Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

WISSEN


Der


Zweifel


Überlegenheit


der Quanten


Die heißeste Tech-Geschichte der
vergangenen Woche bedarf einer
kühlen Betrachtung: Hat Google
dem Quantencomputer zur Über-
legen heit über alle anderen Rechner
verholfen? Also jene Schwelle über-
schritten, die im Fachjargon quan-
tum supremacy heißt? So lauteten die
Schlagzeilen. In 3 Minuten und 20
Sekunden sei dem Quantencompu-
ter gelungen, was den besten her-
kömmlichen Rechner 10.000 Jahre
beschäftigen würde – supreme!
Aus zweierlei Gründen sollte
man skeptisch sein: erstens ange-
sichts der Quelle und zweitens, was
jene Schwelle selbst betrifft.
Die Financial Times (FT) hatte
von dem angeblichen Durchbruch
berichtet und sich dabei auf ein
Papier berufen, das gar nicht von
Google stammt, sondern von einer
Mathematikerin der Nasa. Offenbar
war es versehentlich on line gestellt
worden, jedenfalls löschte die Nasa
es rasch wieder. Viel wert ist der
Aufsatz nicht. Denn weder hatte
sich Google zum Inhalt geäußert,
noch hatten Experten ihn begut-
achtet (Peer-Review).
Folglich gilt für alle Einordnun-
gen aus der Tech-Szene, die auf den
F T-Bericht folgten: Sie könnten
sich als gegenstandslos erweisen.
Einstweilen belegen sie – nur oder
immerhin –, dass man den Inhalt
des Aufsatzes für plausibel hält.
Womit wir beim zweiten Punkt
sind, der Schwelle. 53 Quantenbits
sollen eine große Menge von Zufalls-
zahlen erzeugt und diese dann ana-
lysiert haben, eben in gut drei Minu-
ten. Im Vergleich zu 10.000 Jahren
klingt das echt überlegen ...
Doch ist der beschriebene Quan-
tenrechner ein hochspezieller Ver-
suchsaufbau zur Lösung dieser einen,
exotischen Aufgabe, die keine prak-
tische Relevanz besitzt und zudem
für konventionelle Technik beson-
ders mühsam zu rechnen ist. Sofern
das Experiment überhaupt so ver-
lief, war es ein höchst spezielles, un-
gleiches Rennen. Es erlaubt keinen
Rückschluss auf allgemeine Über-
legenheit. STEFAN SCHMITT

Lesen Sie bei ZEIT ONLINE, was
Quantenrechner für die Sicherheit von
Passwörtern bedeuten: zeit.de/crypto

GESUNDHEIT • HOCHSCHULE • SCHULE • TECHNIK • UMWELT


Foto: Michael Kohls für DIE ZEIT; Illustration: Timo Lenzen für DIE ZEIT


D ie Wol ke


E-Zigaretten galten lange als unbedenklich. Jetzt häufen sich Krankheitsfälle in den USA.


Wie gefährlich ist der Dampf? VON HARRO ALBRECHT


B


ei der Recherche fiel überraschend
ein Name: Gregor Gysi. Sieben
Jahre ist es her, da stritt der dama-
lige Fraktionschef der Linken als
Rechtsanwalt für die E-Zigarette
namens SuperSmoker. In Sachen
E-Dampf war noch vieles unklar
und ungeregelt. Es ging darum, ob es sich um ein
Lifestyle-Gerät handelt oder um ein Arzneimittel,
das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM) strenge Zulassungsver-
fahren durchlaufen müsste. Gysi pochte für seinen
Mandanten darauf, dass E-Zigaretten weniger
Gifte enthielten als normale Glimmstängel. Sie
seien mitnichten ein Arzneimittel, sondern ein
Gewinn für den Raucher. Experten diskutierten
mögliche gesundheitsschädigende Wirkungen,
aber konkrete Daten fehlten. Die Aufsicht über die
E-Zigaretten ging nicht ans BfArM, sondern an
das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-
mittelsicherheit.
Seitdem ist einiges geschehen. In den vergangenen
Wochen bekamen in den USA mehr als 800 Men-
schen nach Inhalationen aus E-Zigaretten mitunter
lebensgefährliche Lungenprobleme, acht Konsumen-
ten starben. Und es gibt weitere Hinweise darauf, dass
E-Zigaretten und Liquid-Verdampfer nicht so harm-
los sind wie angenommen. Müssten sie schärfer kon-
trolliert werden? Seine Meinung, sagt Gysi auf Nach-
frage der ZEIT, habe sich nicht geändert, »weil ich
nicht akzeptieren kann, dass Tabakprodukte frei
gehandelt werden dürfen und die E-Zigarette nur
über die Apotheken verkauft werden soll«.
Tatsächlich sind die Erkrankungen in den USA
kein guter Anlass, den Stab über die E-Zigarette zu
brechen. In Deutschland wurden bisher keine ähn-
lichen Fälle gemeldet. In den USA könnten illegal mit
Cannabis- und Tetrahydrocannabinol-Öl versetzte
Flüssigkeiten ein Auslöser für die Probleme gewesen

