lebensstationen der Brüder Grimm sowie die Orte,
in denen ihre Märchen spielen. Der Trägerverein der
Reiseroute erkannte das Potenzial des chinesischen
Marktes früh und warb schon 2002 auf der größten
chinesischen Reisemesse mit dem Rattenfänger von
Hameln. »Die Märchen der Brüder Grimm werden in
China in der Grundschule behandelt und den Kindern
abends vorgelesen«, sagt Brigitte BuchholzBlödow vom
Deutschen Märchenstraße e. V. Eine Kooperation mit
dem größten deutschchinesischen Reiseveranstalter
habe deren Bekanntheit in China weiter gesteigert.
Dass sich chinesische Gäste künftig auf mehr Städte
und Regionen verteilen, könnte helfen, die negativen
Auswirkungen des Booms abzufedern. »Overtourism«
nennen Experten das Phänomen, wenn die Reiselust der
einen zur Plage für die anderen wird – und beschauliche
Örtchen unter den Massen zu leiden beginnen.
Nach Hallstatt, einer 800EinwohnerGemeinde in
Oberösterreich, kamen allein im vergangenen Jahr eine
Million Besucher, die Mehrheit davon aus China. Auf
den schmalen Straßen drängelten sich Reisebusse. Der
Grund: 2012 wurden der Marktplatz und die umliegen
den Häuser in der Provinz Guangdong nachgebaut. Die
Chinesen fanden die AlpendorfKulisse so hübsch, dass
immer mehr auch das Original sehen wollten.
Beliebteste europäische Zielländer
Reisende Chinesen
Deutschland
Spanien
Frankreich
Italien
1.
3.
2.
4.
1,11,3
1,61,7
2,0
2,52,6
2,93,0
5,0
Anzahl der Übernachtungen in
deutschen Unterkünften in Mio.
201011 12 1314 15 16 17 18 2030
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