sein, sogenannte Liquids. Die New York Times be-
richtete von zwei Brüdern, die in einem Apartment
98.000 Behälter zum Abfüllen von Cannabis-Liquids
und diversen obskuren Zutaten horteten – eine ver-
wickelte Geschichte im kriminellen Milieu.
Damit könnte der Fall als bedauerliche Folge
illegaler Aktivitäten abgetan werden, das Image der
»normalen« E-Zigarette bliebe sauber. Doch Ent-
warnung wollen Gesundheitsbehörden wie die
Centers of Desease Control (CDC) nicht geben.
Denn manche Erkrankte hatten keine Cannabis-
Produkte inhaliert. Richteten allergene Substanzen
in den Liquids den Schaden an? Geschmackszusätze?
Das ist nicht bekannt, es fehlen Daten.
Dass E-Zigaretten bisher als relativ unschädlich
galten, geht auf die britische Gesundheitsbehörde
Public Health England (PHE) zurück. Die argumen-
tierte 2015, dass die Rauchalternative 95 Prozent
weniger Schadstoffe als Zigaretten enthalte und damit
95 Prozent weniger schädlich sei. In der Original-
publikation von 2014 aber wurden E-Zigaretten nur
mit anderen Nikotinlieferanten wie Zigarren, Wasser-
pfeifen oder dem Kautabak Snus verglichen. Die
Dampfer waren also lediglich weniger gefährlich als
die extrem schädlichen Varianten. 121.000 Menschen
starben 2013 allein in Deutschland an Folgen des
Rauchens. Für Kettenraucher schien fast alles gesün-
der als der Glimmstängel. Doch als Botschaft blieb
hängen: E-Zigaretten sind unschädlich(er).
Besonders in den USA griffen deshalb viele
Jugendliche beherzt zu. Auch in Deutschland erlebte
das Dampfen oder Vapen einen Aufschwung – aller-
dings vor allem unter erwachsenen Ex-Rauchern. Mit
elektronischen Zigaretten wird hierzulande 2019
wohl ein Umsatz von 570 Millionen Euro erzielt
werden. Dies schätzt das Bündnis für tabakfreien
Genuss, ein Lobbyverband der E-Zigaretten-Branche.
Das ist ein Umsatzplus von 25 Prozent gegenüber


  1. Laut dem Anbieter Vype gab es Ende 2018 in


Deutschland etwa zwei Millionen Nutzer, fast
doppelt so viele wie 2015.
Dabei zeichnete sich früh ab, dass E-Zigaretten
Asthma und Bronchitis auslösen können. Die Uni-
versity of Hawaii berichtete Anfang des Jahres über
einen Zusammenhang von E-Zigaretten-Gebrauch
und chronischen Atemwegserkrankungen unter 8000
Studienteilnehmern. Weitere US-Forscher fanden in
E-Zigaretten besorgniserregende Konzentrationen
von Pulegon, einem Stoff, der für Minz- und Men-
tholgeschmack steht und als potenziell krebserregend
gilt. »Auch andere Inhaltsstoffe wie Propylenglykol
und Glycerin sind nicht ungefährlich«, sagt Robert
Loddenkemper von der Deutschen Gesellschaft für
Pneumologie. »Zellexperimente zeigen, dass die
Blutgefäße heftig mit Entzündungen reagieren.« Die
E-Dämpfe enthielten nur zehn Prozent weniger
Schadstoffe als Tabakrauch, und ihre Wirkstärke sei
bei Weitem höher, folgerten drei Fachautoren (in-
klusive Loddenkemper) in einer Zwischenbilanz zum
Weltnichtrauchertag.
Ins Visier sind besonders die Aromastoffe geraten.
Ein Zusatz wie Pfirsichgeschmack ist in Pudding un-
problematisch. »Was er in Form feinster Tröpfchen
im empfindlichen Lungengewebe anrichtet, ist weit-
gehend unbekannt«, sagt Loddenkemper. Forscher
der Universitäten Yale und Duke gingen der Frage
nach, wie sich süße und fruchtige Geschmacksstoffe
verändern, wenn sie in Liquids gemixt werden. Fazit:
Das Gemisch wird chemisch instabil. Acetale ent-
stehen, die Gewebe reizen und zu Entzündungen
führen. Außerdem lässt sich vermuten, dass die süß-
lichen Zusätze das tiefe Inhalieren erleichtern. In den
zarten Bläschen der Lunge aber sind die Abwehr-
kräfte am geringsten – und von dort können Sub-
stanzen besonders leicht in die Blutbahn übertreten.
Wie sich das nach Jahrzehnten auswirkt, lässt sich
nicht sagen, die Produkte existieren schließlich erst
seit rund zehn Jahren.

In Deutschland fallen nikotinhaltige E-Zigaretten
und E-Liquids unter die europäische Tabakprodukt-
richtlinie. Anders als in den USA ist ihr Nikotingehalt
daher begrenzt. Vitamine und andere Stoffe, die ge-
sundheitlichen Nutzen suggerieren, sind ebenso ver-
boten wie Substanzen, die als krebserzeugend oder
schädlich für ungeborene Kinder gelten. Allerdings:
»Diese Einschränkungen gelten nicht für nikotinfreie
E-Liquids, da diese nicht vom Tabakrecht erfasst
werden«, teilt das Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit auf Nachfrage der ZEIT
mit. Wer aromatisiert dampft, geht also womöglich
ein höheres Risiko ein als jemand, der ein über-
wachtes Nikotinprodukt konsumiert.
Warum lässt man ein Lifestyle-Produkt zum
Inhalieren von Mikropartikeln zu – während wegen
Feinstäuben Fahrverbote erlassen werden? Gregor
Gysi fordert Gleichbehandlung. Folgerichtig wäre
ein Warnhinweis: »Dampfen kann Ihre Gesundheit
gefährden.« Die Deutsche Gesellschaft für Pneumo-
logie fordert ein Werbeverbot für Liquids und
E-Zigaretten. Und zum Schutz vor Passivrauchen will
sie nicht nur das Qualmen, sondern auch das Damp-
fen in Autos verbieten lassen, wenn Schwangere oder
Minderjährige an Bord sind. Die USA reagieren auf
die Risiken konsequent. Nach einigen Städten und
Bundesstaaten hat Massachusetts vergangene Woche
den Verkauf aller Vaping-Produkte verboten.
Und es wankt ein weiterer Mythos: E-Zigaretten
seien ein Vehikel zur Entwöhnung für langjährige
Raucher. Tatsächlich werden sie zunehmend von
Jugendlichen genutzt. Starken Rauchern, die sich mit
der E-Zigarette das Rauchen abgewöhnen wollen, rät
der Lungenarzt Robert Loddenkemper dringend:
»Legen Sie sich auf ein Enddatum fest!«

A http://www.zeit.de/audio


Mitarbeit: Marcus Rohwetter


Quellen


Public Health England Report 2015:
E-cigarettes: an evidence update

Formation of flavorant-propylene (...), in:
Nicotine & Tobacco Research, September 2019

Links zu diesen und weiteren Quellen auf
ZEIT ONLINE unter zeit.de/wq/2019-40


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N 37
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